Hamburg. Der Topmanager hat eine ungewöhnliche Karriere hingelegt, jetzt führt er die Behörde für Wirtschaft. Ein Familienmensch und Kumpeltyp.
Die berufliche Karriere, die Michael Westhagemann gemacht hat, sie wäre heutzutage kaum noch möglich. Und schon zu seiner Zeit war sie ungewöhnlich. Geboren in Beckum, einer Kleinstadt mit heute 37.000 Einwohnern, gut 40 Kilometer südöstlich von Münster in Westfalen. Aufgewachsen in „behüteten Verhältnissen“, aber nicht mit dem „goldenen Löffel im Mund“, wie der 61-Jährige im Rückblick sagt.
Die Mutter war Hausfrau, wie so viele Mütter Anfang der 1960er-Jahre. Der Vater arbeitete als Elektromeister in einem Zementwerk, in das er den kleinen Michael häufiger mitnahm. Und der war stolz auf seinen Vater und dessen Tagewerk. Ein guter Schüler? „Das war ich nicht“, kommt die Antwort ohne Zögern. So ging es nach der mittleren Reife direkt in die Ausbildung. Wie der Vater, so der Sohn. Michael machte eine Lehre als Starkstromelektriker, arbeitete zeitweise auf einer Zeche, war auf Montage. „Ich hatte immer Lust, Neues zu entdecken.“ Aber schon damals hatte er diesen wichtigen Anker – seine Familie.
Egal wo er auf Montage war, seine Heimat blieb sein Zuhause – in Beckum. Und diese Bindung wurde noch stärker, als sein Vater starb, mit nicht einmal 50 Jahren. Denn nun war Michael der Mann im Haus. „Ich habe dann auf meine kleine Schwester aufgepasst.“ Doch nicht nur die Schwester zog ihn immer wieder nach Westfalen. Auch die Frau seines Lebens hat er in Beckum kennengelernt. Uneins ist sich das Paar, das nun seit mehr als 38 Jahren verheiratet ist, in welchem Alter sie sich kennen- und lieben lernten. „Sie sagt mit 14, ich glaube aber, es war mit 15 Jahren.“ Ein charmanter Dissens, der mit Blick auf die hohen Scheidungsraten im Deutschland von heute geradezu romantisch anmutet.
Die Familie gab den Anstoß für die nächste Stufe auf der Karriereleiter
Mitte der 70er-Jahre zogen die früh Verliebten nach Paderborn. Oder genauer: Michael zog seiner Marie-Luise hinterher, die in der ostwestfälischen Kreisstadt eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester machte. In Paderborn wohnten auch Michaels Onkel und Schwager. „Die haben mir dann schnell klargemacht, dass ich mich beruflich unbedingt weiterentwickeln muss.“ Die Familie, die Michael so wichtig war und immer noch ist, gab ihm den Anstoß für die nächste Stufe auf der Karriereleiter. Er machte Fachabitur, ließ sich zum Informatiker ausbilden, verkaufte fünf Jahre lang Hardware und Software, lernte den deutschen Computerpionier Heinz Nixdorf kennen, der ihn schließlich in sein Unternehmen holte.
In den folgenden Jahren wurde Asien sein berufliches Zuhause. Er verkaufte Telekommunikationssysteme in China, Singapur und Japan. Mit großem Erfolg. Zwar beherrschte er die fremden Sprachen nicht, aber er konnte überzeugen, mit seiner direkten, herzlichen Art: ein Kumpeltyp, der er noch heute ist. Bei Gesprächen wechselt er schnell vom „Sie“ ins „Du“, ohne dass er dabei aufdringlich wird. Im Gegenteil. Es wirkt vertraut – und authentisch. Sich verändern, um sich anzubiedern – das will er nicht. Deshalb kann es auch nicht verwundern, dass er, obwohl er schon mehr als 15 Jahre in Hamburg lebt und diese Stadt liebt, über sich selbst sagt: „Ich bin und werde nie der zurückhaltende Hanseat. Ich spreche so, wie ich denke. Da lasse ich mich auch nicht verbiegen.“
Fast alle drei Jahre ging es in eine neue Stadt
Diese Klarheit und Gradlinigkeit machten ihn im Beruf so erfolgreich, dass Anfang der 1990er-Jahre der Technologiegigant Siemens auf ihn aufmerksam wurde, ihn abwarb, forderte und förderte. Von Stufe zwei der Karriereleiter ging es nun bis auf Stufe 14 nach oben. Doch der Preis dafür war hoch – vor allem für seine Familie. Siemens verlangte vom kommenden Topmanager, seiner Frau und den mittlerweile geborenen beiden Töchtern ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität. Fast alle drei Jahre ging es in eine neue Stadt, der Konzern wollte sehen, wie sein Mann der Zukunft funktioniert. „Das war für meine Frau und die beiden Kinder schon eine große Belastung.“ Er reiste durch Afrika, war im Silicon Valley, stieg schließlich zum Vertriebsleiter im Ruhrgebiet auf, bis ihn Siemens 2003 nach Hamburg schickte.
„Ich fühlte mich als Westfale sofort wohl in der Stadt“, sagt er. Die Kinder waren mittlerweile erwachsen, seine Frau kam mit an die Elbe. Nun konnte er sich beruflich entfalten und privat ein neues Nest bauen. Schon nach wenigen Jahren lenkte er von Hamburg aus das Geschäft für Siemens in Norddeutschland, doch er wollte mehr. Im Ehrenamt leitete er den Industrieverband, arbeitete in der Handelskammer mit. „Ich wollte etwas bewegen für den gesamten Industriestandort Norddeutschland.“ Siemens legte ihm den nächsten Schritt auf der Karriereleiter nahe, der mit einem Wechsel ins Ausland verbunden gewesen wäre. Michael Westhagemann lehnte ab, blieb in seiner neuen Heimat.
„Ich war nie in diesem Karrieretunnel, wollte nicht in den Siemens-Vorstand. Die Freiheit, die ich an der Basis hatte, die war mir wichtig, dieser direkte Kontakt zu den Kunden.“ Seinem Arbeitgeber bereitete er Freude, weil er die Windkraft für Siemens stark ausbaute. Seine Frau machte er glücklich, weil sie nun ein gemeinsames Zuhause auf Dauer gefunden hatten, wo sich beide bis heute wohlfühlen.
Dann rief Bürgermeister Tschentscher ihn im Auto an
Mit 60 hörte der Mann, der nie Karriere machen wollte, nach einer fast einmaligen Karriere bei Siemens auf, ging in den Ruhestand. Fast. Denn um im Kopf fit zu bleiben und sein Wissen weiterzugeben, gründete Michael Westhagemann ein Beraterbüro. Dann hörte er vom geplanten Rücktritt seines Freundes Frank Horch vom Posten des Wirtschaftssenators. Den Gedanken, Horch als Senator zu beerben, hatte er zunächst nicht, obwohl sein Name von Außenstehenden sofort ins Gespräch gebracht wurde. Im Abendblatt stellte er Ende September klar: „Ich stehe für das Amt des Wirtschaftssenators nicht zur Verfügung.“
Gut einen Monat später trat er das Amt doch an. Ein Telefonat mit Bürgermeister Peter Tschentscher hatte ihn umgestimmt. Westhagemann saß mit seiner Frau im Auto, als das Smartphone klingelte. Direkt nach dem Telefonat war Marie-Luise die Erste, die es auf den Punkt brachte: Wenn der Bürgermeister einen darum bittet, einen Senatorenposten zu übernehmen, kann man nicht absagen.
Nun sitzt der neue Senator für Wirtschaft, Verkehr und Innovation in seinem Büro im achten Stock der Behörde am Alten Steinweg. Anzug, Krawatte, Dreitagebart, wache Augen. Ein Mann geformt durch seine ungewöhnliche Biografie. Noch sieht es hier ein wenig provisorisch aus. Sein Vorgänger hat längst die Kisten gepackt, alles Private mitgenommen, die Schiffsmodelle und maritimen Bilder. Es ist recht kahl an den Wänden und auf den Regalen.
Er will große Unternehmen nach Hamburg holen
Und dennoch ist Michael Westhagemann in seinem neuen Job längst angekommen. Er spricht von großen Unternehmen, die er nach Hamburg holen möchte. Von der Start-up-Szene, die er enger mit der Wissenschaft vernetzen will. Die Industrie liegt ihm am Herzen, genauso wie die Entwicklung des Hafens. Einen ersten maritimen Gipfel mit Vertretern von Reedereien, Terminals und Umweltverbänden hat er wenige Wochen nach Amtsantritt einberufen. Er will den Hafen modernisieren, vielleicht Firmen dort ansiedeln, die Produkte aus dem 3-D-Drucker herstellen. Als neuer Dienstherr lobt er ungefragt „die hohe Kompetenz und das Potenzial der Mitarbeiter“ in seiner Behörde. Aber der Macher Westhagemann weist auch auf die Bürokratie hin. „Ich muss hier schon etwas mehr als früher bei Siemens abzeichnen“, sagt er und lacht.
Respekt hat er vor allem vor dem Thema Verkehr gehabt. Er kennt die Geschichten der Boulevardmedien über den „Stausenator“, die seinem Vorgänger galten. Um diese nicht über sich lesen zu müssen, hat er bereits Mitte Dezember einen Plan gegen das Verkehrschaos auf Hamburgs Straßen vorgelegt. 24 Einzelmaßnahmen sollen nun dafür sorgen, dass der Verkehr in der Stadt besser fließt. Zur Verkehrspolitik gehören für ihn aber mehr als Straßen, Autos und Radfahrer. Er spricht von „modernen Mobilitätskonzepten“, verweist auf autonome Fahrzeuge und hält Wasserstoff als Antrieb für unterschätzt.
Seine Energie scheint unbegrenzt vorhanden zu sein
Michael Westhagemann packt an, das liegt im Naturell des gebürtigen Westfalen, der es, ohne je eine Privatschule oder eine Eliteuniversität besucht zu haben, vom Starkstromelektriker zu einem der wichtigsten Manager des Großkonzerns Siemens in Deutschland geschafft hat und nun die Zukunft der Hamburger Wirtschaft gestalten will.
Dass ihm das gelingen kann, steht außer Frage. Denn die Energie, mit der er diese Aufgabe angeht, sie scheint unbegrenzt vorhanden zu sein. Die Kraft für seinen Job zieht er jetzt übrigens nicht mehr nur aus den intensiven Begegnungen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern. Michael Westhagemann ist mittlerweile zweifacher Großvater und nutzt jede Gelegenheit, um die drei Generationen an einen Tisch zu bekommen. Dann geht es nicht ins Sternerestaurant. „Das ist nicht meine Welt“, sagt er. Dann kocht er für die gesamte Familie. Filetsteaks sind seine Spezialität. Kurz angebraten und dann für 15 Minuten in den Ofen. „Dazu gibt es einen guten Wein und ein nettes Pläuschchen.“ Ganz bodenständig, wie er eben ist, Hamburgs neuer Wirtschaftssenator.
Nächste Woche: Oliver Wurm, kreativer Magazin-Macher (u.a. „Das Grundgesetz“)