Hamburg. Er hat Altona wie kein zweiter geprägt – viele seiner Bauten sind bis heute beliebt. Wie konnte er fast in Vergessenheit geraten?

Dieser Mann hat den Bezirk Altona geprägt wie kein Zweiter, seine Werke sind fast 100 Jahre alt und zeitlos zugleich, seine Wohnungen bis heute begehrt. Der große Baumeister von Altona war einstmals berühmt, geriet in Vergessenheit und wird nun im Bauhaus-Jahr neu entdeckt. Höchste Zeit, Gustav Oelsner ein Denkmal zu setzen.

Wer durch Ottensen oder Altona, Bahrenfeld oder Othmarschen streift, trifft fast zwangsläufig auf Oelsners Erbe. Die vielleicht bekannteste Erinnerung ist die Gewerbeschule „Haus der Jugend“ gegenüber dem Altonaer Rathaus. Der kompromisslose Stahlbetonbau, errichtet zwischen 1928 und 1930, war vor dem Hintergrund der historisierenden Gebäude am Platz der Republik revolutionär – in Form wie in Funktion. Die Berufsschule rückte plötzlich die Arbeiterschaft in das repräsentative Zentrum der Stadt.

„Das ist kein Kitschbau, sondern etwas ungemein Modernes: Die Berufsschule sieht aus wie eine Fabrik­“, lobt Peter Michelis, der seit Jahren als Vorsitzender der Gustav-Oelsner-Gesellschaft für das Erbe des Altonaer Baumeisters kämpft. „Ich frage meine Studenten gern, aus welcher Zeit dieser Bau ist“, sagt der Hochschulprofessor. „Kaum einer kam bislang auf die Idee, dass das Haus der Jugend aus der Zwischenkriegszeit stammt.“

Den Nazis war Oelsner zu modern

Diesen Eindruck der Zeitlosigkeit, diese zurückhaltende Moderne, die leichte Eleganz prägen viele Bauten von Gustav Oelsner. Die Reihenhäuser am Rulantweg gehören ebenso dazu wie die Pestalozzischule auf St. Pauli, wie die runde Ecke am Bahrenfelder Steindamm („Die Schichttorte“) oder das Arbeitsamt an der Kieler Straße. Doch während Hamburgs legendärer Oberbaudirektor Fritz Schumacher als prägender Baumeister der Hansestadt jedem Grundschulkind bekannt ist, lief Gustav Oelsner lange unter dem Radar – eben weil er im damals noch preußischen Altona wirkte. Erst 1937 trat das Groß-Hamburg-Gesetz in Kraft, da hatten die Nazis sowohl Schumacher als auch Oelsner längst aus dem Amt gedrängt. Sie waren den Nazis zu modern, zu revolutionär, zu wenig teutonisch.

Der farbenprächtige Stein und die Sprossenfenster geben den Bauten an der Schützenstraße einen besonderen Reiz.
Der farbenprächtige Stein und die Sprossenfenster geben den Bauten an der Schützenstraße einen besonderen Reiz. © HA | Michael Rauhe

Es ist eine Ironie der Zeitgeschichte, dass die enorm produktive Zeit des Städtebaus der 20er in die Jahre der Weltwirtschaftskrise fiel – und damit sich die Größen im Städtebau mit der Errichtung von Arbeitsämtern befassen mussten. Oelsners Werk an der Kieler Straße wirkt bis heute extrem modern. Der kubische Bau mit Flachdach erfindet die Arbeitsvermittlung neu: Die Beratung erfolgte nach Gewerken getrennt in 16 Einheiten mit eigenen Eingängen. „Damit die Arbeitslosen nicht im Regen stehen, plante Gustav Oelsner Arkaden“, sagt Peter Michelis­. Auch gegenüber, beim Wohnungsbau an der Memellandallee, ist der sozialreformerische Ansatz Oelsners unübersehbar. An die Blockrandbebauung mit den Mietwohnungen schließt sich an der Ecke ein Gemeinschaftsraum an, den die Mieter für Feiern nutzen konnten.

Sozialreformerische Ideen

Besonders schwärmt der Architekturexperte und Autor Peter Michelis von den Wohnbauten an der Helmholtzstraße aus dem Jahr 1926. Wenn er die Fassaden erklärt oder die sozialreformerischen Ideen erläutert, gerät er fast ins Schwärmen. „Die Grundrisse sind ex­trem durchdacht. Alle Räume lassen sich quer lüften“, sagt Michelis. Oelsner hatte die Küche als Wohnküche konzipiert, in der auch ein Esstisch Platz findet. „Damit hat er sich bewusst von der damals aufkommenden Frankfurter Küche, einer modernen Einbauküche, abgesetzt“, sagt Michelis. „Weil seine Wohnungen für wenig vermögende Arbeiter gedacht waren, hat er gleich Wandschränke mit eingebaut. Schränke konnte sich niemand leisten.“

Eine besondere Note bekommen die revolutionären Zeilenbauten, die damals an die Stelle der typischen Blockbebauung traten, durch ihren besonderen Klinker. Der Backstein war in den 20er-Jahren extrem modern und beliebt, trotzdem unterscheiden sich manche Fassaden Oelsners grundlegend von denen seiner Zeitgenossen: Er wählte einen hellen, ockergelben Klinker, dessen Grundfarbe durch elfenbeinfarbene, rote, blaue, bis ins Violette changierende Steine aufgelockert wird.

„Oelsners künstlerischer Beitrag bestand darin, die Stilelemente des ,Neuen Bauens‘ in Klinker zu übersetzen und mit deren Farbigkeit dem Material eine neue Leichtigkeit zu geben“, sagt Michelis. Durch wechselnde Anordnung der Steine schafft er Brüstungsbänder. Geschwärzte Fehlbrandsteine schauen aus der Fassade heraus und „werfen wie Sonnenuhren Schatten“, sagt Michelis. Sie strukturieren die Fassade und wandern im Tagesverlauf wie ein Zeiger. „Schauen Sie sich diese Fassade an – das ist Expressionismus!“

Kleine Loggien oder Balkone

Die Wohnungen haben kleine Loggien oder Balkone, „damit die heiße Asche risikolos abkühlen konnte“. Licht, Luft, Liebe. Zwischen den Häuserzeilen gibt es großzügige Freiräume für die Bewohner, Kinderspielplätze, an den Ecken Ladenflächen für Nahversorger. „Das sind eben keine Häuserschluchten. Ich frage mich, warum man diese Bauweise heute nicht 1:1 übernimmt“, so Michelis. Unter dem Flachdach plante Oelsner im 5. Stockwerk ein eigenes Bodengeschoss, etwa um Wäsche aufzuhängen.

Der Hochschullehrer Peter Michelis zeigt auf einem Stadtrundgang (hier an der Helmholtzstraße) Gustav Oelsners Werke.
Der Hochschullehrer Peter Michelis zeigt auf einem Stadtrundgang (hier an der Helmholtzstraße) Gustav Oelsners Werke. © HA | Michael Rauhe

Diese Flachdächer waren den Nazis ein Dorn im Auge – nach der Machtergreifung bekamen Oelsners Bauten ein arisches Satteldach. Es ist eine bittere Ironie des Schicksals, dass mit den Nazis Gustav Oelsners Karriere ein zweites Mal aus politischen Gründen endete. 1911 war der damals 32-Jährige Stadtbaurat in Kattowitz geworden – und verlor seinen Job, als die Pariser Botschafterkonferenz Oberschlesien 1922 Polen zusprach. Eine neue Stelle fand der gebürtige Posener schließlich 1923 in Altona: Im Auftrag des preußischen Volkswohlfahrtministeriums sollte er einen „Generalbebauungsplan für die preußischen Städte und deren Umland rings um Hamburg“ erstellen. Er machte sich mit Verve an die Arbeit, ein Jahr später stieg der parteilose Oelsner zum Bausenator unter dem sozialdemokratischen Bürgermeister Max Brauer auf.

Die beiden verband eine städtebaulichen Idee und bald eine Freundschaft. Gemeinsam prägten sie den Westen der Stadt. Als die Besitzer der sieben Elbparks nach der Inflation ihre Grundstücke parzellieren und verkaufen wollten, griff Altona ein, erwarb die Grundstücke und legte dort den Elbwanderweg an. Damit wolle Oelsner dem Vorbild des Philosophenwegs in Heidelberg oder der Brühlschen Terrasse in Dresden nacheifern. Altona setzte Maßstäbe, denen Hamburg an der Außenalster erst nach dem Krieg folgte.

Max Brauer holte ihn zurück

1933 drängten die Nazis Oelsner aus dem Amt des Stadtbaurats. „Ich soll ein Kulturbolschewist sein? Wo ich immer meinen Goethe in der Tasche habe!“, soll er sich damals empört haben. 1939 floh der Sohn deutscher Juden, der als junger Mann Protestant geworden war, in die Türkei, damals ein faszinierendes Ziel für moderne Städtebauer. Oelsner wurde Berater des Ministeriums für öffentliche Arbeiten und Professor an der Technischen Hochschule zu Ankara.

Max Brauer war es, der Oelsner im Februar 1949 aus seinem türkischen Exil zurück an die Elbe holte. Das Abendblatt gewährte dem „kleinen, zierlichen, sorgfältig gekleideten Mann mit weißem Spitzbart“ daraufhin das Porträt des Tages: „Heimweh hat ihn an die Elbe zurückgetrieben, und ein neues Amt: das des Leiters der Hamburgischen Wiederaufbauplanung.“

Besonders eindrucksvoll ist Oelsners Werk zwischen Ohmstraße, Bunsenstraße und Helmholtzstraße.
Besonders eindrucksvoll ist Oelsners Werk zwischen Ohmstraße, Bunsenstraße und Helmholtzstraße. © HA | Michael Rauhe

Doch Oelsner stand und blieb stets im Schatten von Fritz Schumacher, der nach dem Krieg nicht wieder tätig wurde und 1947 starb. Seinen Freund Schumacher stellte er gern in den Mittelpunkt: „Es war beglückend für mich, dass ich bei ihm die herzlichste Bereitschaft fand, zusammenzuarbeiten“, sagte Oelsner bescheiden über diese Freundschaft. Seine Bescheidenheit zeigte sich auch darin, dass der Altonaer Baumeister nie ein Buch schrieb und nur wenig Schriftliches hinterließ. Die Zeitungsnotizen der Nachkriegsjahre sind überschaubar. Als Oelsner „seiner stillen Art gemäß ein verschwiegenes Jubiläum“ beging, war es dem Abendblatt nur ein paar Zeilen wert: „Er ist fünfzig Jahre Städtebauer. Um die Jahrhundertwende also stand er zum ersten Male am Reißbrett eines Stadtbauamtes, mit allem Idealismus, aller sozialen Begeisterung, aller Freude am Gestalten von Siedlungsräumen.“

Oelsner wirkte aus der Zeit gefallen

Oelsner stellte sein Licht lieber unter den Scheffel: „Mit zwölf Schumachern könnten wir das heutige Deutschland kurieren“, sagte er einmal. Möglicherweise schwingt da schon Kritik an den Technokraten mit, die im Städtebau der jungen Bundesrepublik bald das Sagen übernahmen. 1952 zog sich Oelsner aus seinem Amt zurück. „Endgültig. Still und ein wenig müde.“ Auch Michelis rätselt, warum der weitsichtige Stadtplaner die Irrungen und Wirrungen dieser Zeit kaum zu stoppen vermochte. „Wahrscheinlich war er nicht mehr stark genug.“ Statt Viertel von menschlichem Maß wie in Ottensen entstanden brachiale Großprojekte wie Neu-Altona.

Oelsner wirkte aus der Zeit gefallen – und fiel aus der Zeit. Zwischen 1960 und 1978 findet sich kein einziger Eintrag mehr im Abendblatt-Archiv, erst 1983 ehrt ihn eine Ausstellung der Freien Akademie der Künste, die Oelsner einst selbst mitbegründet hatte, unter dem Titel: „Ein großer Baumeister Hamburgs“. Damals stand in dieser Zeitung: „Moderne, klare und funktionale Gebäude wie das Haus der Jugend neben dem Altonaer Museum, der mit seinem halbrunden Abschluss auffällige Wohnblock Bahrenfelder Steindamm oder die Siedlung Steenkamp beeindrucken auch heute noch und prägen sich dem Gedächtnis ein. Der Name ihres Schöpfers dagegen ist kaum präsent.“

Isolierfenster haben manchen Bau verschandelt

Möglicherweise hat diese Ignoranz dazu beigetragen, dass Bauten Oelsners wie das Schwimmstadion im Volkspark, der Kaischuppen in Neumühlen 1989 oder sein Altenpflegeheim am Holstenkamp 2006 oder die Viehmarkthalle an der Harkortstraße trotz Denkmalschutzes nonchalant abgerissen wurden. Aber seine Wohnungsbauten sind erhalten geblieben, auch wenn manche Denkmäler seiner Baukunst vor einigen Jahren hinter Wärmeverbundsystemen verschwanden – oft waren es nur die Gartenseiten, die mit ihrer weißen Verkleidung entstellt wurden, während die Straßenseiten restauriert wurden. An der Langenfelder Straße oder der Koldingstraße verbirgt hingegen seit 2005 eine Thermohaut den alten Backstein. Zudem verhunzten mancherorts Isolierfenster überall das Äußere, die aus Energiespargründen die alten hölzerne Sprossenfenster verdrängten. Die schönen Schwäne verwandelten sich in hässliche Entlein.

Gustav Oelsner, Architekt, Stadtplaner, Baubeamte.
Gustav Oelsner, Architekt, Stadtplaner, Baubeamte. © Stadtteilarchiv Ottensen

Verdrängen und vergessen gehen oft Hand in Hand. Michelis selbst entdeckte Oelsners Werk als ehemaliges Vorstandsmitglied der Fritz-Schumacher-Gesellschaft – und ging alsbald fremd. Aus einem Forschungsprojekt im Fachbereich Architektur der damaligen HAW – heute HafenCity Universität – gingen 2004 und 2006 Ausstellungen im „Mercado“ und im „Rathaus Altona“ hervor, die Oelsners Verdienste einer breiten Bevölkerung verdeutlichten. 2005 gründete sich die Gustav-Oelsner-Gesellschaft. Sie will im Mai 2019 mit mehreren Veranstaltungen im Rahmen des Architektursommers und des Jubiläums „100 Jahre Bauhaus“ an den Baumeister erinnern. So soll an der Schützenstraße mit der Saga eine Wohnung in den Zustand der 20er-Jahre zurückversetzt und geöffnet werden. Damit wäre ein weiterer Beweis erbracht, wie aktuell und zeitgemäß Gustav Oelsner auch noch 63 Jahre nach seinem Tode ist.