Hamburg. Stimmung zwischen SPD und Grünen ist mies, die Nervosität vor den Wahlen hoch. Regiert wird trotzdem – unter lautem Zähneknirschen.
Manche behaupten ja, es liege an seiner Kindheit. Jens Kerstan wuchs mit zwei großen Schwestern als Sohn eines gestrengen Reeders auf, der die TT-Linie mitgründete. Zu Hause habe der heutige grüne Umweltsenator sich durchbeißen und notfalls Streit eskalieren müssen, heißt es. Und das sei nun eben bis heute seine (oft erfolgreiche) Methode – auch in der Politik.
Kerstans „regelmäßige Wutanfälle“ gehörten längst zur berechenbarsten Konstante in der rot-grünen Koalition, heißt es von führenden Sozialdemokraten. Wobei auch Genossen einräumen, dass Kerstan in der Sache oft Recht habe. Nun aber ist ein Streit so eskaliert, dass manche in der SPD kurz über ein baldiges Ende des Bündnisses mit den Grünen nachgedacht haben sollen.
Grüne waren in Pläne zum Kleinen Grasbrook nicht eingeweiht
Anlass waren die Pläne zur Bebauung des Kleinen Grasbrooks, dem bisherigen Hafengebiet, auf dem in den kommenden 20 Jahren ein neuer Stadtteil mit 3000 Wohnungen und 16.000 Arbeitsplätzen entstehen soll. Dabei geht es vor allem darum, die Interessen der Hafenwirtschaft mit dem Ziel unter einen Hut zu bringen, dort Wohnungen, und Unternehmen anzusiedeln. Monatelang hatten die von der SPD kontrollierten Behörden für Wirtschaft und Stadtentwicklung zuletzt mit der Hafenwirtschaft verhandelt und sich darauf verständigt, wie der neue Stadtteil gegenüber Lärm und Gefahrbetrieben im Hafengebiet abgeschirmt werden könnte. Schließlich hatte man sich auf eine so genannte "Riegelbebauung" mit Gebäuden zur Ansiedlung von Forschungsunternehmen und Start-ups geeinigt. Darin sollte nun aber auf Wunsch der Hafenwirtschaft auch ein großes Parkhaus entstehen, aus dem Schiffe mit Pkw be- und entladen werden können.
Das Problem: Die Grünen waren in diese Verhandlungen nie eingeweiht worden. Als Kerstan Anfang April erstmals bei einer hochkarätigen Sitzung zum Thema dabei war, verlangten Wirtschaftssenator Michael Westhagemann und HHLA-Vertreter Heinz Brandt nach Aussagen von Gesprächsteilnehmern von ihm, dem quasi beschlossenen Parkhaus zuzustimmen. Da waren sie bei dem rauflustigen Reederssohn allerdings an der falschen Adresse.
„Die Grünen stellen sich bei SPD-Themen immer quer“
Nichts davon sei mit den Grünen abgesprochen, entgegnete der 53-Jährige. Ein Parkhaus an genau dieser Stelle mit 24-Stunden-Betrieb gefährde mit Lärm und Dreck die Ansiedlung von Forschungsunternehmen und Start-ups und das Wohnen und damit das ganze Vorhaben – und ein Parkhaus sei gegenüber der Elbphilharmonie auch architektonisch kaum ein optimales Aushängeschild.
Als der Vertreter der städtischen HHLA auf der Forderung beharrte, sich auf einen 2017 unterzeichneten „Letter of Intent“ berief und drohte, wurde Kerstan sauer. Als Angestellter der Stadt habe ein HHLA-Vertreter dem Gesellschafter überhaupt keine Bedingungen zu stellen, ließ er wissen. Und fügte mit Blick auf gute Grünen-Umfragen und Wahlen hinzu: Man könne das Ganze natürlich erst einmal lassen. In einem Jahr seien die Mehrheitsverhältnisse in der Stadt ja sicher anders.
SPD empört über Kerstans Auftritt
Zwar räumen auch Spitzen-Genossen ein, dass SPD-Stadtentwicklungssenatorin Dorothee Stapelfeldt und die Wirtschaftsbehörde die Grünen früher hätten informieren müssen. Gleichwohl zeigten sich viele Sozialdemokraten empört vom breitbeinigen Auftritt Kerstans gegenüber Dritten. Die SPD würde grüne Projekte wie den Fernwärmerückkauf mittragen, aber die Grünen stellten sich bei SPD-Themen ständig quer, hieß es.
Zum wiederholten Male gerieten SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher und Kerstan bei der folgenden gemeinsamen Senatsvorbesprechung lautstark vor versammelter Mannschaft aneinander, berichten Teilnehmer. So etwas sei zu Zeiten von Olaf Scholz undenkbar gewesen. Bei Scholz habe man gewusst, wie man kommunizieren müsse, um Konflikte intern zu lösen, kolportieren Grüne. Tschentscher aber rede ja im Grunde mit niemandem richtig und brösele immer nur alleine vor sich hin.
Dabei ist dies nur eines von vielen Beispielen für die angespannte Stimmung zwischen den Koalitionspartnern – die wohl weniger mit inhaltlichen Differenzen als mit der Angst der SPD vor brutalen Niederlagen bei Bezirks- und Bürgerschaftswahlen zusammenhängt.
Anspannung zwischen SPD und Grünen wächst
Beispiel Kinderfotos: Seit Monaten ätzen SPD-Leute gegen Grünen-Spitzenfrau Katharina Fegebank, weil die sich im Dezember mit ihren Zwillingen im Arm im Rathaus hatte fotografieren lassen. Die Frau vermarkte sogar ihre Kinder für ihre Karriere, ventiliert es seither giftig aus der SPD. Fegebanks Antwort in Gesprächen mit Parteifreunden sei ein Zitat von Michelle Obama gewesen, heißt es aus Grünen-Kreisen: „When they go low, we go high“, sinngemäß: Wenn die sich daneben benehmen, antworten wir mit Anstand. Dass man Zitate gegeneinander bemüht, die in den USA gegen Donald Trump gerichtet waren, unterstreicht die Anspannung.
Beispiel Klimarede: Als Tschentscher im Februar im Überseeclub über Klimaschutz sprach, war der zuständige Senator Kerstan weder eingeladen noch informiert. Ein Jahr zuvor hatte Scholz an gleicher Stelle über Wissenschaft gesprochen – und Senatorin Fegebank eingeladen und sich mit ihr abgestimmt.
Beispiel Friedhofsmaut: In einem Fernsehinterview kassierte Tschentscher Pläne, Autofahrern in Ohlsdorf Geld abzunehmen. Laut Grünen war das in der Umweltbehörde noch nicht abschließend entschieden, und Tschentscher hätte gar nicht mit Kerstan über das Thema geredet. Mithin: Die Scholz-Regel, dass Senatsmitglieder nicht schlecht übereinander reden, gelte bei dessen Nachfolger wohl nicht mehr.
„Scholz war großes Ego, Tschentscher ist kleines Karo“
Beispiel Koalitionsaussage: Weil sich SPD-Chefin Melanie Leonhard in einem Abendblatt-Interview im Dezember überraschend nicht zur Fortsetzung von Rot-Grün bekannte, kokettieren Grüne seither mit einer Jamaika-Koalition mit CDU und FDP ab 2020 unter einer Bürgermeisterin Fegebank. Und fürchten zugleich, die SPD könnte auf eine GroKo setzen. Solche Spekulationen aus einer Koalition heraus sind absolut unüblich – und Gift für die Zusammenarbeit.
Bei all dem gibt es inhaltlich kaum Differenzen. Grundsätzlich werfen Sozialdemokraten Grünen vor, sie würden die Funktionsfähigkeit der Stadt nicht im Ganzen im Blick haben. Man brauche auch Hafen, Industrie und Wachstum – Hamburg sei nicht Tübingen. Das vergäßen Grüne mit ihrer Wohlfühlpolitik. Solche Differenzen aber sind in den Genen der Parteien angelegt – und ließen sich bei guter Atmosphäre ausgleichen. Allerdings: Die Atmosphäre ist nicht gut.
Grüne bemängeln derweil, dass die SPD so tue, als gehöre ihr die Stadt – und Tschentscher sich bei Grünen-Themen auf jedes Foto dränge, zugleich Katharina Fegebank aber untersage, zu Weihnachten eine Ansprache auf dem Senatskanal ins Netz zu stellen. „Scholz war großes Ego, Tschentscher ist kleines Karo“, heißt es von Grünen. Solche Gehässigkeiten könnte man indes auch als grüne Nervosität deuten: Denn Tschentschers Bekanntheit und Beliebtheit haben in Umfragen stark zugenommen.
"Dann drehen womöglich alle durch"
Um die Stimmung etwas zu heben, trafen sich die Koalitionsspitzen vor Ostern auf Bier und Wein im Senatsgästehaus an der Alster. Danach zeigte man sich betont einig, etwa beim Fernwärme-Rückkauf oder dem Deal mit der Grünschutz-Initiative – wobei die SPD sich bei diesen urgrünen Themen auch hier selbst grüner gab als manch alter Fundi. Offenbar verfolgt die Partei nicht das Ziel, sich von den Grünen abzugrenzen, sondern diese zu kopieren.
Ob das verfängt, wird sich bei den Bezirksversammlungswahlen am 26. Mai zeigen. Sollte die SPD ihre Mehrheit in einem oder mehreren Bezirken an die Grünen verlieren, könnte das Regieren bis zur Bürgerschaftswahl im Februar noch schwieriger werden. „Da sind jetzt schon viele völlig irrational unterwegs“, sagt einer. „Dann drehen die womöglich völlig durch.“