Hamburg. Das Veterinäramt ermittelt, der Betriebsrat beklagt unerträgliche Zustände – für die erste Vorsitzende ist aber alles in Ordnung.

Die E-Mail erscheint um 16.35 Uhr im Postfach. Betreff: „Ehrenamtliche Tätigkeit“. Das Tierheim, heißt es in den 13 Zeilen, werde „ab sofort auf ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten in allen Bereichen verzichten“. Für Ruth Hartwich ist die E-Mail ein Schock. Zehn Jahre hatte sie im Tierheim gearbeitet. Oft mehr als 40 Stunden pro Woche, ohne einen Cent dafür zu bekommen. Seit die Telekom-Ingenieurin wegen Krankheit in den vorzeitigen Ruhestand gegangen war, wollte sie ihre Zeit den Tieren widmen. Und so betreute sie die IT, kümmerte sich um Sorgentiere und zog die schwierigen Wildtiere auf. Fachliche Beschwerden gab es nie – doch plötzlich wurde ein Nachfolger fest angestellt. Hartwich sollte fortan aus dem Keller Bücher verkaufen. Als sie sich beschwerte, kam am 9. März 2018 die E-Mail.

Auch Ralf Hegmann verbrachte viel Zeit im Tierheim. Der ehrenamtliche Gassigeher hatte sogar einen eigenen Schlüssel, um selbst außerhalb der Öffnungszeiten mit den Hunden spazieren gehen zu können. Der Gastronom erhält seine E-Mail am 9. Juni 2016. Auch bei ihm verzichtete der Hamburger Tierschutzverein (HTV) ab sofort auf die ehrenamtliche Tätigkeit. Der Grund? Angesichts der Entwicklungen sehe der HTV „keine Basis mehr für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.“ Was war geschehen? „Ich habe Kritik am Vorstand geäußert“, sagt Hegmann. Das sei als Mitglied auch sein gutes Recht. Deshalb legte er Widerspruch ein. Erfolglos.

Wer Kritik äußert, ist raus

Der Vereinsvorstand verweigert die Auskunft darüber, wie viele Ehrenamtliche seit 2016 vor die Tür gewiesen wurden, und spricht vom „seltenen Einzelfall“. Fest steht: Ein Verein, der auf Spenden und jährlich rund 1,5 Millionen Euro Steuergelder angewiesen ist, verzichtet in mehreren Fällen auf die Hilfe engagierter Tierschützer – weil sie es gewagt hatten, Kritik zu äußern, glauben sie. Kritik an der ersten Vorsitzenden Sandra Gulla. Mittlerweile ist der Verein in Aufruhr – und auch die Behörden beschäftigen sich mit diversen Vorwürfen.

Einige fühlen sich bereits an die Zeiten von Wolfgang Poggendorf erinnert. Das Abendblatt hatte vor elf Jahren einen Skandal aufgedeckt. Der damalige erste Vorsitzende hatte sich sogar bereichert. Das Landgericht Hamburg verurteilte Poggendorf wegen Untreue und Unterschlagung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung. Der Verein nahm damals großen Schaden, verlor zahlreiche Mitglieder und Spendengelder.

„Gulla nutzt die chaotische Satzung des früheren Vorsitzenden aus, um über alles und alle zu bestimmen“, sagt Professorin Helga Milz, die seit fast 40 Jahren Mitglied im HTV ist und nach der Poggendorf-Ära acht Jahre im Vorstand tätig war. Milz, einst enge Freundin, hatte Gulla damals in den Vorstand des HTV geholt, da sie überzeugt war, der Verein könne Gulla „bändigen“. „Sie ist eine großartige Tierschützerin“, sagt Milz. Sie liebe Tiere. Bei Menschen sind sich viele nicht so sicher. Gulla selbst hat in der Mitgliederzeitschrift einmal geschrieben, sie halte es wie ihre Lieblingsdichterin: „Unter 100 Menschen liebe ich nur einen, unter 100 Hunden 99.“ Diverse Mitglieder berichten von regelmäßigen Tobsuchtsanfällen. Milz Erfahrung sei, dass Gulla „überaus geschickt und skrupellos“ vorgehe, „grenzwertig oder grenzüberschreitend“.

Der Eingang der Hamburger Tierschutzvereins (HTV) an der Süderstraße.
Der Eingang der Hamburger Tierschutzvereins (HTV) an der Süderstraße. © Sebastian Becht | Sebastian Becht

Auch zahlreiche hauptamtliche Mitarbeiter wurden entlassen oder haben gekündigt. „Grund ist eine Personalpolitik von Vorstand und Tierheimleitung, die geprägt ist von Ausbeutung, Unterdrückung und Bedrohung“, sagt der Betriebsrat. Es herrsche ein Klima des Misstrauens und der Angst, dem sich viele Mitarbeiter psychisch nicht mehr gewachsen sehen.

Mehr als 500 Hunde wurden aus Rumänien ins Tierheim geholt

Auch fachlich ist Gullas Vorgehen hoch umstritten. Das zeigt sich in besonderer Weise an ihrem Herzensprojekt. Seit April 2014 hat der Verein 576 Hunde aus Rumänien nach Hamburg holen lassen. Eine Praxis, die nicht nur innerhalb des Vereins für Kritik sorgte. Laut dem Deutschen Tierschutzbund hilft es nicht nachhaltig, die Straßenhunde nach Deutschland zu holen. „Stattdessen muss die Situation vor Ort verbessert werden“, sagt Sprecherin Lea Schmitz. Wer diese Position vertritt, wird vom Tierschutzverein hart angegangen. „Wir können nur spekulieren“, heißt es in einer Pressemitteilung, „ob dies (...) mit Rassismus zu tun hat?“ Der Satz bezieht sich auf „Maßnahmen der Amtsveterinäre“.

Deren Anweisungen habe sich das Tierheim mehrmals widersetzt, sagt Dr. Manuela Schneider (Name geändert). Schneider arbeitete viele Jahre als Tierärztin im HTV, liebte ihren Job, habe aber gekündigt, da sie die Zustände nicht mehr mittragen wollte. „Hygienevorschriften, die zum Schutz vor Ansteckungen gedacht sind, wurden einfach ignoriert“, sagt Schneider. Die Hunde aus Rumänien brächten viele ansteckende Krankheiten mit. Teilweise, wie bei den Hautwürmern, könnten diese auch auf Menschen übertragen werden. „Hunde mit für Menschen ansteckenden Krankheiten wurden entgegen dem Rat der Tierärzte in für Besucher zugängliche Zwinger gesetzt“, sagt Schneider. Der Verein streitet das ab.

Kein ausreichender Tollwut-Impfschutz

Als die Tierärzte immer wieder Lücken in den rumänischen Papieren entdeckten, so schildert es Schneider, haben sie diese nicht wie früher den Behörden melden dürfen. Stattdessen habe sich die Tierheimleitung nach Rücksprache mit Gulla darum gekümmert. „Die Pässe wurden zur Korrektur einfach wieder nach Rumänien geschickt“, sagt Schneider. In einem Fall habe das Veterinäramt gleichzeitig eine Kontrolle durchgeführt und festgestellt, dass bei mehreren Hunden kein ausreichender Tollwut-Impfschutz bestehe. Der Verein bestreitet auch dies. Das Veterinäramt bestätigt es und spricht außerdem von zwölf dokumentierten Fällen lückenhafter Papiere.

Schneider berichtet, dass Gulla wollte, dass die Hunde zusammen im Zwinger gehalten werden. „Sie organisierte die Gruppen immer selbst“, sagt die Tierärztin. Dabei sei es wöchentlich zu schweren Bissverletzungen gekommen. Auch Todesfälle habe es gegeben. „In einem Fall war der getötete Hund von den anderen bereits angefressen worden“, berichtet Schneider. Zudem seien in Hamburg verbotene Hunderassen wider besseres Wissen falsch eingetragen worden. Der Verein bestreitet auch dies. Beim Veterinäramt ist ein Fall amtlich bekannt.

Auch habe es gesetzeswidrige Anweisungen gegeben, alle Hunde, die das Tierheim verlassen, zu kastrieren, berichtet Schneider. Der Verein streitet diesen Vorwurf ebenfalls ab. In den „Bedingungen für die Übernahme eines Hundes“, die jeder Interessent auf der Homepage des Vereins einsehen kann, steht es allerdings deutlich: Alle Hunde sind nach dem Auswachsen oder Erreichen der Geschlechtsreife zu kastrieren. Ausnahmen dürfe es nur wegen attestierter medizinischer Gründe geben. Das Gesetz verbietet es dagegen, Hunde grundsätzlich zu kastrieren.

Expertenmeinungen werden ignoriert

Die Hunde aus Rumänien sollten wie alle anderen natürlich an Tierfreunde vermittelt werden. „Die Mitarbeiter wurden aber angewiesen, negative Eigenschaften zu verschweigen“, sagt Dr. Corinna Cornand. Auch hier widerspricht der Vorstand dieser Darstellung.

Die Tierärztin Cornand war selbst Beisitzerin im Vorstand des HTV, als Gulla 2016 erste Vorsitzende wurde. Ihr Amt hat sie – wie so viele andere – aufgegeben, um sich „von den Personalentscheidungen und dem Umgang mit Ehrenamtlichen zu distanzieren“. Lange habe sie geschwiegen, jetzt suche sie die Öffentlichkeit: „Ich fühle mich den Mitarbeitern und Tieren verpflichtet“, sagt Cornand. Außerdem hege sie die Befürchtung, dass Gulla auf eine „Zementierung ihrer Machtposition“ hinarbeite. „Sandra Gulla sieht den Verein offenbar zunehmend als ihr Eigentum an.“

So hart Gulla mit Kritikern umgeht, so wenig akzeptiert sie offenbar abweichende Meinungen – selbst von Experten. Diverse­ Mitarbeiter und Mitglieder berichten, dass Gulla sich ständig in die tierärztliche Behandlung einmische, Tierärzte und Fachpersonal herumkommandiere – die Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands sind offiziell Dienstvorgesetzte aller Tierheimangestellten. „Kritische Mitarbeiter erhalten unabhängig von der Qualität ihrer Arbeit die Kündigung“, sagt Cornand. Das schade dem Verein und koste viel Geld. Mehrere schriftliche Aussagen von Mitarbeitern und Vereinsmitgliedern, die diese Vorwürfe bestätigen, liegen dem Abendblatt vor.

Sie sieht sich als Tierrechtlerin

Seit 2016, dem Jahr, in dem Gulla erste Vorsitzende wurde, stand der HTV in bereits acht Fällen vor den Hamburger Arbeitsgerichten. In der Regel nicht als Gewinner. Derzeit versucht der Verein, in zweiter Instanz ein Betriebsratsmitglied zu kündigen – es sitzt seit Dezember 2017 bei vollen Bezügen zu Hause. Ein Verfahren, so heißt es in der Stellungnahme des Vorstands, „bei dem es um die außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitgliedes wegen erheblichen Arbeitszeitbetrugs geht“. Das Abendblatt war bei der Verhandlung dabei: Unter anderem wird dem Betriebsrat vorgeworfen, er habe eine Tierfutter-Spendenbox bei Selgros nicht geleert. Der Grund für den Verdacht: Drei Tage später sei sie voll gewesen.

Aktuell leitet Susanne David das Tierheim. Im Gegensatz zur Vorgängerin ist sie keine Tierärztin. Auch ausgebildete Tierpflegerin ist sie nicht. Sie gilt als große Unterstützerin von Sandra Gulla. David löste im Oktober 2017 die frühere Tierheimchefin Katharina Woytalewicz quasi über Nacht als „ständige Vertretung in An- und Abwesenheit“ ab. Woytalewicz, für den HTV seit 33 Jahren als Tierärztin und damals seit neun Jahren als Leiterin tätig, zog vor Gericht und wurde nach Abendblatt-Informationen freigestellt.

Gulla bezeichnet sich selbst als Tierrechtlerin. Während sich Tierschützer vor allem um eine bessere, artgerechtere Tierhaltung bemühen, fordern Tierrechtler darüber hinaus die „Gleichberechtigung aller Tiere mit Menschen“. Oder wie Gulla es formulierte: „Befreiung der Tiere von der menschlichen Gewaltherrschaft“. Im Mitgliedermagazin schreibt Gulla über ihr Credo im Tierschutz: „Wir streiten uns (…), doch das tun wir hinter verschlossenen Türen und unter uns, aber wenn wir rausgehen in die Welt, dann wissen wir: Der Feind ist woanders.“ Sie weigere sich „sehr nachhaltig“, mit Menschen zu arbeiten, „die mich öffentlich diskreditiert haben, die mich verleumdet und massiv hintergangen haben“. Und weiter: „Wir wollen stark sein für unseren Kampf für die Tiere, und wenn der eine oder andere aussteigt, weil er meint, es sei schon alles erreicht, dann werden andere dazukommen, die mit uns weitermarschieren. Wir wissen doch, wir sind auf einem Weg, der über uns und unser Leben hinausgeht.“

Eine Fanatikerin

Kampf. Marschieren. Über das Leben hinaus. Manche sehen diese Wortwahl als Zeichen für das Engagement einer überzeugten Tierschützerin. Andere sprechen von einer Fanatikerin, in deren Welt es nur Platz für Freund und Feind hat. Und nichts dazwischen. Eine Linie, gegen die es in den Vereinsorganen kaum Widerstand gibt. Der HTV hat einen geschäftsführenden Vorstand, der aus erstem und zweitem Vorsitzenden sowie einem Schatzmeister besteht. Dann gibt es da noch die Beisitzer, denen laut Satzung gemeinsam mit dem Vorstand die Führung des Vereins obliegt.

Doch die Beisitzer wurden durch eine vom Vorstand erlassene und dem Abendblatt vorliegende Geschäftsordnung faktisch entmachtet. Vier Beisitzerinnen wurden im April 2016 gemeinsam mit Gulla in den Vorstand gewählt. Nur wenige Wochen später trat die erste zurück, etwas später die zweite. Im Mai 2018 folgten die beiden verbliebenen. In einem Schreiben, das dem Abendblatt vorliegt, begründen sie ihren Rücktritt damit, dass sie sich von den Personalentscheidungen des Vorstands deutlich distanzieren wollen. Nach ihrer Einschätzung „befördert die aktuelle Personalstrategie eine bedrückende Ar- beitsatmosphäre und Denunziantentum.“

Tierarzt Neitzel spricht von einer „veganen Kampftruppe“

Wer weiter in die Vergangenheit zurückblickt, kann ein Muster erkennen. Auch in Gullas erster Amtszeit von 2012 bis 2016, damals noch als zweite Vorsitzende, hatte der Vorstand vier Beisitzer. Als erster trat Edgar Kiesel im April 2013 zurück. Ihretwegen, wie er betont. Nächste war die Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht, Gabriele Waniorek-Goerke, die nach der Poggendorf-Affäre für acht Jahre erste Vorsitzende des HTV war. In einem Schreiben an den Vorstand, das dem Abendblatt vorliegt, schrieb Waniorek-Goerke im Oktober 2014, dass sie ihr Amt als beisitzendes Mitglied niederlegt. Die Richterin begründet das durch die „konfrontative und ausgrenzende Ausrichtung der Vereinspolitik“. Eine echte Mitwirkung werde den beisitzenden Mitgliedern sogar bei Grundsatzfragen vorenthalten. „Das Vorstandsamt ist für die Beisitzer zur inhaltsleeren Farce degradiert“, urteilt die Richterin.

Die zwei übrig gebliebenen Beisitzer sind zwar nicht zurückgetreten, haben sich aber aus der Vorstandsarbeit zurückgezogen und bei der nächsten Wahl nicht wieder aufstellen lassen. Wegen der „rigiden Personalpolitik, die das Betriebsklima zerstört“. Einer davon ist Hansjürgen Neitzel, der auch 30 Jahre als Tierarzt für den HTV tätig war.

„Gulla ist eine sehr starke Persönlichkeit, die alle absägt, die ihr nicht passen“, sagt Neitzel. Sie verstehe es meisterhaft, Menschen zum Aufgeben zu bringen, und habe zahlreiche langjährig und verdiente Mitarbeiter aus dem Betrieb entfernt. Das sei möglich, da die rund 5200 Mitglieder zwar ihre Beiträge zahlen, sich ansonsten aber kaum für die Vorgänge im Verein interessierten. „Zu den Mitgliederversammlungen kommen kaum Leute“, sagt Neitzel. Und von denen, die kommen, seien viele auf Gullas Linie. „Tierschutz-Fundamentalisten, die Kritiker niederbrüllen – eine Art vegane Kampftruppe“, sagt Neitzel. Für sie seien Menschen, die sich nicht vegan ernähren, keine Tierschützer.

Wer ein Eibrot ist, wird beschimpft

Und dann erzählt er von seinem Kampf um ein Eibrot. Früher gab es bei Vorstandssitzungen Wurst- und Käsebrote. „Innerhalb kürzester Zeit und rabiat hat Gulla einen strikten Veganismus durchgesetzt“, sagt Neitzel. Als er nicht auf sein Brot mit Ei verzichten wollte, sei er beschimpft worden.

Nach dem Hinweis auf die eigenen Biohühner in seinem Garten durfte er es dann doch noch essen. Mittlerweile ist man weniger tolerant. Im Café des Tierheims bekommen nicht mal mehr Besucher Kuhmilch für ihren Kaffee. Schwarze Zeiten für das Tierheim.