Hamburg. Thomas Mooß hat Krebs und wird bald sterben. Sein letzter Wunsch ist der Besuch im Stadion des FC St. Pauli – zum Derby.
Es ist der Moment, der lebt. Und es kommt nur auf den heutigen Tag an, nur auf diesen einen Tag. Es ist ein ganz besonderer. Was hinter Thomas Mooß liegt, spielt jetzt keine Rolle mehr, erst recht nicht, was die nächsten Stunden oder Tage bringen werden. Denn sehr viel Zeit bleibt dem 55 Jahre alten Pinneberger leider nicht mehr. Thomas Mooß hat Darmkrebs „im Endstadium“, wie es offiziell heißt. In dieser Situation ist jede Minute ein Gewinn, ein kostbares Gut. Jetzt, am Ende, hat jeder Morgen, an dem man aufwacht, Gewicht.
Umso bedeutungsvoller sind Eindrücke und Erlebnisse zum Ausklang. Erfüllte Wünsche machen das Abschiednehmen leichter, auch für Angehörige. Der letzte Wunsch des Sterbenskranken ist in diesem Falle: noch einmal Fußball gucken. Live. Noch einmal den FC St. Pauli sehen, im Stadion am Millerntor. Dass es sich ausgerechnet um das Stadtderby gegen den HSV handelt, ist Zufall, indes reizvoll.
Der Ausflug beginnt um 11.30 Uhr im Hospiz
Ein Segen für Thomas Mooß, dass es den „Wünschewagen“ des Arbeiter-Samariter-Bunds (ASB) gibt. Die Hilfsorganisation unterstützt schwerstkranke Menschen, die sich nicht mehr selbst auf den Weg zu ihrem Wunschort machen können. Orte dieser finalen Sehnsucht können die Nordsee, ein Abend in der Oper, eine Fahrt in den Geburtsort, eine Tour zu anderen vertrauten Orten in der Ferne oder ein Besuch in der Sternwarte sein. Und für Herrn Mooß, den Fan des FC St. Pauli, gibt es das ganz persönliche Ziel der letzten Träume: Heimspiel Millerntor. Das für die gastgebende Mannschaft ernüchternde Spielergebnis von 0:4 ändert am Zauber des Ereignisses nichts. Dieser Mensch erlebte den Ausflug als Geschenk, als Glück. Auch wenn dies für einen Außenstehenden schwer zu verstehen ist.
Diese Reise beginnt für Thomas Mooß am Sonntag um 11.30 Uhr. Vor dem Blankeneser Hospiz an der Godeffroystraße stoppt der bunt lackierte „Wünschewagen“. An Bord sind zwei Profis: Janett Ebel, Gesundheits- und Krankenpflegerin mit Wohnung in Alsterdorf, sowie der Rettungssanitäter Tim Lukas, Medizinstudent im achten Semester. Sie ist 29 Jahre alt, er 25. Beide sind bei ihrem Premiereneinsatz ehrenamtlich dabei. Bei einem Wochenendlehrgang zuvor ging es nicht nur um die praktische Ausbildung, sondern auch um die Philosophie des Helfens. Wer todkranken Menschen bei ihrem letzten Wunschausflug begleitet, braucht reichlich Fingerspitzengefühl – und Idealismus. Man könnte diesen Sonntag ganz gewiss bequemer und ruhiger verbringen.
„Herr Mooß hat nicht gut geschlafen“, sagt Schwester Sabine bei der Übergabe im Gartenzimmer des Hospizes. „Er ist aufgeregt und freut sich sehr.“ Eigentlich ist es schön hier. Eigentlich. „Absolut normal verhalten“, haben die Helfer während der Anfahrt geraten, „für ihn ist das ein glücklicher Tag.“ Normal sein fällt Amateuren aber verdammt schwer. „Moin, Herr Mooß!“ Handschlag, so weit es geht. Der Versicherungskaufmann ist zu schwach, um viel zu sprechen. Der Abendblatt-Reportage hat er vorher schriftlich zugestimmt. Es sei ihm Ehre und Freude, ließ er ausrichten. „In den letzten Tagen“, flüstert eine andere Schwester, „ging es leider rapide bergab.“ Alle hoffen, dass Herr Mooß noch Kraft für diesen Nachmittag aufbringt.
Fein gemacht für einen besonderen Tag
Die Betreuung ist rührend – und berührend. Schwester Sabine streichelt die Hand des extrem geschwächten Patienten im Rollstuhl. Dieser hat sich fein gemacht für einen besonderen Tag: T-Shirt mit Vereinslogo, Clubschal, sogar St.-Pauli-Strümpfe. Die braune Wollmütze hält er in den Händen. Die Kleidungsstücke hatten die Eltern des kranken Sohnes zuvor gebracht.
Janett und Tim vom „Wünschewagen“ erhalten von den drei Pflegekräften entscheidende Informationen. Spritze und Tabletten mit Schmerzmitteln sind in der Tasche. Ein Umschlag enthält Auszüge aus der Krankenakte. Für den Fall des Falles. Kurz vor der Abfahrt fällt Thomas Mooß noch etwas ein: Portemonnaie und Fotoapparat müssen bitte unbedingt mit. So geschieht es dann auch. Los geht’s. „Viel Spaß, Herr Mooß“, rufen die Schwestern unisono, „bis nachher.“ Sie winken. Im Flur steht ein Schild neben einem Baumstamm. Der letzte Patient hat das Hospiz am 1. März verlassen. Es war die letzte Station.
Das „Team Barrierefrei“ hilft 68 Rollstuhlfahrern
Im hinteren Bereich des „Wünschewagens“ sitzen wir uns gegenüber. Thomas Mooß fällt jedes Wort schwer. Manchmal aber lächelt er. Seit seinem 20. Lebensjahr, erzählte eine Pflegerin zuvor, ist er Anhänger des Clubs vom Kiez. Früher ging er mit Kumpels ins Stadion, anschließend auf ein paar Bier um die Häuser. Das ist Vergangenheit.
Kurz vor der Ankunft erwachen die Lebensgeister ein wenig. „Das ist ein echt geiles Gefühl“, flüstert Thomas Mooß stockend. Die Polizei weist den Weg durch die Fanmassen. Abseits der Haupttribüne haben St. Paulis Behindertenbeauftragter Jörn Weidlich und seine Mitstreiter alles im Griff. Das „Team Barrierefrei“ beeindruckt mit Herzblut. Nach und nach werden 68 Rollstuhlfahrer plus Begleitung mit Ehrenkarten des Vereins ausgestattet und an ihre Plätze vor der großen Tribüne begleitet.
Ein Lächeln auf dem Gesicht
Janett Ebel und Tim Lukas stehen Thomas Mooß zur Seite – professionell, einfühlsam, warmherzig. Die Position: Ecke Haupt-/Südtribüne, direkt neben den Pauli-Fans: Sprechchöre, bengalisches Feuer, Leuchtraketen. Herr Mooß lächelt. Ganz schön lang lächelt er. Anpfiff. Ob er einzelne Spielzüge verfolgt oder nur das Große und Ganze genießt, wird nicht klar. Ist ja auch egal. Auf Nachfrage erbittet er ein Bier und eine Currywurst. An diesem Tag ist ohnehin eine Menge erstaunlich. Viel spricht Herr Mooß nicht. Aber er guckt, guckt und guckt. Schlusspfiff. Die beiden Betreuer lassen ihrem Patienten bewusst Zeit, Stimmung zu inhalieren. Das Stadion leert sich.
Kurz nach 16 Uhr macht sich der „Wünschewagen“ auf den Weg zurück zum Hospiz. „Jetzt feiern die Falschen“, befindet Thomas Mooß leise. Das Lächeln auf seinem Gesicht jedoch hält an. Was mag er denken? Wahrscheinlich etwas ganz anderes, als wir vermuten.
Der Wünschewagen
Der „Wünschewagen“ des Arbeiter-Samariter-Bunds (ASB) ist in Hamburg seit Oktober 2017 im Einsatz. Sterbenskranke Menschen sollen in ihrer finalen Lebensphase ermutigt werden, sich ihre letzten Wünsche zu erfüllen. Das ist kostenfrei.
Ehrenamtliche Wunscherfüller werden gesucht – besonders aus dem Pflege- und Rettungsdienst. Rund 60 Helfer wechseln sich derzeit ab. Ziel ist, dass der „Wünschewagen“ in diesem Jahr zwei- bis dreimal in der Woche unterwegs ist.
Da sich die Aktion ausschließlich durch Spenden finanziert, ist der ASB auf Unterstützer angewiesen: ASB Landesverband Hamburg; Verwendungszweck „Wünschewagen“. DE02 2005 0550 1211 1208 50.