Hamburg. Jeden Sonnabend im Hamburger Abendblatt: Die 100 großen Fragen des Lebens. Heute geht es um verbale Kommunikation.

Sprache ist uns im Alltag selbstverständlich geläufig. Aber wie ist sie eigentlich entstanden? Die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Ingrid Gogolin und die Sprachwissenschaftlerin Prof. Angelika Redder von der Universität Hamburg erklären, warum sich Sprache heute so rasant verändert wie noch nie, wie das Sprachenlernen in der Schule überhaupt entstanden ist und warum Mehrsprachigkeit uns schlau macht.

Die Entwicklung von Sprachen vor mehr als 100.000 Jahren ist schwierig zu rekonstruieren. Wie sind Sprachen entstanden?

Prof . Dr. Angelika Redder: Primär dadurch, dass Menschen miteinander die Existenz organisieren und sich verständigen mussten – neben der Gestik auch mit dem Mund, weil die Arme und sonstigen Körperteile schon für die jeweilige Arbeit in Aktion waren. Bei der Entstehung von Sprache spielte neben den grundsätzlichen Möglichkeiten der Artikulation die Lautung der Umgebung, an die gewöhnlich zuerst gedacht wird, auch mit eine Rolle. Man musste sich einerseits von ihr absetzen, um überhaupt gehört zu werden. Andererseits wollten die Menschen einiges, das Laute oder Geräusche macht, benennen, und da konnte es manchmal naheliegen, sich von deren lautlichen Charakteristika inspirieren zu lassen – insofern geht beides ineinander, klärt aber nur einen geringen Teil der ungeheuer produktiven und vielfältigen Formen sprachlicher Ausdrucksmittel.

Gab es eine gemeinsame Ursprache?

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ingrid Gogolin: Diese These hat Gelehrte lange Zeit fasziniert. Sie lässt sich nicht aufrechterhalten, denn Sprachen sind in verschiedenen Teilen der Welt entstanden.

Redder: Die Menschen haben in vielen einzelnen Gemeinschaften gelebt und ihre Kommunikationsmöglichkeiten un-terschiedlich genutzt. Die einstige Vorstellung von Sprachursprung und Ursprache war oft ideologisch geprägt, weil Sprache historisch gesehen immer mit Konzepten von Philosophie und Politik verbunden war. So war auch die deutsche Hochsprache eine bewusste Entwicklung, um Deutsch im europäischen Raum als literarische und wissenschaftstaugliche Sprache zu entfalten und sprachliche Ausgleiche zu schaffen zwischen den einzelnen Regionen.

Gogolin: Wir sprechen von Deutsch als einer Sprache. Tatsächlich ist Deutsch aber ein großes Fass von ganz verschiedenen Möglichkeiten, sich auszudrücken – eine davon ist Standardsprache. Andere Möglichkeiten sind Dialekte oder die Jargons von Gruppen – beispielsweise die Jugendsprache. Vielfach sind die Formen gemischt, denken Sie an das deutsch-dänische Grenzgebiet. Jede dieser Formen trägt wissenschaftlich andere Namen. Aber alltägliche Kommunikation orientiert sich nicht daran, wie ein Wissenschaftler eine Form nennt, sondern an den Bedürfnissen der Menschen sich zu verständigen. Aus diesen heraus sind Sprachen auch entstanden.

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Und wie verändert sie sich?

Redder: Grob umrissen: Zum einen differenzieren sie sich durch Sprachkontakt, Konventionalisierung mündlicher, besonders aber schriftlicher Kommunikation und Schulung aus. Zum anderen kommen Kommunikationsbedürfnisse hinzu, die vorher nicht da waren; andere fallen weg. Drittens ändern sich Ausdrucksweisen über Medienformate wie derzeit die sozialen Medien.

Gogolin: Die gesprochene Sprache entwickelt sich rasant. Das Schriftliche vollzieht den Wandel langsamer, weil es ein hohes Maß an Standardisierungen enthält, die sich nicht so rasch verändern. Schneller geht es bei informellen Formen der Schriftlichkeit wie Posts und Tweets, die sich eher am Sprechen und Hören orientieren. Da entstehen neue Formen, die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit liegen, derzeit viel stärker, als man es historisch kannte.

Sprache verändert sich also schneller als früher?

Gogolin: Ja, viel schneller – vor allem wegen der modernen Medien. Bedenken Sie, wie aufwendig es war, ein mit der Hand gedrucktes Buch zu produzieren. Inzwischen können Schrifterzeugnisse aller Art beinahe mühelos, beinahe von jedem und quasi von jetzt auf gleich hergestellt werden. Damit wandelt sich Sprache. Das geschieht in einem Tempo, bei dem ich manchmal gar nicht mehr mitkomme. Dabei findet auch eine Kreativität ihren Niederschlag, die historisch erstmalig ist. Und zwar nicht, weil es Kreativität früher nicht gegeben hätte, sondern weil sich viel mehr Menschen an sprachkreativen Prozessen beteiligen können als früher.

Redder: Und man kommt in Kontakt mit viel mehr Partnern als früher – und damit auch mit viel mehr Sprachen.

Gogolin: Für uns bleibt die Frage, in welchem Verhältnis das konventionelle Sprechen- und Schreibenkönnen zu diesen kreativen Formen stehen muss. Wenn jemand alles nur nach Gehör schreibt, wird er bald sehr einsam sein, weil er sich in bestimmten Welten nicht mehr bewegen kann. Er kann in keinem Lexikon mehr nachschlagen und im Grunde auch nichts mehr im Internet finden. Es gilt also abzuwägen, wieviel konventionelles Sprachwissen jemand heute noch haben muss, um sprachlich souverän zu sein.

Sprechen Menschen heute mehr Sprachen als früher?

Redder: So kann man es nicht sagen. Mehrsprachigkeit ist und war international eher die Regel, auch wenn dies in Europa durch die monolingual konzipierte Nationalstaatenbildung ins Hintertreffen geriet. Mit der wachsenden Nationalstaatlichkeit und der Etablierung eines allgemeinen, staatlichen Schulwesens war die Erziehung darauf angelegt, dass die Nationalsprachen sich breit entwickelten und gut beherrscht wurden. Aber zugleich wurden Schulfremdsprachen gelehrt und gelernt. Das waren zunächst primär Latein und Altgriechisch, daneben kamen z. B. in Preußen bzw. Deutschland Französisch und Englisch dazu.

Und gelebte Mehrsprachigkeit?

Redder: Die Vorstellung, dass alle Menschen, die gemeinschaftlich auf einem Territorium leben, auch dieselbe Sprache sprechen, gibt es noch nicht lange – erstaunlicherweise verknüpft mit der bürgerlichen Französischen Revolution. In Deutschland wurde dann eigens begonnen, dies philosophisch zu legitimieren, indem Sprache und Gemeinschaft als kulturelle Einheit galten und es am Ende staatsrechtlich hieß: Alle Menschen, die in nationalen Staatsgrenzen zur Welt kommen, sollten dieselbe Sprache sprechen – und dies ist dann die Nationalsprache. Damit entstand auch die Vorstellung, dass Sprachenlernen etwas Schweres sei. Zuvor waren die Menschen funktional mehrsprachig, das heißt, sie haben die Sprachen für bestimmte praktische Belange mehr oder weniger gesprochen, ohne sie aber schreiben zu können.

Wie muss man sich das vorstellen?

Gogolin: Elias Canetti hat das in seinem Buch „Die gerettete Zunge“ schön beschrieben. Er erzählt von seiner Kindheit im bunt gemischten Bulgarien, von seiner Familie, ihren Besuchern, die von überall herkamen, der vielsprachigen Nachbarschaft, den Händlern mit ihren verschiedenen Sprachen, dem Hausmädchen, der Amme und so weiter. Alle brachten ihre Sprachen mit und man verständigte sich zwischen den Sprachen, weil das alltäglich nötig war. Mit dem Nationalstaat und der Schaffung eines allgemeinen Bildungswesens veränderten sich die Vorstellungen davon, was „sprachlich normal“ ist.

Gleichen sich Sprachen einander heute im Zuge der Globalisierung weiter an?

Gogolin: In gewissem Sinne ja. Die Angleichung ist global – sie findet zumindest überall dort statt, wo die Menschen Zugang zu Medien haben. Aber zugleich differenzieren sich Sprachen auch weiter aus. Es ist zum Beispiel nicht so, dass wir auf ein global einheitliches Englisch zusteuern. Englisch fächert sich vielmehr in viele Formen auf, je nachdem, wo ich auf der Welt unterwegs bin. Im Schriftlichen werden Standardformen bleiben, im Mündlichen aber bricht Englisch in viele Varianten auf, die zum Teil nicht mehr ohne Weiteres gegenseitig verstanden werden. Das Wort Handy beispielsweise ist ja ein deutsches Wort, das gibt es im Englischen nicht und das versteht kein Englischsprachiger außerhalb Deutschlands. Solche Entwicklungen gab es historisch schon immer, sie sind nur heute heftig beschleunigt unter anderem durch die technischen Kommunikationsmöglichkeiten.

Redder: Jenseits der Potenziale durch Sprachkontakt sollte man sich bewusst machen: Mehrsprachigkeit bereichert das Denken. Insofern wäre man dumm, wenn man sie nicht fördern würde.

Inwiefern bereichert Mehrsprachigkeit das Denken?

Gogolin: Indem sie kognitive Fähigkeiten trainiert. Wachsen Kinder mehrsprachig auf, haben sie relativ früh herausfordernde „Denkaufgaben“ zu lösen. Sie müssen erkennen, mit wem sie welche Sprache benutzen können, welches der Wörter, die sie zur Verfügung haben, in der konkreten Situation mit dem jeweiligen Kommunikationspartner zu verwenden ist. Das ist wie ein Training, das die Aufmerksamkeit, das Planen, die Orientierungsfähigkeit schult. Mehrsprachige Kinder sind beispielsweise sehr früh in der Lage, zwischen den Formen von Sprache und dem Inhalt zu unterscheiden. Diese trainierten Fähigkeiten sind gute Voraussetzungen für das Lernen – beispielsweise von Lesen und Schreiben. Dabei besteht ja eine große Herausforderung darin, das, was ich höre, und das, was ich schreibe, auseinanderzuhalten. Studien zeigen übrigens auch, dass Menschen, die mehrsprachig leben, im Alter eine gute Chance haben, einige Zeit später dement zu werden als Einsprachige.

Redder: Wer mehrsprachig lebt, denkt mehrperspektivisch. Das ist auch in anderen Bereichen als dem kulturellen und wirtschaftlichen Umgang förderlich für das Verstehen. Im schulischen Mathematikunterricht konnte z. B. nachgewiesen werden, dass bestimmte mathematische Konzepte über den Zugang verschiedener Sprachen, die diese Konzepte unterschiedlich ansteuern, besser verstanden werden. Neurologisch nachgewiesen werden konnte auch, dass mentale Kontrolltätigkeiten und Problemlösungsideen besser ausgebaut sind.

Ist es dafür wichtig, schon im frühen Kindesalter mehrere Sprachen zu lernen oder reicht es in der Schule?

Redder: Sprachenlernen geht flotter und einfacher, je früher man das macht, aber es funktioniert auch später noch.

Gogolin: Es gibt bestimmte Funktionen beim Sprachenlernen, die wird man – wenn man später einsteigt – nicht mehr so leicht erreichen. So sind „originalgetreue“ Lautbildung und Sprachmelodien beim frühen Lernen leichter zu erreichen, denn unsere physiologische Ausstattung, beispielsweise die Stimmlippe, stellt sich auf die Gewohnheiten der Sprachumgebung ein. Darüber hinaus gibt es keinen Hinweis darauf, dass es schwerer sei, eine Sprache zu lernen, wenn man später einsteigt – man lernt allerdings anders. Kinder lernen intuitiv. Je später man anfängt, desto mehr muss man sich eine Sprache kognitiv erschließen.

Ist es eigentlich klug von Eltern, ihre kleinen Kinder Chinesisch lernen zu lassen?

Gogolin: Nur, wenn es in ihr sprachliches Umfeld passt. Da kleine Kinder Sprachen intuitiv lernen, brauchen sie vor allem Sprachpartner, nicht so sehr Lehrer. Wenn im Kindergarten chinesischsprachige Kinder sind, die Sprache also lebensweltlich eine Rolle spielt, kann das sinnvoll sein. Wenn aber weder die Eltern noch sonst jemand im Umfeld Chinesisch spricht, ist das künstlich und nützt nichts.

Wie viele Sprachen kann man maximal lernen?

Gogolin: Ich hatte einen Kollegen, der hat 24 Sprachen gesprochen – die Hälfte davon konnte er auch schreiben. Der war aber auch ein Genie, er war sogar in der Lage, zwei Sprachen gleichzeitig zu schreiben, jede Hand in eine Schreibrichtung. Richtig erforscht ist es nicht, wie viele Sprachen man maximal lernen kann.

Redder: Vergleichsweise problemlos dürfte der Erwerb von sechs bis acht Sprachen sein – Ersteres ist etwa in Kamerun nahezu normal.

Gogolin: Allerdings beherrscht man die Sprachen nicht unbedingt in gleicher Weise. Ich spreche beispielsweise die englische Sprache im Hinblick auf meine wissenschaftliche Tätigkeit recht gut; in einer schottischen Kneipe hingegen bin ich aufgeschmissen. Mit meinem Türkisch komme ich gut klar in vielen Alltagsdingen; wenn mich jemand auf Türkisch fachlich ansprechen würde, wäre ich aber völlig überfordert.

Es gab ja mal den Versuch, eine Weltsprache zu etablieren – Esperanto. Davon ist nicht mehr viel die Rede.

Redder: Nein, das hat nicht funktioniert, weil es künstlich war. Eine Sprache lebt davon, dass Menschen sie sprechen – und das auch tun wollen. Das kann man nicht von oben aufzwingen.

Die Expertinnen

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ingrid Gogolin befasst sich mit Interkultureller und International Vergleichender Erziehungswissenschaft. Sie hatte sich zunächst zur Journalistin ausbilden lassen, bevor sie zur Erziehungswissenschaftlerin wurde. Universitäten in Dortmund und Athen verliehen ihr die Ehrendoktorwürde. Aktuell ist sie Prä­sidentin der World Education Research Association (WERA).

Prof. Dr. Angelika Redder ist Allgemeine Sprachwissenschaftlerin, Germanistische Linguistin und Seniorprofessorin der Uni Hamburg. 2000 bis 2003 war sie Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) und 2005 bis 2015 Direktorin des Zentrums für Sprachwissenschaft. Seit 2008 ist sie Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.

Die 100 großen Fragen des Lebens

Jede Woche beantwortet das Hamburger Abendblatt eine der 100 großen Fragen des Lebens: Zum Beispiel: War früher alles besser? Was ist gerecht? Woher kommt der Hass?

Beantwortet werden diese Fragen im Gespräch mit Professoren und Experten der Universität Hamburg, die im kommenden Jahr 100 Jahre alt wird. Die Gespräche werden jeden Sonnabend auf
der Thema-Seite im Hamburger Abendblatt veröffentlicht. An­hören kann man sie sich zudem
in voller Länge im Internet auf: www.abendblatt.de

Nächste Folge am kommenden Sonnabend: Macht der Ton wirklich die Musik?