Hamburg. Ex-Briefträger Jochen Engel hat mit 4000 Exemplaren eine der größten Sammlungen alter Postkarten der Stadt.
Der Hafen im Sommer und bei Eisgang, die Binnenalster im Mondlicht und am Tag. Mal wirkt die Elbe grau und öde, dann wieder so lieblich blau wie das Mittelmeer. Der Alsterpavillon wechselt im Lauf der Jahrzehnte mehrmals sein Aussehen, die Alster gibt es so gut wie nie ohne Segelboote. Bild folgt auf Bild, Eindruck auf Eindruck. Die Postkartensammlung von Jochen Engel ist amüsant, lehrreich und schön anzusehen – aber nie langweilig. 4000 alte Karten hat er zusammengetragen – ordentlich verpackt in handlichen Kästen. Zeitlicher Schwerpunkt ist die Zeit um 1900. Engel verfügt damit über eine der größten Sammlungen der Stadt – und über eine der abwechslungsreichsten.
Jochen Engel, im Harz geboren und in Baden-Württemberg aufgewachsen, ist in Blankenese kein Unbekannter: 44 Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung, war er im Blankeneser Treppenviertel im Dienst, was ihm auch bundesweite Publicity einbrachte. Als er 1974 dort anfing, schenkten Anwohner dem „Zugereisten“ die ersten alten Postkarten – „weil ich mal lernen sollte, wo ich gelandet war“. Die Sammlung, die daraus entstand, ist schon fast legendär – fünf Kalender mit den entsprechenden Blankenese-Motiven hat der Verlag KJM bereits herausgebracht. Nachdem Engel im vergangenen Jahr in den Ruhestand ging – widerwillig, wie er offen sagt –, trauerten ihm viele Blankeneser nach. Die Elogen seiner langjährigen Kunden füllten schließlich ein ganzes Buch, das ebenfalls von KJM verlegt und passgenau bei Sagebiels vorgestellt wurde.
Börsen und Flohmärkte
Kaum bekannt ist, dass der „Quiddje“, längst überzeugter und begeisterter Hamburger, auch andere Motive zusammengetragen hat, darunter Hafen, City und die Alstergegend. Die meisten Fans alter Postkarten beginnen erst querbeet zu sammeln und spezialisieren sich, wenn das Gebiet ihres Begehrens zu sehr ausufert. Bei Engel war es genau umgekehrt: Über Jahrzehnte hatte er sich auf „sein“ Blankenese spezialisiert, nun sind auch mal andere Ecken der Stadt dran. Ergebnis ist eine leichte Schieflage: 3000 Karten drehen sich um den schicken Elbvorort, 1000 decken den Rest der Stadt ab. Engel kaufte und kauft in spezialisierten Läden, auf Börsen, Flohmärkten und – seltener – im Internet, was ihm weniger Spaß macht.
Postkarten werden in Deutschland schon seit den 1860er-Jahren versandt, allerdings zunächst so gut wie nie von Privatpersonen. Erst 1870 führte der Generalpostdirektor des Norddeutschen Bundes, Heinrich von Stephan, die „Correspondenzkarte“ ein – genehmigt von Kanzler Bismarck. Seitdem wird rege verschickt – und gesammelt.
Fotografisches Gedächtnis der Stadt
Schlag auf Schlag wie beim Skat blättert Jochen Engel, der nicht viel vom Siezen hält, seine geliebten Blankenese-Karten auf den Tisch. „Guck mal, der Eulenturm im Baurs Park. Und kennst du die Ecke? Vergleich das mal mit heute.“ Engel ist leutselig, spricht knapp, prägnant und immer Klartext, kann aber auch nachdenklich-melancholisch sein. „Ich halte nicht mit meiner Meinung hinterm Berg, wer das nicht abkann – tja, nich‘ mein Problem.“ Im Laufe seines langen Berufslebens hat er vieles gesehen – und vieles für sich behalten. Klatsch ist nicht „sein Ding“, da wird er plötzlich ganz einsilbig.
Geht’s aber um die vielen Veränderungen im Hamburger Stadtbild, sprudeln die Worte nur so aus ihm heraus. Denn seine Sammlung ist auch so etwas wie ein fotografisches Gedächtnis der Stadt, in dem unzählige Eindrücke konserviert sind. Engel zeigt drei Ansichten vom Jungfernstieg. Tatsächlich: Die Häuser neben den Alsterarkaden haben sich immer wieder verwandelt – mal liegt es an der Höhe, mal an ein paar Türmchen.
Immer originellere Motive
Nach 1900 steuerten Postkartenproduktion und Vertrieb ihrem Höhepunkt zu. Die Druckqualität wurde laufend besser, und der beginnende Massentourismus lieferte immer mehr Motive. Grüße, die man sich später per Telefon oder (noch später) durchs Handy schickte, wurden auf Karten geschrieben und abgeschickt. Dabei war es nichts Ungewöhnliches, zum Beispiel aus Urlauben oder nach Ortswechseln den Angehörigen oft über Wochen täglich zu schreiben, manchmal auch mehrmals am Tag. Jochen Engel hat spaßeshalber einige der Kartentexte gelesen, obwohl ihn die Inhalte nach wie vor nicht sonderlich interessieren. „Das sind ganz normale Nachrichten, wie man sie heute am Handy austauscht oder sich gegenseitig simst“, berichtet er. „Geburtstags- und Urlaubsgrüße, Nachbarschaftsklatsch, Beschreibungen von Ausflügen, Genesungswünsche und unzählige andere verästelte und verzweigte Kommunikationswege.
Um gegen die wachsende Konkurrenz zu bestehen, ersannen die Schöpfer der Karten – ähnlich wie in unseren Tagen – immer originellere Motive. Engel kramt einige Karten hervor. Eine zeigt Schiffe im nächtlichen Hafen. Hält man sie gegen eine Lampe, leuchten die Fenster unter Deck, als brennen dahinter ein paar Lampen. Hamburg durch ein Bullauge betrachtet, die Stadtsilhouette in Form eines Buddelschiffs oder von einem Fischernetz umrankt. Mal wurde ein Zeppelin ins Bild montiert, mal ein Clipper mit geblähten Segeln. Eine Hafenaufnahme auf changierendem Fotopapier fällt auf. Kippt man sie hin und her, scheinen sich die Wellen zu bewegen – und die Boote gleich mit. Eine 100 Jahre alte, bestens erhaltene Klappkarte ist dabei, die ganz normal verschickt wurde. Öffnete der Empfänger das kleine Bündel, konnte er fünf aneinanderhängende Stadtansichten betrachten.
Noch nicht im Ruhestand angekommen
Jochen Engel, der mit Ehefrau Erika in Eimsbüttel lebt, ist innerlich noch nicht im Ruhestand angekommen, das spürt jeder deutlich, der sich mit ihm darüber unterhält. Am liebsten würde er wieder losziehen, arbeiten, schnacken, auch helfen, wenn nötig. Ihm fehlt der Austausch mit seinen „Kunden“ im Treppenviertel, von denen nicht wenige zu Freunden wurden. „Ich gehöre nicht zum alten Eisen“, sagt er mit einer Mischung aus Trotz und Wehmut. Für das kommende Jahr plant Engel zwei neue Kalender mit je 53 Motiven – einmal Hafen, einmal Alster. Bloß nicht einrosten – das wäre für ihn das Schlimmste.
Um geistig und körperlich in Form zu bleiben, will er jetzt möglichst viele Motive seiner Sammlung aufsuchen und – sofern machbar – die heutigen Eindrücke mit den alten abgleichen. Ein zeitaufwendiges Unternehmen, denn der Mann, der in seinem Berufsleben jährlich rund eine Million Stufen erklomm, ist nach wie vor passionierter Fußgänger und hat nicht mal ein Auto. Jochen Engel ist der lebende Beweis für die immer wieder aufgestellte These, wonach Zugereiste häufig die überzeugtesten Lokalpatrioten sind. Es fuchst ihn, dass junge Menschen, wie er findet, viel zu wenig über ihre Heimatstadt lernen. „Die machen tolle Reisen in die ganze Welt, waren aber noch nie im Klövensteen oder wissen kaum, wo das Alte Land liegt. Das gibt’s doch gar nicht. Hamburg verändert sich so schnell, da muss man dabei sein, sich das alles ansehen. „Guck mal, der Hafen – der sieht ja an vielen Stellen schon gar nicht mehr hafenmäßig aus“, ruft er fast empört.
Und dann ein Satz, der sich wie eine Begründung für die lange Sammelleidenschaft anhört: „Diese Stadt war und ist so schön, einfach wunderschön. Glaubt mir Leute, ich kann es beurteilen.“