Hamburg. Neuer Bildband mit 300 Aufnahmen aus einer spannenden Dekade. Motto: Lebensgefühl jenseits der Tagespolitik.
Orange war die beliebteste Farbe, die „Rudi Carrell Show“ versammelte Millionen von Zuschauern vor den Fernsehgeräten, der Schnellkochtopf kam auf den Markt und Ochsenschwanzsuppe und Nudelsalat galten als Delikatessen der Dekade. Doch auch gesellschaftspolitisch war viel los in den wirtschaftlich „fetten Jahren“ zwischen 1970 und 1979: Anti-Atomkraft-Demonstrationen, Friedensbewegung, der Kampf um Frauenrechte, Hippiekultur. Und später dann der Deutsche Herbst, geprägt vom Terror der RAF. „Es war ein unglaublich spannendes Jahrzehnt“, erinnert sich Gesche-Margarethe Cordes. „Die Republik war im Aufbruch.“ Und Hamburg eben auch.
Die Stimmung in ihrer Geburtsstadt hat Gesche Cordes – damals Mitte 20 und gerade zurück aus Berlin, wo sie an der renommierten Lette-Schule zur Fotografin ausgebildet worden war – mit ihrer Leica-Kamera in Bildern festgehalten. Morgens zog sie los, in den Hafen, zum Hauptbahnhof, in die Mönckebergstraße, zu Kundgebungen und zu Festivals. Sie knipste und entwickelte die Fotos später in ihrer kleinen Eppendorfer Altbauwohnung. Gerade ist ein Bildband mit 300 Aufnahmen von damals erschienen, etwa drei Jahre lang hat die heute 71-Jährige ausgewählt und kuratiert.
Niemand habe ein Foto verwehrt
„Mir sind dabei so viele schöne Geschichten wieder eingefallen“, sagt die Lokstedterin. „Die Menschen haben sich so gern fotografieren lassen. Sie haben sich gefreut, dass sich jemand für sie und ihr Leben interessierte.“ Damals, lange vor dem Selfie-Zeitalter, sei es noch etwas Besonderes gewesen, wenn jemand eine Kamera dabei gehabt habe. Niemand habe ein Foto verwehrt, auch nicht die Schauermänner im Hafen, die sie so oft auf dem Weg zur Arbeit begleitet habe. Aus dieser Serie stammt auch das Titelfoto des Bildbandes. „Der Blick des rechten Hafenarbeiters sagt doch alles“, sagt Gesche-Margarethe Cordes und lacht. „Er drückt aus: Mädchen, mach einfach, wie du meinst. Und genau das habe ich auch getan.“
Mit den Jahren, und daran habe sie damals natürlich keine Sekunde gedacht, habe das Foto an Bedeutung gewonnen. „Schauerleute gibt es heute nicht mehr, und dass aus dem Kaispeicher im Hintergrund einmal die Elbphilharmonie werden würde, das konnte damals nun niemand ahnen.“
Zusammenspiel der Generationen
Die Menschen ihrer Heimatstadt „ungestellt und in ihrer natürlichen Umgebung“ abzubilden, das sei ihr journalistischer Ansatz gewesen, sagt die freie Fotografin, deren Aufnahmen regelmäßig unter anderem in „Spiegel“, „Zeit“ und „Wirtschaftswoche“ gedruckt wurden. Beeindruckende Dokumente der Zeitgeschichte sind Cordes auf diese Weise gelungen – das gilt für das Foto von einer Demonstration gegen Mietwucher (manche Themen bleiben aktuell) vor dem Deutschlandhaus am Gänsemarkt, das es bald auch nicht mehr geben wird, ebenso wie für die Aufnahme von einer Gruppe Jugendlicher, die sich 1977 über die Eröffnung der ersten McDonald’s-Filiale in Eppendorf freut oder das Bild von Kindern, die am Wesselyring vor dem Bau der Oberpostdirektion in einem Autowrack spielen.
„Es ging mir immer darum, jenseits der Tagespolitik das Allgemeine und Politische in den Lebenswelten der Hamburger zu entdecken.“ Die schönsten Bilder seien immer jene, die sich ganz spontan ergeben hätten – wie jenes, mit dem der Bildband zu Ende geht: Auf dem Heiligengeistfeld fotografiert Gesche-Margarethe Cordes eine alte Frau, die Luftballons verkauft, als sich ein junger Mann einfach mit ins Bild lehnt. „Ich dachte im ersten Moment: Wieso macht der das jetzt? Im zweiten dachte ich dann: Kaum etwas drückt die Freiheit dieser Dekade und das Zusammenspiel der Generationen besser aus.“