Hamburg. Wie sieht der Alltag einer Schaustellerfamilie mit drei Kindern aus? Auf jeden Fall anders. Es ist ein Leben zwischen Kita und Kirmes.
Als Jenny Veldkamp ihre Tochter mit dem Buggy zur Kita bringt, ist es kurz vor 14.30 Uhr. Für die meisten Hamburger Eltern wohl eher eine typische Abholzeit. Aber mit den klassischen Zeiten könnten die Eltern dieser Kita-Kinder auch nichts anfangen. Wer hier seine Kinder betreuen lässt, der ist Schausteller auf dem Hamburger Dom und der hat um diese Zeit den Arbeitstag noch vor sich. So auch Jenny Veldkamp, die mit ihrem Mann Symon den Süßwarenstand „Rasch’s Zuckerhütte“ auf dem Hamburger Dom betreibt.
Beide sind in Schaustellerfamilien auf den Volksfesten Norddeutschlands aufgewachsen. Jenny führt die Tradition in sechster Generation fort. Und nur einziges Mal hat sich die 32-Jährige gedacht, sie müsse mal raus hier. Mal was Neues ausprobieren. Weg von dem Zuckerzeug, den knallbunten Blinklichtern, dem ganzen Lärm. Und so machte sie mit Anfang 20 eine Ausbildung als Industriekauffrau. Ging um neun hin ins Büro, kam um 17 Uhr zurück, machte Mittagspause und hatte am Wochenende frei. Es war ein kurzer Ausflug in eine Welt, die viele als normal bezeichnen würden. Jenny Veldkamp sagt: „Das war nichts für mich.“ So richtig verwundert hat das allerdings niemanden. „Irgendwann landen eh alle wieder hier“, glaubt ihr Mann Symon.
Wenn es still ist, schlafen Kinder schlechter
Die meiste Zeit des Jahres tingelt die Familie von Volksfest zu Volksfest. Derzeit lautet ihre Wohnanschrift mal wieder: Heiligengeistfeld. Genauer gesagt: gegenüber vom Riesenrad, gewissermaßen im „Hinterhof“ der Zuckerhütte. „Aber geben Sie das mal als Empfängeradresse bei der Post an“, sagt Symon und lacht. Wenn er wirklich wichtige Post erwartet, dann lässt er sie sich lieber in eine Paketstation in der Nähe schicken. Die Wohnbereiche der Schaustellerfamilien sind ein ganz eigenes Reich auf der Rückseite des Budenzaubers.
Gerade jetzt, wo die Tage wieder länger sind, stehen Gartenmöbel draußen, manche haben schon einen Grill aufgebaut, die drei Töchter der Veldkamps haben sich eine kleine Spielecke hinter der Zuckerhütte aufgebaut. Das Zentrum aber ist wie bei jeder Familie auch der Wohnbereich. Bei den Veldkamps ist es ein stattlicher Wohnwagen mit einer Wohnfläche von etwa 40 Quadratmetern. Ein Kinderzimmer, das sich Mimi (1) und Mila (3) teilen, Wohnzimmer, Küche, Bad und Elternschlafzimmer.
Die älteste Tochter Leni (6) ist gerade bei den Großeltern in der Nähe von Bremen, wo sie auch zur Schule geht. Am Wochenende kommt auch sie nach Hamburg und schläft dann meist auf der Couch. Vier Personen auf 40 Quadratmetern, kann das gut gehen? Und wo ist all das Zeug, das bei anderen Familien normalerweise rumfliegt? Stapel mit irgendwas, Klamotten, liegen gebliebener Abwasch, Duplo-Haus-Ruinen. „Wer auf so engem Raum lebt, muss sich disziplinieren“, sagt die 32-jährige Jenny. „Auch die Kinder müssen ihre Spielsachen immer sofort wegräumen, wenn sie sie nicht mehr brauchen. Sie kennen es nicht anders.“
Ein normaler Tag bei den Veldkamps beginnt gewissermaßen mit dem Feierabend. Der Dom selbst startet ja erst am Nachmittag. Familienzeit. Ruhe, bevor die Soundkulisse aus Schlager-Hits, Animierdurchsagen und Stimmgewirr um 15 Uhr losgeht. Jenny ist in der Zeit meist bei den Kindern, Symon bereitet den Wagen vor. Der Früchtelieferant war gerade schon da. Zweimal die Woche bringt er kistenweise Bananen, Erdbeeren, Ananas und mehr. Die Schokolade hat Symon schon angesetzt, die beiden Mitarbeiterinnen, die seit Jahren in der Zuckerhütte mithelfen, überziehen die ersten Fruchtspieße mit Vollmilch-, Zartbitter- oder weißer Schokolade. Auch für etwas Büroarbeit ist jetzt Zeit.
Idealbild einer Kindheit
Die Kinder turnen währenddessen zwischen Wohnmobil, Kühlwagen, Verkaufsstand und Riesenrad herum. Noch haben sie hier alles für sich allein. Die nächste Straße ist in ungefährlicher Entfernung. Es ist ein bisschen wie das Idealbild einer Kindheit auf dem Dorf, in dem die Kleinen einfach vor die Tür gehen und durchs Dorf streunen können. Und tatsächlich wirkt das Heiligengeistfeld um diese Tageszeit wie ein buntes und noch etwas verschlafenes Dorf. An den Ständen wird gewerkelt, Böden werden geschrubbt, manche tragen Einkäufe nach Hause. Es ist ein Dorf, in dem die Gemeinschaft noch intakt ist. Jeder kennt jeden, oft seit Jahrzehnten. Wer mit den Veldkamps über den Dom spaziert, hat zudem den Eindruck, dass sich das weit verästelte Familiengeflecht der Eheleute über den ganzen Dom erstreckt.
Da ist Onkel Jerome vom Kinderkarussell, Cousine Tanja vom Laufhaus „Happy Family“ gleich neben der Zuckerhütte, Onkel Dieter schräg gegenüber am Nüsse-Stand, Symons Schwester arbeitet bei den Eltern am Zuckerwarenstand. Der Versuch, den Stammbaum zu entschlüsseln, ist für einen Externen zwecklos. Klar ist: „Insgesamt arbeiten mehr als 20 Menschen aus meiner und Jennys Verwandtschaft hier auf dem Dom, mit Kindern sind wir mit mehr als 50 Leuten hier vertreten“, sagt Symon. 50 von etwa 2000 Menschen, die hier auf dem Dom arbeiten.
Schaustellerkinder sind eigenständig
Pünktlich um 12.30 Uhr ruft Jenny zum Mittagessen in den Wohnwagen. Es gibt ein „echtes Veldkamp-Essen“, sagt sie. „Panierten Katenschinken.“ Zwar gebe es auch ein gutes Angebot in der Dom-Kantine, aber da gehen sie so gut wie nie hin. Zu Hause schmeckt es allen am besten. Nach dem Mittagessen verschwindet Symon wieder im Verkaufsstand, Jenny macht den Abwasch, die Ein- und dreijährigen Töchter Mimi und Mila spielen irgendwo um den Wohnwagen herum. Helikopter-Eltern? Wohl eher kein Phänomen bei den Dom-Familien „Schaustellerkinder sind sehr eigenständig. Einfach, weil die Zeit fehlt, den Kindern immer hinterherzurennen“, sagt Jenny und streicht sich über den Bauch, der sich leicht nach vorne wölbt.
Wenn sie das nächst Mal zum Sommerdom wieder zurück sind, wird Kind Nummer vier da sein. Bis dahin soll auch die Halle fertig sein, die sich die Familie in Syke in der Nähe von Bremen angemietet hat. Dort soll der gesamte Fuhrpark der Familie Platz finden, der aus mehr als zehn wuchtigen Gefährten besteht. Aber auch ein Wohnbereich soll entstehen, damit sie zumindest in den wenigen freien Wochen im Jahr vom Wohnwagen in eine richtige Wohnung ziehen können. „Besonders den Kindern macht die Enge hier aber wenig aus. Genauso wenig wie der Lärm. Wenn es ganz ruhig ist, schlafen sie schlechter“, sagt Jenny.
Nachdem sie die dreijährige Tochter in die Kita gebracht hat, beginnt das Nachmittagsprogramm. Vor der Hauptverkaufszeit am Abend wechseln sich Symon und Jenny mit der Arbeit am Stand ab, denn einer muss sich ja schließlich noch um Mimi kümmern, die mit knapp zwei noch zu klein ist für die Dom-Kita. Was Mimi am liebsten macht? „Spielplatz oder Zoo“, sagt Symon. Aber daraus wird heute nichts. Stattdessen gibt’s ein paar Runden auf dem Kinderkarussell bei Onkel Jerome. Mimi kennt den Weg in- und auswendig. Als Schaustellerkind darf sie überall umsonst fahren, aber bei Onkel Jerome ist es immer noch am besten, findet sie. Wohl auch, weil sie hier ganz allein im Karussell-Auto sitzen darf. Normalerweise geht das erst ab drei Jahren, aber Jerome meint: „Unsere Kinder hier machen das so routiniert, da muss man sich keine Sorgen machen.“
In der Kita spielen die Kinder Dom ...
Nachmittags ziehen die größeren Schaustellerkinder manchmal noch in Gruppen über den Dom oder sind im Schulwagen auf dem Gelände. Dort können sie Hausaufgaben machen oder Stoff nachbereiten, den sie unter Umständen verpasst haben. Schaustellerfamilien sind oft darauf angewiesen, ihren Urlaub außerhalb der regulären Ferien zu machen. Und in der Regel werden die Anträge auch genehmigt – sofern der Stoff nachgearbeitet wird.
Bei den Veldkamps ist der letzte Urlaub schon ein paar Jahre her. Urlaub, Hobbys, klassischer Feierabend? „Kommt alles zu kurz“, sagt Jenny. Wenn sich andere mit Freunden verabreden oder ausgehen, verkauft das Ehepaar Veldkamp Liebesäpfel und Schokobananen. Symon hat es inzwischen allerdings geschafft, sich ein Zeitfenster zu verschaffen, um etwas fitter zu werden. Mit ein paar Schaustellerfreunden vom Dom hat er sich einmal pro Woche einen Indoor-Fußballplatz gemietet – den zu bekommen, war kein Problem. „Um 23.30 Uhr wollte außer uns offenbar sonst keiner den Platz haben“, sagt er und lacht, während Tochter Mimi die nächste Runde bei Onkel Jerome dreht.
Nach drei Runden geht’s noch kurz bei Symons Papa am Zuckerwarenstand vorbei und dann zurück zur Zuckerhütte, wo Symon jetzt wieder übernimmt und Jenny wieder in Richtung Kita spaziert, um Mila abzuholen. Dort hat sie mit den anderen Kindern gerade zu Abend gegessen. Eine Mahlzeit, für die in Schaustellerfamilien selten Zeit bleibt. Aber das Essen in der Kita ist im Grunde auch eine Art Familienessen. Viele der Kinder kennen sich seit Baby-Tagen – und haben dieselben Interessen. Das Lieblingsspiel der Kinder ist jedenfalls sei eh und je dasselbe, wie eine Erzieherin verrät. Es heißt ganz einfach: Dom spielen. Dann baut jeder seine eigene Bude auf und verkauft, worauf er Lust hat. Früh übt sich – könnte man meinen. Zumindest wenn Symon Veldkamp mit seiner Prophezeiung recht hat: „Irgendwann landen ohnehin alle wieder hier.“