Hamburg. Am 26. April wird Bürgermeister Peter Tschentscher die komplett restaurierte Oströhre des Hamburger Wahrzeichens eröffnen.
Der Preis war hoch. Weniger wegen der 10,7 Millionen Goldmark, die Senat und Bürgerschaft anno 1907 für die neue Verkehrsverbindung unterhalb der Elbe bewilligten, mehr wegen der menschlichen Opfer während der gut vierjährigen Bauzeit. Drei der insgesamt 4400 eingesetzten Arbeiter ließen während des Einsatzes ihr Leben; 74 erkrankten schwer, 615 leichter. Die Schufterei unter Druckluft im Erdreich bei einer Temperatur von bis zu 42 Grad und immenser Feuchtigkeit ging an die Knochen. Hand in Hand schafften die Kolonnen einen Meilenstein der Hamburger Stadtgeschichte.
Bei der jetzt abgeschlossenen Komplettrestaurierung der vor 108 Jahren eingeweihten Oströhre des Alten Elbtunnels war glücklicherweise nur der materielle Tribut hoch. 60 Millionen Euro ließ sich der Hafenbetreiber HPA, die Hamburg Port Authority, das Kunststück kosten, den Stil der Vergangenheit aufleben zu lassen – in Zusammenarbeit mit dem Denkmalschutzamt.
Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) wird das „Historische Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland“, so das offizielle Testat, am 26. April eröffnen. Durch immer wieder neue Probleme, beispielsweise die fachgerechte Entsorgung von unerwartet entdeckten Schadstoffen, verzögerte sich die Instandsetzung erheblich. Unter dem Strich dauerte sie fast dreimal länger als der ursprüngliche Bau vor einem guten Jahrhundert. Im Rahmen der Sanierung wurden 3600 Tonnen Schwerbeton eingebaut. Weitere Zahlen und Fakten siehe Infokasten.
Zwei Großereignisse
Nach der Einweihung Ende April sind für gut einen Monat beide Röhren nutzbar: die nunmehr fertiggestellte Oströhre sowie die noch nicht sanierte Weströhre. Letztere wird dann vom 3. Juni an gesperrt und restauriert. Der Einsatz wird wohl bis 2024 dauern. Doch wer weiß das schon genau. Kosten: erneut rund 60 Millionen Euro, von denen etwa ein Drittel von der Bundesregierung beigesteuert wird. In der Zwischenzeit stehen noch zwei Großereignisse auf dem Programm. Am 25. und 26. Mai präsentiert ein exklusiv für diesen Anlass aus 140 Musikern zusammengesetztes Orchester vier Tunnelkonzerte – rund 20 Meter unterhalb der Wasseroberfläche. Und am ersten Junisonntag wird ein Tunnelmarathon mit 300 Läufern gestartet. Mehr als 40-mal hin und her.
Und apropos Start: Am 7. September 1911 gab ein Wachtmeister der Polizei mit seiner Trillerpfeife den unterirdischen Weg frei. So viel Zurückhaltung gibt’s wohl wirklich nur in Hamburg. Anfangs war die Strecke ausschließlich für Fußgänger frei, drei Monate später auch für Fuhrwerke und Automobile. Kaiser Wilhelm II. hatte sich zuvor zweimal an Ort und Stelle über die technischen Meisterleistungen informiert.
Epochales Technikwunderwerk
Derweil das seinerzeit epochale Technikwunderwerk nach Vorbild des Clyde-Tunnels in Glasgow heutzutage viel von Touristen und Spaziergängern genutzt wird, war die 426,5 Meter lange und sechs Meter breite Verbindung zwischen den Landungsbrücken und der Elbinsel Steinwerder damals in erster Linie ein praktischer Weg zur Arbeit und zurück. Grob gerechnet, spart ein Autofahrer dadurch aktuell rund zwölf Kilometer.
Zurück zur Entstehungsgeschichte. Die Wirtschaft der Hansestadt boomte um die vorvergangene Jahrhundertwende außerordentlich. Zwischen 1881 und 1888 wurde der Freihafen gebaut, zwischen 1885 und 1927 die Speicherstadt. Von 1871 bis 1900 wuchs die Bevölkerung von 300.000 auf mehr als 700.000 Einwohner. Exzellent florierende Geschäftszahlen sorgten in den Kontoren für Betriebsamkeit. Von fetten Renditen inspirierte Pfeffersäcke kurbelten den internationalen Handel an. Da die Werktätigen im Hafen indes kaum vom Aufschwung profitierten, erstritten sie sich höhere Löhne und mehr Rechte durch heftige Streiks in den Jahren 1896 und 1897.
Praktische Verbindung
Zu den Forderungen zählte ein sicherer, halbwegs unkomplizierter Arbeitsweg. Bis dato waren die Arbeiter mit Ruderbooten, Barkassen und Dampfern in den Freihafen gebracht worden. Sturm, Wellen, widrige Sicht bei Nebel oder Dunkelheit sowie Eisgang machten die Elbpassage zum Risiko. Im Rathaus dominierte Einigkeit: Es musste Entscheidendes passieren. Nach und nach wurden Pläne eines Tunnels für Straßenbahnen und Fußgänger sowie Hängebrückenkonstruktionen verworfen. Für eine Brücke reichte der Platz nicht aus.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde schließlich der Weg gebahnt für den St. Pauli-Elbtunnel, so der offizielle Name einer damals wie heute viel genutzten Verkehrsader. 1923 gab es mit 19 Millionen Nutzern einen Rekord. In den 1950er-Jahren wurden massive Kriegsschäden beseitigt, eine moderne Steuerungstechnik, ein Belüftungssystem sowie eine moderne Beleuchtung installiert. Derzeit passieren pro Jahr etwa 1,1 Millionen Fußgänger, 300.000 Fahrradfahrer und 40.000 Pkw das architektonische Meisterwerk. Für Passanten ist der Durchgang kostenfrei; Autofahrer müssen zwei Euro pro Passage bezahlen. Es existieren Pläne der Grünen, den Alten Elbtunnel ganz für Autos zu sperren.
Angestellte beispielsweise von Blohm + Voss profitieren ebenso von der praktischen Verbindung wie Müßiggänger mit Zeit für die Würde des traditionsreichen Bauwerks. Vom 26. April an, also passgenau zur Sommersaison und vor dem 830. Hafengeburtstag vom 10. bis 12. Mai, kann sich jeder ein Bild von der fachgerechten Restaurierung machen. Auf den ersten Blick ist zu erkennen: Der Hafenbetreiber HPA als Auftraggeber, das Denkmalschutzamt als Berater und die ausführenden Unternehmen haben weder Kosten noch Mühe gescheut.
Geballte Technik
Selbst Winzigkeiten am Rande sind liebevoll instand gesetzt und wunderschön herausgeputzt. Dies betrifft ebenso das markante Schachtgebäude mit der Kuppel am Elbufer auf St. Pauli. Auf der gegenüberliegenden Elbseite wurden etwa 20 Meter hohe Treppenkonstruktionen komplett neugestaltet. Stilgetreu. „Hamburg ist um ein altes, neues Denkmal reicher“, sagt Kai Gerullis im Namen der HPA. Er ist so etwas wie ein wandelndes Lexikon des Alten Elbtunnels und hat praktisch alle Zahlen im Nu parat.
Im Kuppelbauwerk transportieren vier Lastenaufzüge Autos schnell in 24 Meter Tiefe. Hinzu kommen zwei Personenlifts. Das in gleicher Weise errichtete Bauwerk auf der gegenüberliegenden Seite, auf Steinwerder, wurde durch Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg zerstört. Zu den ab Juni vorgesehenen Arbeiten in der Weströhre gehört die Neugestaltung des Vorplatzes vis-à-vis der Landungsbrücken.
Jetzt ist es aber nun wirklich höchste Zeit, das Ergebnis persönlich in Augenschein zu nehmen. Auf die Minute pünktlich erscheint Andreas Krahl am Personenaufzug: „Moin!“ Der gebürtige Hamburger steht seit 35 Jahren in Diensten der HPA. Als junger Mann begann er im damaligen Hafenamt seine Lehre zum Maschinenschlosser. Seit fünf Jahren leitet er ein Team aus 36 Maschinenmeistern und Tunnelaufsehern. Die Kollegen tragen in der Öffentlichkeit schmucke Uniformen. An sieben Tagen in der Woche, rund um die Uhr, ist jemand zur Stelle.
Andreas Krahl schiebt das mannshohe Absperrgitter zwischen West- und Oströhre beiseite. Was erst vom 26. April an zugänglich sein wird, präsentiert sich – hell beleuchtet – schon jetzt in beeindruckender Form. Rechts am Tunneleingang befinden sich zwei kleine Sitzbänke mit einem dunkelgrün gestrichenen Stahlschrank. Dort ist geballte Technik verborgen. Wie früher schon. Neuartig sind zwei Geräte an der Decke. Damit werden automatisch Passanten gezählt. Mehr als 500 Personen dürfen sich nicht zeitgleich unter der Elbe befinden. Für Probleme, zum Beispiel bei einem Fahrzeugbrand im Tunnel, existiert ein ausgeklügelter Sicherheitsplan. Hightech-Apparate berechnen im Nu die Windverhältnisse und setzen zwei leistungsstarke Turbolüfter in Gang. Leuchtsysteme an den Wänden zeigen zudem die jeweilige Fluchtrichtung an.
Restaurierte Wandreliefs mit 14 „Tunneltieren“
Krahl kennt jeden Meter in „seiner“ Tunnelröhre. Er ist stolz auf das wiederhergestellte Wahrzeichen seiner Heimatstadt. Zu Recht. Sein Arbeitsplatz hat enorm gewonnen. So verlegten Fachfirmen in der Oströhre 360.000 Fliesen neu. Die Wandfliesen wurden in Boizenburg originalgetreu in sieben Weißtönen hergestellt. Eine Augenweide sind auch die 80 großen, teilweise restaurierten, teilweise nachgebildeten Wandreliefs mit 14 unterschiedlichen „Tunneltieren“.
Dabei handelt es sich um Arten, die einst im Hafen oder in der Elbe eine Rolle spielten – Schnecken, Muscheln, Wollkrabben und Aale, aber auch Schweinswale oder Ratten. Im Eingang sind sogar Affen präsent. Geschaffen wurden diese Kunstwerke aus Keramik von der Manufaktur Kuretzky im Dorf Borstorf bei Mölln. Die mehr als 100 nach historischen Vorbildern produzierten Speziallampen sind ebenfalls Sonderanfertigungen. Dazu passt das Credo des HPA-Chefs Jens Meier: „Die Sanierung des St. Pauli-Elbtunnels ist uns eine Herzensangelegenheit.“
Ein Spaziergang mit Teamleiter Andreas Krahl durch die nunmehr fertige Ost- und die noch zu restaurierende Weströhre macht den Unterschied deutlich. Dies betrifft, und das muss man erst mal hinkriegen, das äußere Erscheinungsbild, nicht Stil und Charakter. Zum Ausklang einer faszinierenden Vorabbesichtigung besuchen wir den Leitstand und erklimmen das Dachgeschoss des Schachtgebäudes an den Landungsbrücken.
Vielleicht, so die vage Idee, dient diese Kuppel eines Tages für Kunstausstellungen oder kleine Empfänge. Von oben ergibt sich ein traumhafter Blick hinab in den Tunnelkeller. Und durch die Fenster fällt der Blick auf die Elbe und das Ufer auf Steinwerder. Und spontan kommt einem in den Sinn: Respekt vor den Arbeitern, die vor rund 110 Jahren ein technisches Wunderwerk schufen. Auch wenn der Preis hoch war.