Hamburg. 100 Fragen des Lebens: Wie wir unsere Verantwortung oft wegerklären und was wirklich in Notfällen hilft.
Die 112 im Notfall zu rufen, ist schon mal eine gute Idee. Doch wir können weit mehr tun. Damit Menschen tatsächlich Hilfe leisten, müssen allerdings fünf Bedingungen erfüllt sein. Wie Hilfe am effektivsten funktioniert, warum immer weniger Bürger Engagement zeigen und wie häufig wir einen Erste-Hilfe-Kursus absolvieren sollten, erklären die Sozialpsychologin Prof. Juliane Degner und der Reanimationsbeauftragte des UKE, Dr. Malte Issleib.
Woher kommt der Impuls zu helfen?
Prof. Juliane Degner: Wenn wir nicht in enger Beziehung zu dem hilfsbedürftigen Menschen stehen, haben wir kaum einen Impuls zu helfen, denn wir neigen eher dazu, egoistisch zu sein. Selbst Kindern helfen wir eher, wenn wir sie kennen. Impulse spielen eine geringere Rolle, als vielfach gedacht. Es sind eher Moralvorstellungen oder gesellschaftliche Normen, die uns sehr klar vorgeben, wann und ob wir helfen sollen.
Welche Bedingungen müssen erfüllt sein?
Degner: Erstens: Wir müssen überhaupt erkennen, dass Hilfebedarf da ist; das ist nicht selbstverständlich. Dann müssen wir einsehen, dass die Person unsere Hilfe verdient. Wir sind sehr gut darin, uns das wegzuerklären, indem wir die Personen beispielsweise selbst für ihre Notlage verantwortlich machen. Ein Betrunkener etwa wird weniger Hilfe erhalten, wenn er stürzt, als jemand, der nicht betrunken ist. Drittens müssen wir erkennen, dass WIR helfen müssen und nicht jemand anderes. Da gibt es viele Prozesse, die dem entgegenwirken. Viertens müssen wir wissen, welche Art von Hilfe wir leisten können. Und schließlich müssen wir uns die Hilfeleistung auch noch zutrauen. Wenn diese fünf Barrieren überwunden sind, dann helfen wir.
Je mehr Menschen bei einem Notfall anwesend sind, desto unwahrscheinlicher scheint es, dass der Einzelne hilft.
Degner: Das stimmt. Wir sind geneigt zu denken: Es wird schon jemand Hilfe veranlasst haben, bestimmt hat bereits jemand die Polizei oder den Notarzt gerufen. Das nennt man Verantwortungsdiffusion. Hinzu kommt: Wenn ich andere Menschen sehe, die nicht helfen, gehe ich davon aus, dass es keinen Hilfebedarf gibt. Ich denke: Wenn es schlimm wäre, würden die anderen ja auch helfen. Oder: Die wissen etwas, was ich nicht weiß – nämlich, dass die Notlage gar nicht dramatisch ist oder die Person es verdient hat, in dieser Notlage zu sein. Jeder schließt aus dem Verhalten des anderen, dass er nicht helfen muss – und am Ende schauen alle zu und niemand tut etwas. Psychologisch ist das nachvollziehbar. Wir teilen zwar die Norm: Wenn jemand Hilfe braucht, dann helfen wir. Eine andere Norm besagt aber: Tu immer das, was alle anderen machen. Wenn ich also in der U-Bahn sitze und bemerke, dass Jugendliche einen anderen Fahrgast massiv anpöbeln und sehe zugleich, wie alle anderen Menschen wegschauen, dann habe ich zwei widerstreitende Normen im Kopf. Die Norm „Tu, was alle anderen machen“ ist meistens stärker. So kommt es zu Situationen, die uns schockieren.
Etwa wie die Geschichte der Entführung eines Dreijährigen in einem englischen Einkaufszentrum 1993. Zwei zehnjährige Jungen liefen mit ihrem schon leicht verletzten Opfer quer durch die Stadt; 38 Personen sahen das, aber keiner half.
Degner: Viele dachten, es sei der kleine Bruder der Jungen. Da kommt eine weitere Verhaltensnorm ins Spiel: Die kennen sich, sagen sich die Menschen, das geht mich nichts an. Eine Studie spielt zwei Szenarien durch, in dem eine Frau von einem Mann angegriffen wird. Im ersten sagt Sie: „Hilfe! Ich kenne Sie nicht!“ Im zweiten Szenario ruft sie: „Hilfe! Ich weiß nicht, warum ich dich geheiratet habe!“ Im zweiten Fall hilft kaum jemand, weil es eine starke Norm gibt, sich in Privatangelegenheiten nicht einzumischen.
Wie kann man solche Verhaltensmuster durchbrechen?
Dr. Malte Issleib: Das Wichtigste ist die Kommunikation, die gezielte Ansprache anderer Passanten. Das bricht die Mauern.
Degner: Genau! Wenn das Opfer dazu in der Lage ist, sollte es nicht einfach „Hilfe!“ rufen, sondern: „Du in der roten Jacke, ruf die Polizei!“ Ich hatte selbst mal einen Fahrradunfall und habe einer Passantin zugerufen: „Ich weiß nicht, ob es mir gut geht. Sie müssen bei mir bleiben!“ Das Opfer sollte also so konkret wie möglich formulieren, was es braucht. Auch zwischen den Passanten ist Kommunikation ganz entscheidend. Ich kann beispielsweise umstehende Personen fragen: „Glauben Sie, die Person braucht Hilfe?“ Das kann ungünstige Verhaltensmuster aufbrechen, weil der eine feststellt: „Ah, der andere ist auch unsicher.“ Oder man spricht einen anderen Passanten an: „Ich traue mich nicht, allein zu dem Mann zu gehen, der hilflos am Boden liegt. Kommen Sie bitte mit mir mit?“
Issleib: Ich erlebe das, was die Kollegin beschreibt, oft in meinem beruflichen Alltag. Und habe festgestellt: Die Menschen verlernen die Bereitschaft zu helfen, zum Eingreifen in Notfallsituationen, zunehmend – gerade in Großstädten wie Hamburg, wo man in der Menge untergeht.
Es gibt also einen Unterschied zwischen der Metropole und dem Land?
Issleib: Einen großen sogar. Die Anonymität ist ein gravierendes Problem. Zudem ist der Großstädter regelmäßig mit Leid auf der Straße konfrontiert. Regungslose Obdachlose, die in Eingängen liegen, interessieren viele Menschen gar nicht mehr. Das ist auf dem Land anders: Wenn Bauer Meier von nebenan auf der Straße liegt, werden viele Menschen helfen.
Sie arbeiten mit Menschen, die in medizinischen Notfällen schnell helfen sollen. Wie genau wissen die Ersthelfer, was zu tun ist?
Issleib: Der Herzinfarkt als große Volkskrankheit ist ein gutes Beispiel. Jemand hat starke Schmerzen in der Brust und bekommt keine Luft mehr. Dem zu helfen, das gelingt den meisten Menschen noch. Fenster auf, Hemd aufknöpfen, beruhigen, parallel den Notruf absetzen. Aber dann wird der Betroffene bewusstlos – und die meisten Helfer sind ratlos, was sie tun sollen. Wir haben da zwar schon einiges erreicht. Beim Herz-Kreislauf-Stillstand wird mittlerweile in Deutschland in rund 30 Prozent der Fälle Hilfe geleistet. Vor 15 Jahren waren es noch zehn Prozent. In Skandinavien werden Menschen allerdings ganz anders an diese Aufgaben herangeführt. Da gibt es Hilfsquoten von weit über 70 Prozent. In Deutschland wird leider viel zu selten sinnvoll geholfen. Bei einer Herz-Lungen-Wiederbelebung wollen die meisten Menschen nicht einfach aufs Geratewohl eine Herzdruckmassage versuchen, sondern es auf jeden Fall richtig machen. Das hält die Menschen unnötigerweise vom Helfen ab. Wir gehen seit zehn Jahren verstärkt an die Öffentlichkeit und werben für Erste-Hilfe-Kurse. Wir haben Schülerprojekte angestoßen, viele Tausend Schüler in Hamburg geschult und versucht, sie zu Multiplikatoren auszubilden. Das ist sehr erfolgreich. Auf der anderen Seite sehen wir eine abnehmende Bereitschaft, spontan Hilfe zu leisten.
Bei vielen Menschen dürfte der letzte Erste-Hilfe-Kurs Jahre zurückliegen, sie fühlen sich unsicher. Wie häufig sollte man so ein Training absolvieren, um kompetent helfen zu können?
Issleib: Das haben wir untersucht: Das Wissen lässt schon nach sechs Monaten deutlich nach, nach einem Jahr ist es auffrischungsbedürftig. Ideal wäre ein Kurs einmal im Jahr, das ist für die Gesamtbevölkerung allerdings kaum darstellbar. Aber regelmäßige Wiederholungen sind wichtig. In Skandinavien gehört das zum Grundwissen eines Menschen, es wird mehrfach während der Schulzeit und im Studium vermittelt; und dann im Job gibt es regelmäßig vom Arbeitgeber organisierte Kurse. Das bringt viel. Diese gesellschaftliche Selbstverständlichkeit gibt es bei uns leider noch nicht.
Gibt es Studien dazu, wie erfolgreich Erste Hilfe ist?
Issleib: Generell ist Hilfeleistung in jedem Fall sinnvoll. Beim Herz-Kreislauf-Stillstand dachte man früher, es müsse eine Vielzahl komplizierter Dinge gemacht werden, damit der Mensch eine Überlebenschance hat. Heute wissen wir dank Studien, dass es ganz einfach ist. Entscheidend ist zweierlei: Es muss jemand Herzdruckmassage machen und es muss jemand den Rettungsdienst über 112 rufen. Die Kür wäre es, einen automatischen externen Defibrillator (AED) einzusetzen, welche man an vielen öffentlichen Orten finden kann. Das alles muss man idealerweise trainieren. Extrem hilfreich ist aber auch die telefonische Anleitung, die überall in Deutschland mittlerweile angeboten wird. Wenn Sie den Rettungsdienst anrufen, fragt der Mitarbeiter der Leitstelle, ob Sie Ihr Handy auf Lautsprecher stellen können, und leitet Sie dann nach einem festgelegten Standardprotokoll durch die Situation. Atmet der Patient? Der Leitstellenmitarbeiter gibt Hinweise, wie das festzustellen ist. Wenn nicht, leitet er Sie durch eine Herzdruckmassage. Diese Reanimation – gern durch telefonische Anleitung unterstützt – wirkt sich auf die Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten entscheidend positiv aus. Fast mehr als alles, was ich als professioneller ärztlicher Helfer hinterher leisten kann. Die Basismaßnahmen retten die Menschen.
Gibt es Verletzungsmuster, von denen die Menschen so sehr abgeschreckt sind, dass sie eher nicht helfen?
Issleib: Ja, natürlich. Ein furchtbarer Verkehrsunfall mit offenen Verletzungen schreckt eher ab. Die Bilder, die man da sehen muss, gehören nicht zu unserem Leben, die kennen wir nicht mehr. Bei Erkrankungen wie einem Herzinfarkt ist auch bei uns die Hilfsbereitschaft größer, weil wir modernen Menschen viel öfter damit konfrontiert sind, als mit schweren Verletzungen.
Nicht nur Opfer in Not – auch der Helfer hat vielleicht noch länger mit diesen Bildern zu kämpfen.
Issleib: Ja, das ist nicht zu unterschätzen. Hilfe für die Helfer ist für uns ein großes Thema. Wir sprechen vom „second victim“, also dem „zweiten Opfer“, das durch die psychische Ausnahmesituation unter Umständen selbst traumatisiert werden kann. Mit der routinierten Bearbeitung solcher Fälle sind wir allerdings noch ziemlich am Anfang. Es gibt keine Strukturen, die das standardmäßig auffangen, aber vieles, was wir bei Bedarf abrufen können. Sowohl für Patienten als auch für Mitarbeiter haben wir im Krankenhaus mittlerweile Kriseninterventionsteams, geschulte Psychologen und Seelsorger, die manchmal Wunder wirken, denn je existenzieller die Bedrohung, desto stärker ist der Wunsch nach Religiosität.
Helfen wir eher, wenn wir die Situation auf uns selbst beziehen oder uns vorstellen können, selbst in diese Lage zu kommen?
Degner: Wenn Ähnlichkeiten zur eigenen Person wahrgenommen werden, ist die Hilfsbereitschaft größer. Das zeigt eindrucksvoll eine Studie der BBC: In einer inszenierten Situation fällt ein Mann in Alltagskleidung vor einer U-Bahn-Haltestelle um und bleibt auf der Straße liegen. Die Passanten gehen achtlos vorbei. In der zweiten Situation trägt derselbe Mann einen Anzug. Es dauert keine zwei Sekunden und jemand bleibt stehen. Warum? Es handelt sich um eine U-Bahn-Station im Finanzdistrikt, die überwiegend von „Anzugträgern“ genutzt wird. Es ist leichter, Empathie zu fühlen, wenn ich mich fragen kann: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich da läge?
Welche weiteren Kriterien gibt es?
Degner: Entscheidend ist auch die Frage, ob wir glauben, das Opfer sei unverschuldet oder durch eigenes Zutun in eine Notsituation gelangt. Bei Naturkatastrophen sind wir auch beispielsweise eher bereit zu spenden, wenn wir in dem betreffenden Land schon einmal im Urlaub waren. Das ist interessant, weil es sich ja eigentlich um altruistisches Verhalten handelt, ich also jemandem zu dessen Guten helfen möchte, aber ganz egoistisch motiviert bin. Da geht es darum, die eigene Betroffenheit und die Angst, dass mir dasselbe passieren könnte, zu bewältigen.
Hilfeleistung ist also auch egoistisch?
Degner: Zu einem gewissen Teil ja. Wir helfen auch, um entweder vor anderen oder uns selbst gut dazustehen. Im Einzelnen ist das schwer zu erforschen, weil es bei jeder Hilfeleistung auch positive Effekte für einen selbst gibt – sei es, dass ich als Held dastehe oder dass ich mich aus der unangenehmen Lage befreie, jemanden leiden zu sehen. Das klingt etwas zynisch, ist aber wichtig zu verstehen.
Issleib: Das positive Gefühl beim Helfen, das kennt wohl jeder – auch jeder Arzt. Natürlich ist es außerordentlich angenehm, geholfen zu haben – das berührt viele Facetten meines Daseins. Ich habe mal als Rettungssanitäter bei einem Take-That-Konzert gearbeitet. Die Mädchen vorn sind reihenweise ohnmächtig geworden und wir haben sie da rausgeholt. Wir hatten das Gefühl, wirklich etwas geleistet zu haben.
Degner: Übrigens kann man auch noch helfen, wenn man aus einer Situation rausgegangen ist. Also: zurückgehen und fragen, ob der Betreffende Hilfe braucht. Und nur, weil ich aus der U-Bahn ausgestiegen bin, in der es eine brenzlige Situation gab, ist die Gefahr ja nicht vorbei. Ich kann immer noch helfen, beispielsweise indem ich den Notfallknopf auf dem Bahnhof drücke und der Sicherheitswache Bescheid sage.
Bei Verkehrsunfällen oder Übergriffen in der Öffentlichkeit gibt es zunehmend Menschen, die nicht nur nicht helfen, sondern sogar gaffen oder Fotos machen.
Issleib: Das Phänomen ist aufgekommen, seit praktisch flächendeckend Handys verfügbar sind, mit denen man solche Szenen aufnehmen und dann über die sozialen Netzwerke verbreiten kann. Diese Dimension gab es beim ursprünglichen Gaffen nicht. Dieses aus meiner Sicht wahnwitzige Verhalten hält die Menschen massiv davon ab zu helfen und beeinträchtigt manchmal sogar die Arbeit professioneller Helfer.
In der nächsten Folge am kommenden Sonnabend wird es um diese Frage gehen: Wird es jemals eine Weltregierung geben?