Hamburg. Auf Hamburgs Straßen geht’s immer rauer zu. Das soll sich ändern. Stadt startet Kampagne, die Hamburger sollen mitmachen.

Als lauer Gesprächsstoff für ein Kaffeekränzchen taugt der Hamburger Verkehr nicht. Kaum ein anderes Thema bringt die Hanseaten mehr in Wallung. In einer vom Abendblatt in Auftrag gegebenen aktuellen Forsa-Umfrage bezeichnen neun von zehn Interviewten die Verkehrsprobleme als das „größte Problem“ der Stadt. Am unerbittlichsten gehen sie mit der „allgemeinen Verkehrslage“ ins Gericht, mit einigem Abstand folgen der Zustand der Straßen und die ebenso nervtötenden wie notwendigen (Groß-)Baustellen. Und dann der Stau.

Nach einer Studie der Firma Inrix standen die Hamburger im Vorjahr 140 Stunden im Stau. Damit belegt die Hansestadt Platz drei unter den zehn bundesweit am stärksten verstopften Städten. Doch der Stillstand auf der Straße fällt gar nicht mal so schwer ins Gewicht – der trifft die Münchner und die Berliner noch härter als die Hamburger.

Es ist die Vielzahl an Problemfeldern, das Reizklima im Verkehr.

Auf den Hamburger Straßen ist der Lack der Zivilisation dünn

Hier der Hader um zu wenig Parkplätze, da der Zank um neue Tempo-30-Zonen, hier der Streit um Radfahrstreifen, da zweifelhafte Aktionen gegen Falschparker. Radfahrer, die auf der falschen Seite fahren oder im Pulk die Straße blockieren, Fußgänger, die beim Starren aufs Handy mehr torkeln als laufen und sich gewohnheitsmäßig nicht um rote Ampeln scheren. Autofahrer, die viel zu schnell viel zu dicht an Radfahrern vorbeirasen, die beim Abbiegen nicht aufpassen (Unfallursache Nummer eins) oder ihre Autos an den Einmündungen so platzieren, dass man garantiert nicht auf die andere Seite gelangt.

Hier die braven Normtreuen, die alle Regeln einhalten, da jene, die sie nonchalant brechen. Auf der Straße ist der Lack der Zivilisation zuweilen dünn und die Lunte erschreckend kurz. Nur lösen Wut und Abschottung keine Probleme – sie schaffen nur neue. Was also tun, um die Gesellschaft auch auf der Straße zusammenzuhalten?

„Hamburg gibt Acht!“ soll Lösungen für die Dauerkonflikte finden

Mit der Kampagne „Hamburg gibt Acht!“, initiiert vom Landesbetrieb Verkehr (LBV) und der Verkehrsbehörde, versucht die Stadt jetzt, das raue Klima auf der Straße zu thematisieren und Lösungen für den Dauerkonflikt zu finden. Nur im Zusammenspiel aller, so das Credo, lasse sich auch mehr Sicherheit für alle herstellen, bringt es Radkoordinatorin Kirsten Pfaue (Verkehrsbehörde) auf den Punkt.

Ulrich Wickert macht bei
Ulrich Wickert macht bei "Hamburg gibt Acht!" mit © gürtlerbachmann GmbH

Die Aktion, am Montag mit Unterstützung von Hamburger Promis gestartet, wendet sich an Bürger, die stressfrei und unbeschadet durch ihre Stadt kommen wollen, an Autofahrer, Fußgänger und Radfahrer gleichermaßen. Sie sind aufgerufen, bis 24. März Vorschläge einzureichen, wie aus dem Gegen- ein Miteinander werden kann.

Slogan-Vorschläge für „Hamburg gibt Acht!“ online abgeben

Die Vorschläge im Slogan-Format mit einer Maximallänge von 140 Zeichen können online abgegeben werden – oder auf Postkarten, die in den Bezirksämtern ausliegen. Wer sich beteiligt, nimmt zudem an einer Verlosung teil. Aus den Slogans werden die Top 100 herausgefiltert, eine Jury kürt nach sechs Wochen die 20 besten, über die dann alle Hamburger online abstimmen können.

Als Destillat des Bürgerwillens sollen am Ende acht „goldene Regeln“ für mehr Harmonie und Sicherheit und gegen das miese Karma auf der Straße übrig bleiben. Im September werden diese Regeln auf Plakaten überall im Stadtgebiet zu sehen sein. „Die Hamburger werden sich ihre Regeln selbst setzen“, sagt Radkoordinatorin Pfaue. Ob das funktioniert?

Hamburger sind unzufrieden mit der Mobilität in der Stadt

Vor gut einem Jahr hat der ADAC auf Basis etlicher Indizes in den Kategorien Pkw, Fahrrad, Fußgänger und ÖPNV mehr als 9000 Menschen in den 15 größten deutschen Städten zur Zufriedenheit mit der Mobilität in ihrer Stadt befragt. Fazit: Hamburg kommt in der Gesamtwertung auf einen schlechten elften Platz.

Am unzufriedensten sind in der Hansestadt die Autofahrer. Sie bemängeln vor allem die häufigen Standzeiten im Stau. Auch beim zweitwichtigsten Prüfpunkt, der Straßeninfrastruktur, schneidet Hamburg schlecht ab. In Sachen Radwegenetz und Direktheit der Wege gibt es von den Befragten zwar annähernd durchschnittliche Beurteilungen. Doch in den Punkten Radwegezustand und Radwegebreite landet Hamburg wiederum auf dem letzten Platz.

Nur beim Nahverkehr schneidet Hamburg gut ab

Gefragt nach dem Verhalten der Radfahrer und der Autofahrer hagelt es ebenfalls miese Bewertungen – hier rangiert Hamburg auf dem vorletzten Platz (vor Berlin). Noch schlechter urteilen die Befragten über das Verhalten der Hamburger Fußgänger – Platz 15. Letzter. In fast allen Kategorien, mal abgesehen vom öffentlichen Nahverkehr und der Zufriedenheit mit der „Direktheit der Wege“, belegt die Hansestadt einen der hinteren Plätze.

Parken? Ein Desaster. Den Hamburgern stößt vor allem der Mangel an Parkraum und die Höhe der Parkgebühren auf. Ganz gerecht bilden derartige wie mit einem Blitzlicht eingefangenen Befindlichkeiten den wahren Zustand indes kaum ab. Die Hauptverkehrsstraßen etwa befinden sich inzwischen zu 45 Prozent in einem guten Zustand, die Radwege werden sukzessive ausgebaut. Jedoch hinkt der Senat, der den Radverkehrsanteil mittelfristig von aktuell 15 auf 25 Prozent steigern möchte, ausgerechnet in diesem Bereich den eigenen Zielen deutlich hinterher. So werden die 14 Velorouten nicht wie geplant 2020 fertig.

Ein Sammelsurium stressiger Alltagssituationen

Für die Gewissheit, dass in Hamburg einiges im Argen liegt, braucht es nicht mal eine Studie. Jeder, der mit offenen Augen in der Stadt unterwegs ist, erlebt das Hamburger Verkehrsdilemma als Panoptikum gefährlicher, viel häufiger aber stressiger Alltagssituationen: etwa dann, wenn man dem zehnten Fußgänger ausweichen muss, der wie in Trance auf sein Handy starrt. Oder wenn ein Radler auf der falschen Seite auch noch die Chuzpe hat, einen hektisch klingelnd vom Gehweg scheuchen zu wollen.

Der Verkehrsforscher Michael Schreckenberg spricht von einem „Verfall der Sitten“, während sich der Verkehrsraum zunehmend verdichtet. In einer älteren, europaweiten Studie (European Drivers and Road Risk) gaben 64 Prozent der befragten deutschen Autofahrer an, in den vergangenen zwölf Monaten aggressives Fahrverhalten anderer Verkehrsteilnehmer erfahren zu haben.

Unter welchen Umständen Autofahrer aggressiv reagieren? Sie übermannt die nackte Wut, wenn sie durch verkehrliche Umstände (wenig Platz, „unsinnige“ Tempobeschränkungen, etc.) gezwungen sind, langsamer zu fahren als sie eigentlich wollen, wenn der Vordermann trotz ausreichender Lücke nicht auf die rechte Spur ausweicht oder wenn von hinten ein Drängler naht. Alle Trigger zusammen könnten einen „Aufschaukelungsprozess aggressiven Fahrverhaltens“ in Gang setzen, warnt die Bundesanstalt für Straßenwesen.

Mehr Sicherheit auf Hamburgs Straßen

Bei „Hamburg gibt Acht“ geht es nicht nur darum, den beklagenswerten Zustand der Verkehrsmoral zu benennen, sondern in der Hauptsache um mehr Sicherheit für alle. Nachdem allein im Januar fünf Fußgänger bei (teils selbstverschuldeten) Unfällen ums Leben gekommen sind, trifft die Kampagne mit ihrem Plädoyer für mehr Achtsamkeit genau ins Schwarze. Zwar ist die Zahl der Verkehrsunfälle mit Personenschäden, bezogen auf einen Zeitraum von 20 Jahren, leicht rückläufig.

Allerdings verzeichnete die Polizei 2017 noch 531 Verunglückte je 100.000 Einwohner, Hamburg liegt damit auf Platz vier der Bundesländer mit den anteilig meisten Unfallopfern (Platz eins: Bremen). Die Zahl der Verkehrstoten schwankt Jahr für Jahr leicht, 2018 starben im Hamburger Verkehr 29 Menschen (2017: 28), darunter 14 Fußgänger. Zudem gibt es im Vergleich zum Stand von vor zehn Jahren deutlich mehr Blechschäden. Allerdings wächst auch die Zahl der Einwohner und die der zugelassenen Pkw. So zählte das Statistikamt Nord 2017 fast 772.000 zugelassene Autos – 10.000 mehr als im Jahr davor und 60.000 mehr als 2009.

„Hamburg gibt Acht!“, ein Plädoyer für mehr Rücksicht

Repressiv unternimmt die Stadt schon viel. Sie hat ihr Arsenal an stationären Blitzern fast verdoppelt und den Bestand an mobilen Anlagen massiv aufgestockt, alle Blitzer lösten im Vorjahr fast 800.000-mal aus – so häufig wie nie zuvor. Die Polizei plant, sechs Blitzanhänger in Dienst zu stellen, die schwerpunktmäßig in Tempo-30-Zonen, vor Pflegeheimen und Schulen, die Geschwindigkeit überwachen sollen. Außerdem setzt sie auf Großkontrollen, um Verkehrsverstöße von Auto- und Radfahrern zu ahnden. 51 gab es 2018.

„Hamburg gibt Acht“ geht einen anderen Weg. Die präventive Aktion will die Verkehrsteilnehmer im Kopf und im Herzen ansprechen. Wo frühere Kampagnen allein darauf setzten, Unfallzahlen und Risiken konkret zu benennen, will sie Verständnis für den jeweils anderen und ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Sicherheit nur möglich ist, wenn alle die Regeln, auch die vermeintlich verzichtbaren, mit Rücksicht auf ihre Mitmenschen beherzigen, das heißt: Handy weg am Steuer, nicht noch schnell über Rot brettern, nicht zehn Kilometer schneller fahren als erlaubt. „Derartige Regelbrüche gehen in neun Fällen gut“, sagt LBV-Sprecher Thomas Adrian, „beim zehnten Mal läuft es schief.“ Aufeinander achtgeben, sich um den anderen sorgen, mehr Umsicht walten lassen – darum geht es.

Viele Prominente begleiten die Kampagne

In den kommenden Tagen wird die von der Werbeagentur gürtlerbachmann konzipierte Aktion mit Plakaten an 400 Stellflächen in der City vorgestellt. Bisher neun Prominente, darunter Ulrich Wickert, Olivia Jones und die Gebrüder Braun (Miniatur Wunderland), begleiten die Kampagne pro Bono und werben dafür auf ihren sozialen Medienkanälen. Außerdem prangt das Erkennungszeichen der Aktion, eine rote Acht, auf zehn Linienbussen. Weiter geplant sind „Guerilla-Maßnahmen“, Aktionen in Kindergärten und Schulen, eventuell auch eine Kooperation mit dem HSV und dem FC St. Pauli.

Im Mai legt die Werbeagentur Jung von Matt eine weitere Kampagne auf, in deren Fokus die positiven Effekte des Radverkehrs auf die Lebensqualität der Hamburger insgesamt steht. Beide Aktionen sollen phasenweise zusammenlaufen.

Kirsten Pfaue ist optimistisch, dass „Hamburg gibt Acht“ ein Erfolg wird. „Das Verkehrsklima muss sich verbessern. Und das wird es auch“, sagt sie. Vielleicht klingt das idealistisch und die Hoffnung, man könne den Bürgern mit acht Regeln auf je 140 Zeichen Toleranz und Regeltreue einbimsen, sogar etwas naiv. Einen Versuch wert ist es allemal.