Hamburg. Überlasteter Hauptbahnhof, verspätete Züge, S-Bahnhöfe werden nicht fertig: Die Politik hadert immer häufiger mit dem Staatskonzern.

Irgendwo zwischen Wilhelmsburg und Veddel platzte ihm der Kragen. Zusammen mit Hunderten anderen Menschen war Dirk Kienscherf an diesem Donnerstagmorgen in der S-Bahn auf dem Weg von Neugraben in die Hamburger Innenstadt. Die S 3 hatte wie so oft große Verspätung, war ab Harburg völlig überfüllt, die Luft war stickig und dann auch noch das: Kurz hinter Wilhelmsburg fuhr der Zug wegen eines Gleisschadens nur noch im Bummeltempo – den Termin um 8 Uhr konnte Kienscherf nicht mehr pünktlich erreichen.

Jetzt musste der Ärger raus: „Der S-Bahn-Verkehr zwischen Hauptbahnhof und Harburg ist auch diese Woche höchst störanfällig. Jetzt geht es nur noch mit 20 km/h voran. Das ist schon unfassbar“, schrieb er auf seiner Facebook-Seite und fügte noch hinzu: Mir tun die Lokführer und Mitarbeiter/-innen und Fahrgäste echt leid. Alle Abo­karten-Inhaber sollten zukünftig einen 20-Prozent-Störrabatt erhalten.“

Problematisches Verhältnis

Nun könnte man das als Einzelmeinung eines frustrierten Fahrgastes abtun. Doch hinter dem Vorgang steckt weit mehr, und das nicht nur, weil Kienscherf vermutlich vielen seiner Leidensgenossen aus der Seele sprach, sondern weil der 52-Jährige als SPD-Fraktionschef in der Bürgerschaft einer der einflussreichsten Politiker der Stadt ist – und weil dieser Vorgang eben kein Einzelfall war. Vielmehr steht er sinnbildlich für das problematische Verhältnis der Hamburger Politik zur Deutschen Bahn und ihrer Tochter, der S-Bahn Hamburg GmbH. Man muss nicht lange in den Archiven suchen, um diverse Belege dafür zu finden.

Beispiel Hauptbahnhof: Der mit mehr als 500.000 Menschen pro Tag meistfrequentierte Bahnhof der Republik platzt seit Jahren aus allen Nähten, doch trotz vieler Gespräche zwischen Stadt und Bahn wird es noch Jahre dauern, bis es zu einer spürbaren Entlastung kommt. Erst vergangenen Sommer hatte Kienscherf seinen Unmut darüber ausgedrückt: „Bei vielen Betroffenen ist die Geduld am Ende“, sagte er damals im Abendblatt-Interview. Die Bahn müsse sich jetzt endlich dazu durchringen, den Bahnhof „auf eigene Kosten zu erweitern“. Im Oktober stellten Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und Bahn-Vorstand Ronald Pofalla dann große Erweiterungspläne vor. Doch dass es bis zur ersten spürbaren Maßnahme – zusätzlichen Zugängen auf der Südseite Bahnhofes – noch einige Jahre dauern soll, sorgt in der Bürgerschaft für Kopfschütteln.

Geharnischter Brief

Beispiel Elbbrücken: Hier hat die Hochbahn im Dezember ihren neuen U-Bahnhof in Betrieb genommen, er wurde sogar günstiger als geplant. Der benachbarte S-Bahnhof, der den Umstieg von U- auf S-Bahn ermöglichen und so den Hauptbahnhof entlasten soll, wird dagegen nicht vor Ende 2019 fertig und teurer als geplant. Als Grund führt die Bahn unerwartete Hindernisse im Boden an.

Beispiel Ottensen: Dass der neue S-Bahnhof erst Ende 2020 fertig werden soll, sorgt für Spott aus der Politik. „Wir haben mit dem U-Bahnhof Oldenfelde Jahre später angefangen, aber er wird ein Jahr eher fertig“, sagt Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks. Er freue sich aber, dass die Arbeiten in Ottensen bald beginnen.

Beispiel Harburg: Nachdem Pläne der Bahn bekannt wurden, aufgrund von Bauarbeiten weniger Fernzüge in Harburg halten zu lassen, schrieb Wirtschafts- und Verkehrssenator Michael Westhagemann (parteilos) erst vor wenigen Tagen einen geharnischten Brief an den Bahn-Vorstand und an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU). „Derartige Planungen verschrecken Fahrgäste und potenzielle Fahrgäste, da die Bahn als unzuverlässig und kundenunfreundlich wahrgenommen wird“, so Westhagemann, der sich vor allem beklagte, aus den Medien von den Plänen erfahren zu haben.

Gigantisches Stadtentwicklungsprojekt

Beispiel Altona: Weil die Deutsche Bahn sich über viele Jahre nicht durchringen konnte, ihren Fernbahnhof von Altona nach Diebsteich zu verlegen, verzögerte sich auch das gigantische Stadtentwicklungsprojekt Neue Mitte Altona immer wieder, was für großen Frust auf städtischer Seite sorgte. „Die Bahn entscheidet im Sommer“, hieß es seinerzeit spöttisch in den Fachbehörden. „Die Frage ist nur: in welchem?“ 2014 fiel die Entscheidung dann tatsächlich, die Neue Mitte wird inzwischen bebaut, und Stadt und Bahn kämpfen gemeinsam gegen Kritiker des neuen Fernbahnhofs.

Dieses Projekt wird oft als Beispiel dafür angeführt, dass es auf der Arbeitsebene eigentlich ganz ordentlich laufe. „Die Zusammenarbeit mit Senat und Behörden ist extrem gut“, findet etwa Bahn-Sprecher Egbert Meyer-Lovis. In der Verkehrsbehörde wird das zwar nicht grundsätzlich bestritten, klingt aber nicht ganz so euphorisch.

Fragt sich nur, warum die öffentliche Wahrnehmung so anders ist? Hört man sich in der Politik um, sind immer wieder die gleichen Antworten zu hören. Einerseits wird auf den Bund geschimpft, der die frühere Bundesbahn finanziell kurzhalte, weswegen ihre Infrastruktur veraltet und marode sei, was ständig zu technischen Problemen und Zugausfällen führe. Zweitens wird beklagt, dass der in Untergesellschaften wie DB Fernverkehr, DB Regio, DB Cargo und DB Netz aufgeteilte Staatskonzern schwerfällig, unflexibel und schlecht organisiert sei. „Die finden es total normal, dass es drei Jahre dauert, am Hauptbahnhof ein paar neue Treppen anzubringen“, klagt ein Bürgerschaftsabgeordneter.

Hochbahn gilt als leuchtendes Gegenbeispiel

Als leuchtendes Gegenbeispiel wird stets die Hamburger Hochbahn angeführt, die Busse und U-Bahnen betreibt. Kein Wunder: Das Unternehmen gehört zu 100 Prozent der Stadt und setzt Beschlüsse aus dem Rathaus in der Regel ohne Murren um. Und dabei ist es noch erfolgreich: Der Kostendeckungsgrad von knapp 93 Prozent gilt als vorbildlich, und die U-Bahnen sind im Schnitt pünktlicher als die S-Bahnen.

Bei der Bahn findet man diesen Vergleich etwas unfair. Denn im Gegensatz zur Hochbahn verfüge die S-Bahn nicht über ein abgeschlossenes und weitgehend durch Tunnel verlaufendes Netz, sondern bediene auch Außenbereiche mit Bahnübergängen, und hinter Neugraben teile man sich das Netz sogar mit anderen Anbietern. Über Kienscherfs etwas polemische Kritik war man daher in der Hamburger Zentrale nicht sonderlich amüsiert – zumal man am gleichen Tag stolz verkündete, dass die Pünktlichkeit der S-Bahnen im März auf 94,4 Prozent gestiegen sei. Immerhin: Der SPD-Fraktionschef und S-Bahn-Chef Kay Uwe Arnecke tauschten sich umgehend aus. Einig, so ist zu hören, ist man sich immerhin darüber, dass man Druck beim Bund machen will, mehr Geld für die Modernisierung der Bahn-Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.

Das ist auch aus Sicht von CDU-Verkehrsexperte Dennis Thering der einzig Erfolg versprechende Weg: „Es geht nur über Druck“, sagte er. Kienscherfs Kritik bei Facebook hatte er zwar umgehend spöttisch kommentiert, dabei aber im Prinzip geteilt. „Hamburgs S-Bahnen haben also ein Pünktlichkeitsproblem. Was Sie nicht sagen, Dirk Kienscherf! Schön, dass Ihnen das so kurz vor den Wahlen dann auch mal auffällt.“ Wie er dem Abendblatt sagte, halte er allerdings nichts davon, die Bahn an den Pranger zu stellen. Stattdessen rate er zum Unterhaken: „Der Schuh drückt dermaßen, dass wir alle gemeinsam eine Lösung hinbekommen müssen.“