Hamburg. Die zweite Korruptionsanklage kommt für die SPD zur Unzeit. Die Opposition nimmt Bürgermeister Tschentscher ins Visier.
Es ist in diesen digitalen Zeiten ja sehr in Mode, schnell und hart zu urteilen und Menschen öffentlich zu richten. Zugleich haben Politiker wie Trump und gezielte Desinformationskampagnen das bisher allgemeingültige Wertesystem demoliert. Die Frage, was wahr und was unwahr, was gut und was schlecht ist, scheint bisweilen nicht mehr leicht zu beantworten. Dabei ist für ein zivilisiertes Zusammenleben kaum etwas wichtiger als gemeinsame Werte. Schon der alttestamentarische Prophet Micha bläute den Seinen ein: „Es ist Dir gesagt Mensch, was gut ist!“ Mithin: Redet euch nicht raus, Leute!
Wie schwierig es bisweilen ist, richtig und falsch zu unterscheiden, zeigt die Affäre um die Frei- und Vorzugskarten für das Konzert der Rolling Stones 2017 im Stadtpark, die in dieser Woche einen neuen Höhepunkt erreichte. Am Mittwoch hat die Staatsanwaltschaft die zweite Korruptionsanklage erhoben: gegen die bisherige Leiterin des Bezirksamtes Nord, Yvonne Nische – wegen Vorteilsannahme und Verleitung von Untergebenen zu einer Straftat. Sie soll zwei Tribünenfreikarten im Wert von 336,80 Euro angenommen und Freikarten an acht Untergebene weitergegeben haben. Die als kompetent und integer geltende Sozialdemokratin war zuvor zurückgetreten. Schon im Herbst wurde Finanzstaatsrätin Elke Badde (SPD) angeklagt und in den Ruhestand versetzt.
100 Gratiskarten-Bezieher kamen kostenlos ins Konzert
Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen 26 städtische Bedienstete und Mitarbeiter des Konzertveranstalters. Die „Zeit“ schreibt vom „größten politischen Skandal in Hamburg seit Jahren“. Tatsächlich lesen sich die Vorwürfe wie eine Liste der Korruptionsparagrafen: Bestechlichkeit und Bestechung, Vorteilsannahme und Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat.
Wegen Bestechlichkeit wird etwa gegen den früheren Bezirksamtsleiter Harald Rösler (SPD) ermittelt. Er soll im Zuge der Genehmigung des Konzerts für rund 80.000 Besucher auf der Stadtparkwiese vom Veranstalter 100 Gratis- und 300 Vorzugskaufkarten bekommen haben. Die habe er „nach eigenem Ermessen verteilt“, so die Staatsanwaltschaft. So kamen Mitarbeiter und politische Mitstreiter Röslers in den Genuss von Konzertkarten, die regulär für 85 bis 500 Euro verkauft wurden. Die Vorzugskarten mussten bezahlt werden, hatten aber zwei Vorteile: Die Bezieher sparten Gebühren und hatten das Glück, überhaupt noch ein oder zwei der schnell ausverkauften Karten zu bekommen.
Die 100 Gratiskarten-Bezieher kamen kostenlos ins Konzert – darunter viele Bezirksabgeordnete, auch der SPD-Fraktionschef der Bezirksversammlung Nord, Thomas Domres, der seine Frau Anja mitnahm, die Verfassungsschutzvizechefin und heutige SPD-Chefin in Nord. Während viele Mitglieder anderer Parteien die Karten abgelehnt haben sollen, hatten Sozialdemokraten offenbar weniger Gewissensbisse. Auch die Staatsräte Andreas Rieckhof (SPD) und Matthias Kock nahmen offenbar Vorzugskarten an – gegen sie wird ermittelt. Ins Visier der Staatsanwaltschaft gerieten auch Chefs städtischer Firmen. Das Bezirksamt weigert sich bisher, eine Liste der Kartenbezieher zu veröffentlichen.
Hat der Bezirk das Konzert nur im Tausch gegen Karten genehmigt?
Lange haben Genossen ventiliert, das Ganze sei eine banale Angelegenheit, die von einer „überambitionierten Staatsanwältin kurz vor der Pensionierung“ aus Geltungsbewusstsein hochgerockt werde. Was bitte, hieß es da, sei daran verwerflich, dass Mitarbeiter, die monatelang dafür gearbeitet haben, dass ein solches Konzert stattfinden könne, dann auch mit einem Ticket belohnt würden? Wer sich darüber aufrege, müsse schon sehr piefig sein. Sogar die Grünen wähnte mancher Genosse hinter den Ermittlungen – schließlich sei die Staatsanwaltschaft formal weisungsgebunden. Und der Justizsenator heißt Till Steffen und ist ein Grüner.
Wer sich allerdings in Erinnerung ruft, dass ein Mitarbeiter der Stadtreinigung Geschenke nur bis zu einem Wert von zwei Euro annehmen darf, könnte das anders sehen. Immerhin geht es um Tickets zu Preisen von jeweils mehr als 150 Euro – und um die Frage, ob der Bezirk das Konzert nur im Tausch gegen Karten für Tausende Euro genehmigte.
Neue Anklagen kommen für die SPD zur Unzeit
Fälle wie dieser zerstörten das Vertrauen in den Staat, sagt Helena Peltonen, Vorstandsmitglied der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International (TI). „Einzelne Personen haben geglaubt, sie könnten sich und anderen Vorteile verschaffen“, so Peltonen. „Vielleicht war es gut gemeint, Mitarbeitern Gratis- oder Vorzugskarten zu verschaffen. Aber es gibt Spielregeln. Wenn sich Behörden und Politik an diese nicht halten, dann machen andere das nach.“ Es gebe Korruption im Großen, im Kleinen und in allen Nuancen dazwischen, so Peltonen. „Das Bewusstsein dafür ist noch immer nicht groß genug.“ Das werde auch der „Korruptionswahrnehmungsindex“ zeigen, den TI am Dienstag präsentiere. Hamburg habe noch „Hausaufgaben zu erledigen“.
Auch Linken-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus hält die Ermittlungen für richtig: „Bei Verdacht von Selbstbedienungsmentalität bei politisch Verantwortlichen muss gehandelt werden, zumal die sogenannten kleinen Leute schon bei nichtigen Verstößen mit harten Sanktionen zu rechnen haben.“
Obwohl wohl auch einige Mitglieder anderer Parteien Karten annahmen, kommt die neue Anklage vor allem für die SPD zur Unzeit – aus zwei Gründen. Zum einen sind die Hauptverantwortlichen Genossen. Das könnte die SPD vor den Bezirksversammlungswahlen weiter Vertrauen kosten – und das gefürchtete Thema „roter Filz“ neu beleben. Und zum zweiten spielt die Affäre in gefährlicher Nähe zu SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher. Denn der war während der betreffenden Zeit Finanzsenator – und damit für die Aufsicht über die Bezirke zuständig. Seiner damaligen Staatsrätin Elke Badde wird vorgeworfen, eine Genehmigung der Kartenverteilung für den Bezirksamtsleiter unterschrieben und rückdatiert und überdies selbst Vorzugskarten bei ihrem Genossen bestellt zu haben.
Justiz entscheidet nur, was Recht ist – nicht, was richtig ist
Tschentscher bestreitet, früh über die Vorgänge rund um das Konzert informiert gewesen zu sein. Er habe nicht von den Freikarten oder der Aktion seiner Staatsrätin gewusst, auch sei er nicht an Gesprächen über die Freigabe des Stadtparks beteiligt gewesen. Dass die Planung eines der größten Rockkonzerte weitgehend an ihm vorbeigelaufen sein soll, nimmt ihm die Opposition nicht ab. Denn Tschentscher war nicht nur Finanzsenator, sondern auch Chef der SPD in Nord – dürfte also ein enges Verhältnis zu den handelnden Genossen gepflegt haben.
„Es ist verwunderlich, dass die Ungereimtheiten rund um das Konzert bisher nicht mit Peter Tschentscher in Verbindung gebracht werden“, sagt FDP-Fraktionschef Michael Kruse. „Als damaliger Finanzsenator trägt er die politische Verantwortung für das Handeln seiner Mitarbeiter. Als langjähriger Kreisvorsitzender der SPD in Nord ist er in die wichtigsten Entscheidungen eng eingebunden. Das Durcheinander im Bezirk liegt im doppelten Sinne in der Verantwortung des Bürgermeisters.“
CDU-Fraktionschef André Trepoll moniert den Umgang mit der Affäre. Der sei „mittlerweile genau so problematisch wie der Vorgang selbst. Es wird gemauert und geschwiegen, politischer Aufklärungswille bisher Fehlanzeige. Will Tschentscher davon wirklich nur aus der Zeitung erfahren haben? Warum hat er nicht einen unabhängigen Sonderermittler eingesetzt? Diese Salamitaktik, nur einzugestehen, was nicht mehr zu leugnen ist, schafft kein Vertrauen und bringt den Bürgermeister immer mehr in Bedrängnis.“
Wer in der SPD hoffen sollte, das Thema sei bald durch, könnte sich täuschen. Die Ermittlungen seien nicht abgeschlossen, betont die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Nana Frombach. Weitere Ermittlungen und Anklagen seien denkbar. Bei alldem gilt auch hier: Was unter moralischen Erwägungen richtig und was falsch ist, kann am Ende auch die Justiz nicht klären. Sie kann nur feststellen, was mit Gesetz und Recht in Einklang steht – und was nicht.