Silke Urbanski erforscht und lehrt die Geschichte der Hansestadt – und erstellt ein digitales Geschichtsbuch der Stadt.

Geschichte sollte uns helfen, die Zukunft zu meistern – fordert die Historikerin und Lehrerin Dr. Silke Urbanski. Ein Gespräch über Vergangenheit, Jugend – und darüber, was die Geschichte der Hansestadt so spannend macht.

Was ist Ihr besonderer Geschichtsort in Hamburg?

Dr. Silke Urbanski: Ich mag das Museum für Hamburgische Geschichte sehr gern. Für mich ist das ein besonderes Schatzkästchen. Da gibt es Hunderte Dinge, die ganz viel über Hamburgs Geschichte erzählen: angefangen von Töpfen aus dem 15. Jahrhundert, über Schuhsohlen aus dem 14. Jahrhundert bis hin zu wunderschönen Modellen für die Konvoischiffe und nicht zuletzt dem Schulterblatt eines Wales. Eine Zeit lang fand ich es sehr düster. Wenn man die Treppe hinaufging, wurden Kanonen auf einen gerichtet. Das ist nun vorbei. Es steht eine große Umgestaltung an. Ich bin sehr gespannt, wie es wird. Museumsdirektor Hans-Jörg Czech hat große Pläne. Es soll sehr hell und modern werden, und darauf freue ich mich.

Sie sind nicht nur Historikerin, sondern auch Lehrerin. Sind Jugendliche heute für Geschichte zu begeistern?

Ja, die interessieren sich für Geschichte – wenn man es ihnen so nahebringt, dass es kein Auswendiglernen oder ein immer gleiches Interpretieren ist. Junge Leute wollen etwas tun. Ab 14 Jahren wollen sie etwas bewegen in der Welt oder in ihrer Stadt. Wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, Geschichte selbst zu erforschen – sei es mithilfe von Quellen, bei denen man ihnen sagt „schaut mal, da drinnen ist etwas versteckt“ oder auch, indem man sie in die Stadt schickt – dann sind sie detektivisch und dabei. Dann möchten sie wissen, wie das Leben der Menschen einmal war.

Die Historikerin Silke Urbansk
Die Historikerin Silke Urbansk © Klaus Bodig / HA

Bietet da die Stadtgeschichte nicht viel mehr Potenzial als die Weltgeschichte?

Auf jeden Fall! Das Interessante an Stadtgeschichte ist ja, dass die Jugendlichen bestimmte Straßen oder Stadtteile kennen, wie sie heute sind. Wenn man ihnen zeigt, dass es früher einmal ganz anders war und Menschen die Stadt verändert haben, dann wollen sie mehr wissen. Dieses Mitmachen finden sie spannend. Umbrüche, Revolutionen, Leute, die sich wehren, finden Jugendliche aufregend. Übrigens: „Grabe, wo du stehst“ lautet der Slogan der Landesarchäologie. Und das finden gerade junge Leute spannend: Da, wo ich jetzt lebe, war einmal etwas anderes … Wie sah das vor 70, 300 oder gar 500 Jahren hier aus?

Aber Geschichte, die im Unterricht vermittelt wird, ist doch nicht immer spannend?

Warum wird man Geschichtslehrer? Doch eigentlich, weil man Geschichte spannend findet! Und was ich wichtig finde, das sollte ich auch spannend vermitteln können.

Wie machen Sie das?

Ich gehe mit meinen Schülern auch mal auf die Straße – ja, Geschichtsunterricht kann auf der Straße stattfinden und erlebbar werden. Das sollte viel mehr gemacht werden.

Sehen junge Menschen in Geschichte etwas anderes als ältere?

Ja. Die Jugendlichen sind überzeugt, dass man aus Geschichte lernen kann. Wenn wir mit unseren 50plus zynisch mit Geschichte umgehen – dann können wir von Jugendlichen etwas lernen. Sie suchen in der Geschichte Handlungs­optionen für ihre Zukunft. Ein Beispiel: Nachdem er in einem Wettbewerb die Euthanasie an Behinderten im Nationalsozialismus erforscht hatte, kam ein Schüler auf die Idee, Konzerte auf Plätzen zu veranstalten, um ein Zeichen gegen rechts zu setzen. Er wollte nach den Aufmärschen in Chemnitz gleich in den Anfängen etwas dagegen tun, dass sich die fürchterliche Geschichte wiederholt.

Ist die Geschichte der Stadt ausreichend erforscht?

Ausreichend für was? Für spannenden Geschichtsunterricht – ja, aber wenn ich frage: Sind die Quellen richtig ausgeschöpft? Dann muss die Antwort immer Nein sein. Jede Zeit tritt mit neuen Fragen an die Quellen heran. Es gibt immer Fragen, die sich aus unserer Zeit ergeben. Als Frau heute stelle ich doch ganz andere Fragen an die Geschichte, als sie etwa ein Mann vor 50 Jahren gestellt hat. Waren die Hamburger Frauen im Mittelalter wirklich unterdrückt? Nein, waren sie nicht! Das stellt man fest, wenn man sich die Wirtschaftsquellen, die Verträge der Zeit noch einmal unter diesem Aspekt ansieht. Da tauchen Frauen als Vertragspartner auf. Die handelten mit ihrem Vermögen. Da gibt es auch das Beispiel einer Magd aus dem 14. Jahrhundert, die ein Testament aufgesetzt hat, um zu bestimmen, was aus ihren zwei Mänteln werden soll, wenn sie stirbt. Das ist gleich doppelt bemerkenswert. Erstens: Wie kommt eine Magd damals zu zwei Mänteln? Und zweitens: Sie war so gebildet, dass sie wusste: Wenn ich eine besondere Vorstellung davon habe, was aus meinem Hab und Gut werden soll, dann muss ich ein Testament machen.

2014 haben Sie das Projekt „Hamburg-Geschichtsbuch“ ins Leben gerufen – was verbirgt sich dahinter?

Wir haben mit dem „Hamburg-Geschichtsbuch“ angefangen Geschichte digital zu vermitteln – es soll gut lesbar und valide sein. Von richtigen Historikern, mit Quellen belegt – aber verständlich und spannend. 42 Historiker arbeiten ehrenamtlich mit. Wir haben die Stadtgeschichte ins Internet gestellt – denn das ist das Medium, der jungen Leute. Die Schulbehörde unterstützt das Projekt, in dem sie mich zu 20 Prozent freistellt. Ich Ieite das Projekt, bringe Leute zusammen und mache größtenteils das Schulmaterial daraus. Die Körber-Stiftung finanziert Technik und Bebilderung. Seit September 2017 ist es unter www.geschichtsbuch.hamburg.de lesbar – jeder Hamburger kann es frei nutzen. Sie können Geschichte chronologisch lesen, aber sich auch thematisch nähern – und etwa alles über Krisen, Macht oder Armut herausfiltern.

Wie interaktiv ist das Geschichtsbuch? Kann ich dort Fragen stellen oder mit der Geschichte spielen?

Ja, Sie können die Suchfunktion benutzen und auch Fragen zur Geschichte stellen – die landen bei mir. Entweder beantworte ich sie direkt oder leite sie an einen der Historiker weiter. Die antworten ebenfalls. Aber es gibt auch einige spielerische Elemente. Davon würden wir gern mehr integrieren – zehn Highlight-Spiele oder Videos. Aber das ist sehr, sehr teuer. Dafür suche ich noch einen Sponsor.

Gibt es noch weitere Ausbaupläne für das Geschichtsbuch?

Wir würden die Geschichte gern auch Menschen zugänglich machen, die Deutsch nicht so gut gelernt haben, und möchten das Geschichtsbuch auch professionell in sogenannte leichte Sprache übersetzen lassen. Das können nur auf Inklusion geschulte Experten. Auch das ist nur mit einem Sponsor möglich. Es wäre wirklich großartig, wenn Neuhamburger mit dem „Hamburg-Geschichtsbuch“ Deutsch lernen!

Sie haben nicht nur Fachbücher geschrieben, sondern auch historische Kriminalromane: Ist das auch Geschichtsvermittlung?

Ich nenne das eher Gelehrtenroman. Aber ja: Jeder Historiker ist ein Detektiv, will die Rätsel der Vergangenheit lösen. Aber für mich ist Geschichte auch das „darüber reden“. Und bei Regional­geschichte erzählen wir unsere eigene, die Geschichte unserer Familien neu. Geschichte soll die Menschen bewegen, aufregen und anregen. Geschichte ist dazu da, dass wir weiterdenken.

Hamburg ist stolz darauf, eine Bürgerstadt zu sein – ohne Fürsten oder Herzoge. Ist die Geschichte der Hamburger Bürger dadurch besser dokumentiert oder erforscht?

Ja, denn der Hamburg-Historiker ist ja kein Hofschreiber. Wir haben in Hamburg seit Mitte des 18. Jahrhunderts Generationen von Historikern, die die Geschichte unter den Paradigmen des bürgerlichen Lebens erforschen. Es gibt Geschichte des Handels, des Hafens, des Bieres – das ist alles gut erforscht.

Und wo gibt es noch Defizite?

Im 17. Jahrhundert gab es Bürgerkämpfe hier in der Stadt, bei denen die Mittelschichten versuchten, sich ein Mitspracherecht im Rat – so hieß damals der Senat – zu erkämpfen. Da wünsche ich mir noch mehr Literatur. Denn Hamburg war in diesem Freiheitskampf und der Reflektion der bürgerlichen Freiheit anderen Regionen teilweise um 100 Jahre voraus. Da sind spannende Texte und wegweisendes Gedankengut entstanden: Frei zu sein allein nützt nichts – ich muss auch die Möglichkeit haben, politisch mitwirken zu können. Das war in Hamburg sehr anders als in einer Residenzstadt.

Was werden spätere Historiker über uns einmal sagen?

Ich glaube spannend wird sein, wie Historiker später einmal über die Entstehung der Elbphilharmonie sprechen werden. Wird der schwierige Bau des Hauses, der so viel Geld gekostet hat, das Thema sein? – Oder wie sich die Hamburger ganz schnell in das Gebäude und die Musik verliebt haben? Aber ich denke, es wird auch ein Thema sein, wie wir seit dem Jahr 2015 dafür sorgen, dass unsere Stadt bunt, demokratisch und freundlich bleibt. Wie werden wir es geschafft haben, so typisch hanseatisch – offen – zu bleiben? Es zumindest meine Hoffnung, dass man darüber in 100 Jahren sprechen wird.