Hamburg . Seine Gäste sollen das bekommen, was ihnen schmeckt – bis zum Schluss. Auf manche Zutaten muss der Koch aber verzichten.
Manchmal wird während des Mittagessens ein Sarg über den Flur getragen, der an der offenen Wohnküche entlangführt. Und am Anfang, als Marc Bratic hier noch neu war, fand er das – sagen wir mal – befremdlich. Er fragte sich, ob man das nicht so organisieren könne, dass man das nicht so mitbekommt. Oder zumindest so, dass es nicht während des Essens passiert. Es dauerte eine Weile, bis er verstand, dass der Tod hier geschieht, wann er geschieht. Und bis er verstand, dass mit dem Satz „Der Tod gehört zum Leben dazu“ wohl auch gemeint ist, dass Särge nicht durch den Hinterausgang rausgetragen werden.
Marc Bratic ist Koch im Hamburger Hospiz an der Helenenstraße in Altona nahe der Max-Brauer-Allee. Seine Gäste sind unheilbar krank, verleben hier die letzten Tage, Wochen oder – seltener – auch Monate ihres Lebens. Viele nehmen starke Medikamente, der Geschmackssinn funktioniert nicht mehr richtig, der Appetit ist bei vielen verloren gegangen. Man könnte meinen: Nicht gerade die besten Bedingungen für einen Koch. Marc Bratic meint: „Ich möchte nie wieder woanders arbeiten.“
Bratic ist seit drei Jahren hier. Für den 43-Jährigen war das zunächst eine fremde Welt. Vorher hat er fast 20 Jahre lang im À-la-carte-Geschäft in ganz normalen Restaurants gearbeitet. Mit 40 wollte er nicht mehr. „Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, ein Sabbatjahr zu machen, um mich neu zu orientieren.“ Doch dann war da seine Bekannte, die als Pflegerin im Hospiz arbeitete und erzählte, dass man dort einen Hauswirtschafter suchte. Hauptsächlich fürs Frühstück. Und so kam Bratic zum Hospiz, erst mal für ein Probehalbjahr. „Ich musste schauen, ob ich das kann oder ob es mich auslaugt.“ Er hielt es aus. Und blieb. Allerdings nicht, ohne eine Art Essens-Reform auf den Weg zu bringen. „Am Anfang kam das Mittagessen von einem externen Caterer, aber das genügte meiner Meinung nach den besonderen Ansprüchen hier nicht“, sagte er. „Die Menschen können oft nicht mehr gut kauen, bissfest Gekochtes bringt da nichts. Außerdem legen viele Menschen gerade in den letzten Wochen des Lebens Wert darauf, die Dinge zu essen, die sie am liebsten mögen.“ Das alles trug Bratic seinem Chef vor - mit Erfolg. Seit einem Jahr hat er nun, dank eines Förderprojektes, eine Profiküche bekommen, in der er weitestgehend in Eigenregie den Speiseplan entwickelt, den Einkauf plant, kocht und backt.
Matjes Hausfrauenart geht offenbar gut
Jeden Tag kocht er ein Menü mit einer Alternative, auf Wunsch kann alles in einer Schnabeltasse serviert werden. Heute gibt es Matjes Hausfrauenart mit Bratkartoffeln, als Option Fischfrikadellen und als Nachtisch Joghurt mit Obstsalat. Am Anfang habe er auch manchmal asiatisch oder afrikanisch gekocht - aber er hat es schnell wieder gelassen. „Meist möchten die Gäste das Essen haben, was sie von früher kennen. Hausmannskost, Rouladen, Leber, Deftiges.“ Und wenn ein Gast etwa ganz anderes haben möchte, kocht Bratic auch auf Wunsch. Heute war das nicht nötig. Matjes Hausfrauenart geht offenbar gut.
Die Arbeitstage des Kochs starten meist gegen neun Uhr, an diesem Tag etwas früher. Weil es dienstags immer Fisch gibt, war er schon auf dem Wochenmarkt und hat den Matjes frisch eingekauft. Gegen zehn Uhr rührt er die Sauce für den Fisch an. Joghurt, saurer Gurkensaft, Senf, Äpfel, Zwiebeln. Im Ofen bräunt der Apfelkuchen, den es heute Nachmittag geben soll.
In seiner Küche ist es meistens ruhig
Wenn er nicht gerade den Mixer oder das Handrührgerät benutzt, ist es ruhig in seiner Küche im Erdgeschoss. Kein Radio und kein Gerede, nur vereinzelt kommt mal jemand rein, um sich einen Kaffee zu holen. Bratic genießt die Ruhe am Vormittag und die Zeit, der er für die Zubereitung der Speisen hat. „Krasser könnte der Gegensatz zu der Hektik und dem Tempo in der normalen Gastronomie nicht sein“, sagt er.
Als der Apfelkuchen fertig ist, belädt er seinen Servierwagen und schiebt los Richtung Wohnküche im ersten Stock. An ein Krankenhaus erinnert hier so gut wie nichts. Der typische Klinikgeruch fehlt. Weiße Kittel? Trägt niemand. Das Wort „Patient“ benutzt hier keiner, die Wohnküche könnte genau so das Zentrum einer großen WG sein. Ist es ja im Grunde auch. Eine WG auf Zeit.
Von der Wohnküche geht ein großer Balkon ab. Heute scheint der Winter weit weg, die Sonne flutet den Raum. Hier erledigt Bratic noch letzte Kleinarbeiten, bevor er das Essen serviert – entweder aufs Zimmer oder an dem großen Tisch in der Wohnküche. Je nach Tagesform der Gäste. Wie viele von ihnen überhaupt essen wollen oder können, erfährt er meist erst kurz vorher. Heute sind es sechs von insgesamt 16.
Hier, auf der Gästeetage, wechselt Bratic die Rolle. Vom Koch zum Servierer. Und zum Zuhörer. Jetzt beginnt die zweite Phase des Tages, und mit der Küchen-Ruhe ist es vorbei. Schließlich bringt er das Essen selber auf die Zimmer. Eigentlich hat er sich längst mal einen Schrittzähler besorgen wollen, um herauszufinden, wie viele Meter er hier täglich zurücklegt. Hin zum Gästezimmer, Wünsche aufnehmen, zurück in die Küche, Teller anrichten, zurück zum Zimmer, servieren, nächstes Zimmer. Und nicht selten dauern die Besuche länger, viele Gäste nutzen die Gelegenheit für einen kleinen Plausch. Über was sprechen sie? „Über alles außer die Krankheit“, sagt Bratic. Oft über das Essen, das Wetter, über Fernsehsendungen, vermeintlich Belangloses. Aber gerade das gewinne hier an Bedeutung, sagt der Koch. Bratic sieht sich als „den Rest Normalität in einer Lebensphase, in der nichts mehr ist wie früher.“
Bratic, ein eher ruhiger, zurückgenommener Mensch, hat sich an das viele Reden erst gewöhnen müssen. „In der Gastronomie war das Maximale an Kommunikation in der Küche: ja, nein und schnell.“ Gerade in den ersten Wochen hat er das viele Reden auch als anstrengend empfunden. „Ich lebte damals in einer WG und habe zu Hause oft die Tür zugemacht, weil ich einfach alle war.“
Einmal in der Woche gibt es Supervision
Das hat sich inzwischen normalisiert, aus einer fremden Welt ist längst Alltag geworden. Auch wenn es immer noch Momente gibt, die ihn bedrücken. „Wenn Gäste versterben, die länger hier waren und zu denen man einen guten Kontakt aufgebaut hat, nimmt mich das schon mit. Aber ich habe meinen Weg gefunden, damit umzugehen.“
Bratic ist einer von 40 festen Mitarbeitern hier: darunter Pflegekräfte, Palliativärzte, Hausmeister, Seelsorger, Psychologen. Dazu kommen viele Ehrenamtliche. Für die Mitarbeiter steht einmal pro Monat eine Supervision an, eine psychologische Beratung also. Nicht jeder steckt den Job gleich gut weg.
In der Wohnküche hat inzwischen Katarzyna Oporska Platz genommen. Seit sie hier ist, kommt sie jeden Tag zum Essen in die Wohnküche. Heute ist sie der einzige Gast, an anderen Tagen müssen extra Stühle dazu geholt werden, gerade wenn Angehörige mitessen möchten. Oporska ist noch gut zu Fuß. Sie sagt, sie sei zwei Wochen und bereits zum zweiten Mal hier. Eine Pflegerin korrigiert später: Es seien schon Monate. Der Hirntumor bringt ihre Gedanken manchmal durcheinander.
Aber die 72-Jährige hat auch klare Momente. Als sie hört, dass es Matjes Hausfrauenart gibt, ist sie hellauf begeistert. „Das ist mein Lieblingsessen“, sagt sie. Im Vergleich zu vielen anderen hier hat sie einen guten Appetit. Und so richtet Bratic eine große Portion auf ihrem Teller an. Normalerweise sind die Portionen klein. „Von einem randvoll belegten Teller fühlen sich die Gäste oft wie erschlagen“, sagt er. „Bei manchen reicht, was auf einen Esslöffel passt.“
Wer Wein trinken will, bekommt Wein
Nicht bei Oporska. Nach zehn Minuten ist der Teller leer. „Ich habe in meinem Leben noch nie so gut gegessen wie hier“, sagt sie und fasst sich an die Hüften. „Seit ich hier bin, habe ich sogar wieder zugenommen.“ Nicht nur bei der Größe der Portionen hat sich Bratic umstellen müssen, sondern auch bei den Gewürzen. „Viele Medikamente sorgen dafür, dass stark Gewürztes den Gästen nicht mehr gut schmeckt. Also lieber weniger und im Zweifel nachwürzen.“ Alkohol und Kaffee vermeidet er ebenso als Kochzutaten. „Wenn jemand ein Bier zum Essen haben kann, kann er es aber natürlich bekommen.“
Verbote gibt es so gut wie keine. Wer rauchen will, raucht, wer Wein trinken will, trinkt Wein, wer sein Mittagessen abends essen möchte, bekommt es abends, wer das leckere Mittagsgericht abends noch einmal serviert bekommen will, bekommt es noch einmal. Bratic hat sich angewöhnt, immer so viel zu kochen, dass es genug Spielraum gibt.
Es vergehen ungefähr zwei Stunden, bis er mal einen Moment durchatmen kann. Alle Gäste haben ihr Essen bekommen, viele schlafen jetzt. Gleich muss er noch den Abwasch machen und Kaffee kochen, ab 15 Uhr serviert er den Apfelkuchen. Die kurze Pause nimmt er sich, um mal kurz an die frische Luft zu gehen.
Kann er sich vorstellen, irgendwann wieder in einem normalen Restaurant zu arbeiten? „Auf keinen Fall“, sagt er – ohne zu zögern. Der Stress, die schlechte Stimmung, das wolle er alles nicht mehr. „In der Gastronomie gibt es selten Lob und viel Kritik. Hier ist das umgekehrt“, sagt er.
Außerdem möchte er den engen Kontakt zu seinen Gästen nicht mehr missen, auch wenn er weiß, dass er sie nur wenige Wochen begleiten darf. Für seine Arbeit als Koch würde das ohnehin nicht viel ändern. „Von den Krankheitsgeschichten möchte ich eigentlich nichts wissen“, sagt er. „Das Einzige, was ich wirklich wissen muss, ist: Kann der Gast essen? Und wenn er essen kann, dann wird er gutes Essen bekommen. Bis zum Schluss.“