Nicht jede Mutter kann und muss perfekt sein. Manche sind allerdings so überfordert, dass ihr Kind in eine Pflegefamilie kommt.
Es gibt nicht viele Themen, die einen Journalisten bei der Recherche mehrfach zum Weinen bringen. Doch wer über Pflegeeltern und ihre Kinder recherchiert, der müsste schon eiskalt sein, wenn ihn Säuglinge mit blau geschlagenen Augen, Mädchen, die beim Essen schreien, weil sie einfach so lange keines bekamen oder Jungs, die vor lauter seelischer Schmerzen permanent den Kopf schütteln, nicht berühren würden. Was würde aus diesen misshandelten und vernachlässigten Kindern, die teilweise unter Polizeischutz aus Wohnungen geholt wurden, wenn es keine Pflegefamilien gäbe?
Rund 1300 kleine Hamburger und Hamburgerinnen leben derzeit in Pflegefamilien, da ihre leiblichen Eltern sie aus unterschiedlichsten Gründen nicht versorgen können. Zum Muttertag haben wir zwei Pflegemütter getroffen, um zu zeigen, welche Herausforderungen sie bewältigen, und worauf es neben Liebe und Verantwortung ankommt, wenn man fremden Kindern ein Zuhause geben will.
In einem Eidelstedter Reihenhaus stellt Fatma Behrens Börek auf den Wohnzimmertisch. Frisch zubereitet selbstverständlich, sie koche alles selbst, sagt die 49-Jährige lachend: „Meine Jungs sind verwöhnt.“ Patrick (11) und Dominik (10) heißen sie, zwei Brüder, der ältere kam im Altern von sechs Monaten, der jüngere schon mit drei Monaten zu Familie Behrens. Dominik isst und rechnet. Er kann sehr gut rechnen, hat mit zwei Jahren schon Puzzle mit 50 Teilen zusammengesetzt, das war ihm schnell zu langweilig, also drehte er die Puzzleteile um. „Erst war ich in Mathe gar nicht gut, aber dann hat Papa es mir erklärt. Papa erklärt mir die Dinge so, dass ich sie verstehe,“ sagt Dominik.
Nicht genug Schutz und Geborgenheit
Und Mama schreibt ihm bei Klassenfahrten jeden Tag einen Brief, denn der Junge fährt nicht so gerne weg von zu Hause. Er ist einfach froh, dass er eines hat. Wieso es verlassen? Verlassen werden ist das Schlimmste.
Fatma Behrens lächelt. Sie lächelt die ganze Zeit. Schlechte Laune scheint die Flugsicherungsassistentin nicht zu kennen. Sogar wenn die Deutsch-Türkin von den Herausforderungen spricht, die sie mit ihren Pflegekindern bewältigen musste, strahlt ihr Gesicht. Sie und ihr Mann haben alles gerne gemacht. Nur so als Beispiel: 249 Arztbesuche in drei Jahren. Dazu Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie und Besuche beim Psychologen.
Pflegekinder haben häufig nicht genug Schutz und Geborgenheit sowie Wertschätzung erfahren, oft war ihr Alltag von Unsicherheit, Angst und Gewalt geprägt und das hinterlässt Spuren. Lang anhaltende, schmerzhafte Spuren, die sich auf vielerlei Art und Weise ausdrücken. Die wichtigste Anforderungen an Pflegeeltern lautet daher neben Geduld und einer positiven Lebenseinstellung Belastbarkeit. „Natürlich kamen mein Mann und ich auch an unsere Grenzen, aber unsere Familien haben uns immer toll unterstützt, und wenn meine Söhne heute zu mir kommen und sagen „Wir lieben dich, Mama!“, dann bin ich der glücklichste Mensch der Welt“, sagt Fatma.
Ehrenamtliches Engagement
Ihr Sohn Patrick hält ein 700-Seiten-Comic in der Hand, macht gerne Sport und fragt, ob er noch gebraucht werde: „Ich würde nämlich jetzt gerne meine Freundin anrufen.“ Gut, dann mach‘ das, sagt Fatma Behrens und fängt gleich wieder laut an zu lachen, weil sie sich an die Geschichte erinnert, wie die Jungs sie mal fragten: „Mama, wie kommen die Babys in den Bauch?“ Ihre Antwort lautet damals: „Wenn zwei Menschen sich lieb haben und knutschen, dann entsteht ein Baby.“ Doch eine Klassenkameradin klärte die Jungs kurz danach auf, woraufhin die Brüder ganz aufgeregt nach Hause kamen und sagten: „Mama, wir wissen jetzt, warum du keine eigenen Babys hast, Papa und du, ihr wusstet ja gar nicht, wie es geht!“
Als Fatma Behrens erfuhr, dass sie nie Kinder würde bekommen können, wollten ihr Mann und sie zunächst ein Kind adoptieren, doch das hätte zu lange gedauert, also bewarben sie sich als Pflegefamilie. Inzwischen engagiert sich die Hamburgerin auch ehrenamtlich bei der Pflegeelternvertretung Hamburg-Eimsbüttel. Sie berät junge Pflegefamilien, denn diese haben im Alltag viele Probleme, die andere Eltern nicht haben. Behördengänge.
Kontakt zu leiblichen Eltern muss gehalten werden
Juristische Auseinandersetzungen. Beantragung von Vormundschaft, Klärung des Vermögensrechts, Änderung des Nachnamens. Die leibliche Mutter von Patrick und Dominik hat zugestimmt, dass die Jungs inzwischen so heißen dürfen wie ihre Pflegeeltern. Fatma Behrens entschuldigt nicht, was den Kindern früher geschehen ist, doch sie schätzt die Entscheidung der Mutter, die Kinder abzugeben. Dazu gehöre auch Größe und es beweise Verantwortung. Die Pflegemama sieht es so: „Die Bauchmutti hat die Kinder auf die Welt gebracht, und wir bringen die Welt zu den Kindern!“
Es gibt ein Wort, das wie eine Drohung über dem Familienglück von Pflegeeltern schwebt: Rückführung. Solange die Möglichkeit besteht, dass die Kinder bei den leiblichen Eltern aufwachsen könnten, muss der Kontakt zu ihnen gehalten werden. So war es auch bei Daniel Meyer. Der heute 31 Jahre alte Grundschullehrer kam mit sechs Monaten zu seinen Pflegeeltern nach Neuenfelde. Zu seiner richtigen Mutter hätte er alle 14 Tage Kontakt haben können, doch immer wieder sagte sie Treffen kurzfristig ab oder kam gar nicht.
„Sie hat bestimmt den Bus verpasst“, sagt der kleine Daniel dann zu seiner Pflegemutter Gisela, und die antwortete: „Ja, mein Schatz, der Bus ist wahrscheinlich gar nicht gekommen.“ Immer vor dem Kind die leiblichen Eltern in Schutz nehmen, immer ausgleichen, die Tür aufhalten. Stets aus der Perspektive des Kindes schauen: Was braucht es? Nicht: Was brauche ich? Pflegeeltern sind Meister im sich zurück nehmen.
Weiterhin Kontakt
Gisela Meyer und ihr Mann hatten bereits eine eigene Tochter, als sie Daniel und 2001 noch ein weiteres Mädchen aufnahmen. „Meine Tochter Hermine hat Daniel gleich auf den Arm genommen und ihm die Flasche gegeben. Wir waren und sind immer noch eine richtige Familie“, sagt die ausgebildete Erzieherin, die an der Elternschule Kurse gibt und inzwischen auch zwei Enkel hat.
Daniel wohnt nur ein paar Minuten entfernt, die Nähe zueinander spielt nach wie vor eine große Rolle. „Die meisten bleiben über das offizielle Ende der Pflegezeit miteinander in Kontakt“, sagt Ralf Portugal, Sprecher der Hamburger Pflegekinderhilfe. Und „Mama“ hat Daniel immer nur Gisela Meyer genannt, erklärt der junge Mann, denn: „Mama ist für mich ein Bindungswort, damit verbinde ich nichts Biologisches, sondern Vertrauen.“