Hamburg. 100 große Fragen des Lebens: Warum Frauen es als Chef schwerer haben und welche Rolle Hormone für eine Führungskraft spielen.

Über kurz oder lang gibt es in jeder Gruppe jemanden, der die Führung übernimmt. Warum das so ist und welche Eigenschaften ein guter Anführer mitbringen sollte, erklären Dr. Annika Meinecke und Dr. Fabian Hattke von der Universität Hamburg. Sie wissen auch, wieso junge Menschen Führung oft kritisch sehen und warum ein Lob auf einen Mitarbeiter nicht zwangsläufig motivierend wirken muss.

Hamburger Abendblatt: Gibt es immer jemanden, der die Führung übernimmt?

Dr. Annika Meinecke: In Gruppen, in denen es keine formelle Führung gibt, kristallisiert sich fast immer jemand heraus, der die Führung übernimmt. Das lässt sich evolutionspsychologisch gut begründen, und wir Menschen sind nicht die Einzigen, viele Tierarten regeln es ähnlich. Ordnung führt zu Stabilität in der Gruppe und zu weniger Koordinationsaufwand, das ist letztendlich wichtig für das Überleben

Dr. Fabian Hattke: In traditionellen Organisationen haben wir immer eine Autoritätsbeziehung, immer eine Über- und Unterordnung, also eine formale Hierarchie. In den meisten Firmen und Behörden ist Führung nicht wegzudenken. „Hierarchiefreie“ Selbstorganisation funktioniert in Zeiten des Internets und Social Media zwar auch immer besser. Aber am Beispiel der Occupy-Bewegung sieht man auch: Die strikte Einhaltung der Führungslosigkeit funktioniert nicht immer. Die Bewegung konnte ihre Themen nicht gut platzieren. Es bedarf einer Führung, sobald mehrere Menschen zusammenkommen.

Wem dient Führung denn eigentlich? Dem Unternehmen oder den Geführten oder allen Beteiligten?

Meinecke: Es sollte allen dienen. Wir Psychologen würden es nicht erfolgreiche Führung nennen, wenn die Unternehmensziele zwar erreicht werden, die Gruppe aber zu kurz kommt.

Hattke: Aktuelle Konzepte sehen auch die Befähigung der Mitarbeiter im Vordergrund. Das traditionelle „Command und Control“ geht immer mehr zurück. Vielmehr gilt es, die Geführten mit „sanften“ Mitteln zu überzeugen, sich für bestimmte Ziele zu engagieren.

Früher bedeutete Führung oft Befehl von oben. Welches Verständnis ist bei den Unternehmen in Deutschland gerade en vogue?

Hattke: Das kommt auf die Branche an. Im Militär kann man nur hierarchisch führen, doch in der IT-Branche braucht es Agilität und flache Hierarchien, sogar wechselnde Führungspersonen je nach Wissen und Projekt.

Zeichnen sich Führungskräfte durch besondere Merkmale aus?

Meinecke: Die Frage beschäftigt die Führungsforschung schon seit ihrem Beginn. Es gibt durchaus Zusammenhänge zwischen Führungserfolg und stabilen Persönlichkeitsmerkmalen wie Extraversion, Intelligenz und Empathie.

Hattke: Die Hormone spielen ebenfalls eine Rolle. Personen, die ein hohes basales Testosteronlevel haben, die spielen sich schneller in den Vordergrund, tauchen also schneller als Führungsperson auf, sind aber nicht unbedingt erfolgreicher. Für eine effektive Führung ist so ein Verhalten letztlich irrelevant.

Was würde sie denn effektiver machen? Welches Verhalten sollte eine Führungskraft an den Tag legen?

Hattke: Sie muss vor allem gut kommunizieren können. Seit den 70er-Jahren ist bekannt, dass Führungskräfte den Großteil ihrer Arbeitszeit mit Kommunikation verbringen: „Management by walking around“. Henry Mintzberg hat zehn verschiedene Rollen von Führungskräften definiert, die je nach Situation eingenommen werden. Eine Führungskraft muss sich also ständig einen anderen Hut aufsetzen. Sie muss Repräsentant, Ressourcenzuteiler, Krisenmanager, Informationsverteiler etc. sein. Daran sieht man, es gibt keinen „one-best way“ der guten Führung.

Führung scheint heute viel über Inspiration zu laufen. Würden Sie eine Person wie Greta Thunberg auch als Anführerin bezeichnen, obwohl sie keiner Organisation oder Firma vorsteht?

Meinecke: Führung sollte nicht mit einer formellen Position gleichgesetzt werden, die jemand einnimmt. Man kann auch Einfluss außerhalb von vorgegebenen Hierarchien ausüben. Greta ist ein Mensch, an dem sich die Leute orientieren, gerade die jungen Menschen.

Stimmt mein Eindruck, dass gerade junge Leute dem Thema Führung eher skeptisch gegenüberstehen?

Meinecke: Ja, dem würde ich zustimmen. Wenn ich das Thema in meinen Seminaren behandele, fällt mir das stark auf. Da wird Führung von den Studierenden oft kritisch gesehen und mit Macht und Machtmissbrauch assoziiert. Da besteht der Wunsch nach mehr Autonomie.

Hattke: Bei meinen BWL-Studenten ist das ähnlich. Führung als Begriff ist in Deutschland eher negativ besetzt, im Englischen klingt Leadership einfach besser.

Ist ein guter Chef immer auch ein Feelgood-Manager?

Hattke: Jein. Mitarbeiter reagieren nämlich unterschiedlich auf ein bestimmtes Verhalten. Manche werden durch Lob sehr motiviert, andere tendieren dazu, die Arbeit einzustellen, weil sie denken, sie hätten das Ziel schon erreicht. Führung durch Angst und cholerische Chefs, das führt langfristig allerdings meist nicht zu guten Leistungen der Geführten.

Meinecke: Es geht bei einer Führungskraft nicht nur um die Zuteilung von Aufgaben, das Definieren von Standards, das Nachhalten von Deadlines. Es geht auch um Mitarbeiterorientierung, um Wertschätzung. Und in dem Punkt gebe ich Herrn Hattke unbedingt recht: Nicht jedes Verhalten ist in jeder Situation passend.

Ein guter Chef hat sich also wie ein Chamäleon seiner Umgebung anzupassen?

Meinecke: An neue Herausforderungen von außen genauso wie an die Mitarbeiter/-innen. Jedes Team ist individuell. Deshalb kann man nie davon ausgehen, dass ein Chef, der in einer Abteilung, einem Unternehmen sehr erfolgreich war, an anderer Stelle mit anderen Anforderungen und Beziehungen zu den Mitarbeiter/-innen wieder erfolgreich ist. Man muss die Augen offenhalten und Flexibilität mitbringen.

Hattke: Stereotype beeinflussen unsere Verhaltenserwartungen. Wenn diese Erwartungen enttäuscht werden, entsteht eine kognitive Dissonanz, die die Effektivität der Führung negativ beeinflussen kann. Wenn sich ein Chef nicht so verhält, wie ich es erwarte, ist es erst mal schlecht.

Meinecke: Daran erkennt man auch, dass dasselbe Verhalten unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Dies ist ein Grund dafür, weshalb es Frauen oft schwerer haben. Die Forschung zeigt zunehmend, dass Frauen und Männer dasselbe Verhalten zeigen; es wird aber unterschiedlich darauf reagiert. Die traditionelle Vorstellung ist nach wie vor, dass Führungskräfte männlich, (weiß) und älter sind. Hier muss sich das Grundverständnis von Führung wandeln. Ein heiß diskutiertes Thema.

Haben Frauen es dann schwerer als Führungskraft?

Meinecke: Auf jeden Fall. Eine Frau soll durchsetzungsstark und tough sein und gleichzeitig nichts von ihrer Wärme verlieren, das ist schwer unter einen Hut zu bringen. Da werden Frauen häufig als zickig beschrieben, Männer hingegen können einen Bonus einfahren, wenn sie sich auch noch um die Mitarbeiter bemühen, das erwartet man von ihnen nämlich nicht unbedingt.

Es gibt ja zum Glück dennoch ein paar erfolgreiche Frauen in Toppositionen, Angela Merkel zum Beispiel.

Hattke: Ihr Führungsstil kommt eher aus der zweiten Reihe. Sie lässt Debatten laufen, bis der Rauch verzogen ist, und guckt dann, wo die Linien verlaufen, bevor sie sich positioniert. Das ist ein konsensorientierter Führungsstil, den sie sehr erfolgreich praktiziert hat.

Meinecke: Kontrolliert, zurückhaltend und überlegt. Sie reißt die Leute nicht durch inspirierende Reden mit sich, wie Obama das getan hat, ein klassischer transformationaler Führer. Theresa May trifft ganz anders als Merkel nicht so viele Absprachen im Hintergrund, das wird ihr oft vorgeworfen, weil sie keine Verbindung zu ihren Leuten hat. Donald Trump ist ein besonderer Fall. Der kommuniziert unüberlegt, und er passt eigentlich weder von seinen Eigenschaften noch von seinen Verhaltensweisen her in das Muster einer klassischen Führungspersönlichkeit.

Hattke: Dieser erratische Führungsstil, heute so, morgen so, das kann zwar auch ein Mittel zum Zweck sein. Trump kann vor Verhandlungen nie genau festgemacht werden, bei ihm ist theoretisch immer alles möglich. Da man ihm potenziell alles zutraut, wird ein gewisser Druck bei den Gesprächs- und Verhandlungspartnern erzeugt. So bewegen sich die anderen Staatenlenker potenziell mehr. Das wäre ein positiver Effekt seiner unberechenbaren Führung, doch die negativen Seiten überwiegen.

Was kann denn schlimmstenfalls unter schlechter Führung geschehen?

Hattke: Zur dunklen Seite der Führung zählen Arroganz der Führungskräfte und ganz besonders der psychische Missbrauch von Mitarbeitern. Wenn Führungskräfte Ideen der Mitarbeiter als ihre eigenen ausgeben, ihre Untergebenen in Meetings diskreditieren etc. Das kann zu Stress und Burn-out führen. Es gibt aber auch Gegenbeispiele. Steve Jobs galt als Soziopath unter seinen Untergebenen, hatte aber wahnsinnigen Erfolg. Führung durch Druck hat also nicht immer nur negative Folgen.

Meinecke: Das funktioniert aber nur für einen bestimmten Moment, nie für eine längere Zeitspanne. Jede Organisation, die mit viel Druck vorgeht, stellt sich selber damit eigentlich ein Bein.

Bei Steve Jobs sind wir schon bei der Digitalisierung. Hat sie unsere Art zu führen verändert?

Meinecke: Sie müsste es zumindest, denn sie stellt alles auf den Kopf, was bisher galt: dass Kollegen beispielsweise einen regelmäßigen Austausch haben. Ein Team, das verstreut über die ganze Welt arbeitet, sich nur über E-Mail verständigt, wie kann man da noch Einfluss ausüben?

Hattke: Charisma und Inspiration übertragen sich dann schlechter. Wie inspirierend kann eine E-Mail oder ein Chat sein? Führung über Strategie und Vision wird dann umso wichtiger. Und es werden Organisationen zunehmen, in denen Führung mal vom einen, mal vom anderen übernommen wird.

Meinecke: Junge Leute haben weniger Interesse an starrer Führung, die sehen geteilte Führung positiver, das bringt neuen Schwung rein. Geteilte Führung ist sicherlich schwerer umzusetzen, hat aber eigentlich nur mit einem bestimmten Lernprozess zu tun.

Hattke: Bei alldem gebe ich nur zu bedenken: Wenn alle für alles verantwortlich sind, dann ist schnell keiner mehr verantwortlich. Es muss immer eine klare Zuständigkeit geben, das haben Ökonomen belegt. Es gibt nun mal das menschliche Bedürfnis, sich nicht zu überarbeiten.

In der nächsten Folge am kommenden Sonnabend wird es um diese Frage gehen: Wie kann ich helfen?