Hamburg. Das Volksvergnügen zog 1893 in die Nähe der Reeperbahn. Vor allem die „Exzentrik-Tänzerinnen“ lockten viele Besucher an.
Das Programm ist einschlägig, das Personal erotisierend, die Polizei hochzufrieden: Vor 125 Jahren, am 1. November 1893, startet auf dem Heiligengeistfeld die größte Werbeshow der Welt für Jüngerinnen der ganz leichten Muse. Denn zum Winterbeginn werfen dort von nun an auf einem Dutzend Bühnen die damals sogenannten Exzentrik-Tänzerinnen aus aller Herren Länder für zahlendes und fachkundiges Publikum die nackten Beine. „Die Leiter der Varietébühnen aus der ganzen Welt prüften das ‚Material‘, trafen ihre Auswahl und schlossen die Engagement-Verträge“, schreibt Gustav Schiefler in seinem Klassiker „Eine Hamburgische Kulturgeschichte 1890-1920“. „Hamburg war die allgemeine Artisten-Börse!“
Voraussetzung für die vorweihnachtliche Mädchen-Messe unter den strengen Augen der Obrigkeit war die Anordnung der Polizeibehörde, den „Dom“ auf das Heiligengeistfeld zu verlegen. Denn mit den Schaustellern, Karussells, Bänkelsängern, Seiltänzern und Zuckerwarenverkäufern ziehen nun auch die Schaubudenbesitzer mit ihren weiblichen Attraktionen in die Nähe der Reeperbahn um.
Bühnen mit Künstlerinnen in knappen Kostümen
Seit dem 11. Jahrhundert um den Hamburger Mariendom am Speersort entstanden, hatte sich das größte Volksfest des Nordens nach dem Abriss des Kirchengebäudes im Jahr 1804 labyrinthisch und kaum kontrollierbar über die Marktplätze der Stadt ausgebreitet: den Gänsemarkt, den Pferdemarkt, den Zeughausmarkt und schließlich den Großneumarkt.
Als neue Hauptattraktion des Volksvergnügens erblühen damals, so Schiefler, neue „Spezialitätenbühnen“ mit Künstlerinnen in knappen Kostümen. Sie werden, so der Kulturhistoriker, „nicht nur von der leichtlebigen Jugend, sondern auch, und sogar vornehmlich, von den breiteren Schichten des soliden bürgerlichen Mittelstandes“ umlagert. Die Polizei will damals die ständige Ausbreitung und Ausweitung der Dom-Einzelfeste bremsen. Der neue Standort auf dem Heiligengeistfeld bietet die ideale Gelegenheit dazu: Von nun an sammelt sich das lockere und deshalb den Behörden stets suspekte Vergnügungsgewerbe nicht nur übersichtlich am gleichen Ort, sondern auch polizeilich pflegeleicht zum selben Termin.
Spielsachen, Lebensmittel, Leckereien und Früchte
Die Anordnung von 1893 gibt dem Volksfest aber auch ein moderneres Gesicht: Spielsachen, Lebensmittel, Leckereien und Früchte „werden unter lautem Geschrei angepriesen“, zählt der Kulturhistoriker Ernst Finder in seiner Sittengeschichte „Hamburgisches Bürgertum in der Vergangenheit“ auf und vergisst dabei nicht die „Affen- und Flohtheater, Türken mit Schmucksachen, Italiener mit Alabasterwaren und Holländer mit Schmalzkuchen“. Auch für das Seelenheil wird damals gesorgt, der Dombesucher ebenso wie der Schausteller: „Clemens Schultz vom Kirchspiel St. Pauli, ein vorzüglicher Mensch und ausgezeichneter Seelsorger, nahm sich mit gütigem und feinfühlendem Herzen der Armen und der vom Schicksal Herumgestoßenen an“, vermerkt Schiefler. „Es wird erzählt, das fahrende Volk, das sich auf dem Heiligengeistfeld alljährlich in großer Menge einzustellen pflegte, sei mit der Bitte zu ihm gekommen, ihnen am Heiligen Abend einen Gottesdienst zu halten.“
Im 20. Jahrhundert bestimmen vor allem die neuen Fahrgeschäfte das Bild. 1930 strömen Hunderttausende Besucher auf Hamburgs ersten Frühlingsdom, und 1945 will die Stadt den Schaustellern mit einem dreiwöchigen „Hummelfest“ im August wieder auf die Beine helfen. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Teilung Deutschlands das reisende Vergnügungsgewerbe um viele Veranstaltungen und Erwerbsmöglichkeiten gebracht. Namensgeber ist der berühmte „Hummelmann“ Johann Wilhelm Bentz, der Anfang des 19. Jahrhunderts als Wasserträger seine Eimer durch die Neustadt schleppt. Zum Winterdom finden sich damals schon rund eine Million Menschen ein, aber auch der Sommerdom boomt: 1950 kommen 450.000, 1960 schon 950.000 auf das Heiligengeistfeld.
Rausch der Geschwindigkeiten gefährdet Menschenleben
Anfangs „vergleichsweise sparsam waren die Beleuchtung und Aufbauten noch an vielen Geschäften“, berichtet die Historikerin Alina Laura Tiews. Pappmachéfassaden und bunte Glühbirnen bezeugen damals noch die Kargheit der Nachkriegsjahre, doch die Attraktionen erzählen schon von der neuen Zeit: Die „Mondrakete“ etwa zeigt mit ihren rasanten Fahrten bereits, wohin im Zeitalter der Raumfahrt auch die Rummelreise geht.
Wie im Straßenverkehr gefährdet der Rausch der Geschwindigkeit auch auf dem Dom Menschenleben. Am 15. August 1981 um 0.50 Uhr will der 26 Jahre alt Schausteller Norbert Witte mit einem Teleskopkran einen defekten Motor seiner Achterbahn austauschen. Er glaubt, dass das Looping-Flugkarussell „Skylab“ gleich nebenan den Betrieb bereits eingestellt hat. Es ist ein tödlicher Irrtum. Denn das hochmoderne Fahrgeschäft startet mit 25 Gästen doch noch zu einer allerletzten Runde. Aus den Lautsprechern klingt der Popsong „Massachusetts“ von den Bee Gees, hoch in der Luft küssen sich Verliebte. Das Getriebe schlitzt zwei Gondeln auf, und viele Insassen stürzen aus großer Höhe auf Metall und Beton. Sieben Menschen sterben, zwölf werden zum Teil schwer verletzt. Die meisten Opfer sind zwischen 18 und 21 Jahre alt. Einige sind so entstellt, dass sie erst nach Stunden identifiziert werden können. Ein Gericht spricht Witte später schuldig und verurteilt ihn zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung.
Dom zieht jedes Jahr rund sieben Millionen Besucher an
Die milde Strafe hilft ihm allerdings wenig, denn die Versicherung zahlt nicht, der Schausteller geht pleite, gerät an
Drogenschmuggler, muss in den Knast und rappelt sich nur mühsam wieder auf.
Heute ist die Tragödie längst vergessen, zieht der Dom in Frühling, Sommer und Winter jedes Jahr rund sieben Millionen Besucher an. Das macht Hamburgs Volksfest zu einem der zehn großen in Deutschland. Auch das wurde erst durch den Umzug auf das Heiligengeistfeld möglich.