Hamburg. Er hatte mit dem Schubverband ein Sportboot überrollt. Ein Skipper starb. Fehler hatte vor allem die Besatzung der “Karo“ gemacht.

Nicht einmal die erste Stunde der Hauptverhandlung ist geschafft, da unterbricht Richter Arno Lehmann den Prozess zum ersten Mal. Er ist sichtlich genervt, Zuhörer und Reporter verlassen den Raum – auch die Dolmetscherin des Angeklagten Tomas L. Der 34-Jährige muss sich am Montag vor dem Amtsgericht wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung und Gefährdung des Schiffsverkehrs verantworten.

Am 3. November 2016 hatte er mit dem Schubverband „Elbe 1“ – einem über 100 Meter langen Frachtschiff – das Sportboot „Karo“ zunächst gerammt und dann versenkt. Während es einem der Männer gelang, sich unter Wasser aus dem Wrack zu befreien, endete die Kollision für den anderen (53) tödlich.

Als es fünf Minuten später zurück in den Saal geht, ist der Prozess für die Übersetzerin bereits beendet. „Wir haben hier unisono festgestellt, dass sie Probleme haben mit der Übersetzung der Materie“, sagt Richter Lehmann. Ersatz muss her.

Die Männer schlugen alle Warnungen in den Wind

Auftakt zu einer Verhandlung, die ungewöhnlich beginnt und mit einer Überraschung endet: Um 16.30 wird der Schiffskapitän Tomas L. von allen drei Anklagepunkten frei gesprochen. Es ist ein mühsamer Weg bis dahin. Er besteht aus einer Flut unzähliger Details, die es dem Richter ermöglichen sollen, den Hergang der tragischen Kollision so zu rekonstruieren, dass die Frage der Schuld geklärt werden kann: um Meter und Sekunden, um Nuancen in der Einschätzung des Sachverständigen.

Als um 12.30 Uhr der neue Dolmetscher eintrifft, beginnt die Verhandlung im Grunde von vorn. Tomas L. wird vernommen, anschließend der Zeuge Yves S., der am Tag des Unglücks mit seinem Freund René B. nach Hamburg gekommen war, um im Billbrooker Yachtclub ein Motorboot zu kaufen.

Schnell wird klar, wie leichtsinnig dieser Aufbruch war. „Ich habe die beiden Männer eindringlich gewarnt, wir haben sie alle gewarnt. Die Dämmerung brach ja schon an, als sie los wollten, und sie waren weder mit ihrem neuen Boot noch mit dem Schiffsverkehr auf der Elbe vertraut.“ Schon während der zahlreichen Unterbrechungen erzählt Kai-Uwe Klöppner diese Geschichte auf dem Flur des Amtsgerichts jedem, der sie hören möchte.

Hecklaterne funktionierte nicht

Zum einen, weil er diesen Unfall unbegreiflich findet. Zum anderen, weil die „Karo“ sein Schiff war: ein Sportboot aus den 50er-Jahren, „die Technik alt, aber okay“. Wenige Stunden vor dem Unglück hatte er es an René B. verkauft. Doch als die Berliner das Boot noch am gleichen Tag nach Berlin überführen wollen, protestiert Klöppner sofort. „Ich hatte den Männern noch angeboten, ihnen eine Hotelübernachtung zu zahlen, aber sie waren nicht von ihrem Plan abzubringen.“

Yves S. berichtet ruhig vom Tag des Unglücks. Wie sie in Berlin schon viel später losgekommen waren als geplant, wie im Yachthafen Sturmvogel der Motor der „Karo“ zunächst nicht ansprang. Wie sie sich am Liegeplatz noch mit Proviant und Diesel von der Tankstelle eindeckten, wie sie all die Bedenken der Hamburger in den Wind schlugen. Wie sie feststellten, dass die Hecklaterne nicht funktionierte und stattdessen eine Petroleumsturmlaterne anbrachten. Und wie sie durch das Aufspannen einer Schutzplane am Heck des Bootes so gut wie keine Sicht mehr nach hinten hatten. „Uns war halt kalt“, erzählt Yves S.

Zur Orientierung das Smartphone genutzt

Von Beruf ist Yves S. Nautischer Wachoffizier. Doch das Steuer des Bootes überlässt er nach kurzer Zeit seinem Freund René B. Da die „Karo“ weder über Echolot noch Radar und Funk verfügt, nehmen die Männer zur Orientierung ihr Smartphone – und später, als das Netz nicht mehr reicht, einen alten ADAC-Straßenatlas. „Wie haben sie navigiert?“, fragt der Richter. „Optisch“, sagt Yves S. „Hatten sie sich eigentlich vorher über die besonderen Bedingungen des Schiffsverkehrs auf der Elbe informiert?“ Yves S. zuckt mit den Schultern. „Ich hatte René gebeten, das zu tun. Ob er es getan hat, weiß ich nicht.“

Es ist 17.40 Uhr am 3. November 2016, als Tomas L. das vor sich fahrende Sportboot zum ersten Mal wahrnimmt. Kilometer für Kilometer wird die Fahrt der beiden Fahrzeuge – der „Elbe 1“ und der „Karo“ – in der Verhandlung rekonstruiert. „Ist eigentlich irgendwer von Ihnen auf die Idee gekommen, ab und zu hinter sich zu schauen, ob Schiffe von hinten kommen?“ Auch hier zuckt Yves S. mit den Schultern. „Ich war bis zum Ende der Meinung, wenn da jemand von hinten kommt, muss er sich ja auch bemerkbar machen.“ – „Warum?“, hakt der Richter umgehend nach. „Das kenne ich so aus Berlin“, antwortet S. „Mein Kenntnisstand ist, dass es im Hamburger Hafen ziemlich unüblich ist“, klärt ihn der Richter auf. Um kurz vor 18 Uhr verschwindet die „Karo“ vom Radar der „Elbe 1“.

Warnung im Hamburger Hafen nicht vorgeschrieben

Wenige Sekunden später rammt der Schubverband das Sportboot zum ersten Mal. „Es gab ein kreischendes Geräusch, und dann einen zweiten Schlag. Wir konnten nicht einmal mehr Luft holen“, sagt Yves S. „Wissen sie, dass ich diese Sekunden jeden Tag erlebe, seit bald zweieinhalb Jahren?“ Der Richter nickt verständnisvoll.

Tatsächlich, so klärt der Sachverständige des Verfahrens die Anwesenden auf, sei es nach den Regeln der Kollisionsverhütung im Hamburger Hafen nicht vorgeschrieben, bei einem Überholmanöver das vor sich fahrende Fahrzeug zu warnen. Tomas L. hätte es trotzdem tun können.

Die Kollision selbst hätte er damit nach Befinden des Gerichts nicht mehr verhindert. Nach seinem Freispruch schaut L. minutenlang vor sich hin. Seine Augen sind rot. Wie sich der Freispruch anfühlt? „Natürlich ist es für mich ein Glück. Aber für die Familie des Getöteten ist das doch alles eine Tragödie.“