Hamburg. Die Angeklagte wirkt wie eine eigenwillige Jugendliche, mitten in der Pubertät. Dabei feiert sie bald ihren 83. Geburtstag.

Sie schimpft. Sie spottet. Sie trotzt. Es fehlte nur noch, dass sie aus Verstocktheit mit dem Fuß aufstampft. Wer Gisela L. (Name geändert) beobachtet, fühlt sich an eine unwillig-eigenwillige Jugendliche erinnert, mitten in der Pubertät, die dickköpfig ihren Willen durchzusetzen versucht, gegen alle Widerstände. Nur dass Gisela L. nicht 13 oder 14 Jahre alt ist, sondern demnächst ihren 83. Geburtstag feiert. Ein Alter also, das gemeinhin mit Besonnenheit und Kontenance in Verbindung gebracht wird. Und nicht mit Aufmüpfigkeit und Verweigerung.

Und nun steht da diese kleine ältere Frau in Blazer und mit Hut und wendet dem Amtsrichter, der Staatsanwältin und ihrem Verteidiger demonstrativ den Rücken zu. Setzen will sie sich nicht, sich erklären auch nicht. Kontra geben, kratzbürstig sein, das scheint die Strategie von Gisela L. zu sein. Und ja nicht zu den Vorwürfen Stellung nehmen, sie habe vor einem Jahr in einem Kaufhaus ein Zelt und zwei Schlafsäcke gestohlen und darüber hinaus in einem weiteren Laden mehrere Kleidungsstücke entwendet.

Weil sie ohne festen Wohnsitz war, kam die betagte Hamburgerin in Untersuchungshaft, und sie hat einen Betreuer, der sich unter anderem um ihre finanziellen Belange kümmern soll. Doch auch diesen Mann, der ihr doch helfen möchte, bedenkt Gisela L. allenfalls mit verbiesterten Blicken. „Idiotisch“, geißelt sie ihn. „Verschwinden Sie bloß, Sie Heini!“ Und als der Richter sie ermahnt, sie müsse vorsichtiger sein mit ihrer Wortwahl, verschränkt die Seniorin die Arme und zischt: „Bah, bah, bah!“

Sie scheint wie ausgewechselt

Kein Geständnis, obwohl es Videoaufzeichnungen von den Taten gibt, nicht einmal ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft der Frau: So kommt das Gericht nicht weiter. Zu einem nächsten Termin müssten Zeugen geladen werden, außerdem wäre eine psychiatrische Begutachtung sinnvoll. Der Vorsitzende warnt die Angeklagte, dass diese Wartezeit für sie rund drei Wochen weitere Untersuchungshaft bedeuten würde. Gisela L. zuckt mit den Schultern. Hoch erhobenen Hauptes lässt sie sich zurück ins Gefängnis führen.

21 Tage später scheint die 82-Jährige wie ausgewechselt. Verbindlich wendet sie sich an ihren Verteidiger, mit dem sie sich besprechen möchte. Doch auch danach hat sie eine ganz eigene Version der damaligen Ereignisse parat. Laut ihrer Schilderung konnte sie das Zelt schlicht nicht allein tragen und hat es deshalb zur Sicherheit unter einem Regal verstaut. Und auch die Kleidung will sie nicht gestohlen haben. „Ich bin doch kein dummes Mädchen“, verwahrt sich die Angeklagte gegen die Vorwürfe. „Ich weiß, dass alles videoüberwacht ist. Wenn ich etwas brauche, habe ich Geld und Bankkarte dabei.“ Und falls sie doch mal finanziell in der Bredouille sei, helfe ihr der Geschäftsführer immer gern aus, brüstet sich Gisela L. „Mit dem stehe ich in guter Verbindung.“

Die Kaufhausdetektive der beiden Geschäfte zeichnen ein durchweg anderes Bild. Die betagte Frau habe ein Zelt und zwei Schlafsäcke zunächst unter einem Regal versteckt, später ihre Beute unter den Arm geklemmt und sei eilig durch die Kassenzone gerauscht, schildert ein 58-Jähriger. „Ich sagte: ,Oma, Sie haben was vergessen.‘ Und sie wies mich zurecht: ,Nenn mich nicht Oma!‘“ Der zweite Zeuge erzählt, wie Gisela L. mit mehreren Kleidungsstücken zur Anprobe eine Umkleidekabine betrat. „Als sie wieder rauskam, hatte sie keine Ware mehr im Arm. Und in der Kabine fanden wir mehrere herausgetrennte Etiketten.“

Schwere psychische Erkrankung

Eine psychiatrische Sachverständige, die die 82-Jährige zur Frage untersuchen sollte, ob sie voll schuldfähig ist, hatte viel Mühe mit der Seniorin. Gisela L. habe sie beschimpft und auch bedroht, erzählt die Gutachterin. Obwohl sie nur wenige Minuten mit der Rentnerin habe reden können, sei die Diagnose eindeutig: Die Angeklagte habe eine schwere psychische Erkrankung, spalte die Taten ab und zeige deutliche Anzeichen von Demenz. Nach Überzeugung der Gutachterin ist die Hamburgerin schuldunfähig und darf für die Diebstähle nicht bestraft werden. Das will Gisela L. nicht auf sich sitzen lassen. „Sie haben nur zehn Minuten mit mir gesprochen, und jetzt schwafeln Sie schon eine halbe Stunde“, moniert sie.

Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher
Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher

Auch der Richter teilt diese Meinung. Dafür, dass die Angeklagte schuldunfähig ist, sehe er „keine Hinweis“, erklärt der Vorsitzende. „Die Sachverständige hat die Frau gerade mal zehn bis 17 Minuten gesehen und hier im Prozess nur herumlaviert. Dass auf dieser Basis über einen Menschen geurteilt werden soll, finde ich erschreckend!“ Vier Monate Freiheitsstrafe mit Bewährung verhängt der Richter und folgt damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Vorstellbar sei bei Gisela L. zwar eine gewisse Altersdemenz. „Aber es ist alles intakt, was man für eine Schuldfähigkeit braucht. Sie wissen, dass man nicht klauen darf.“ Erstaunlich sei indes das Alter der Angeklagten. „Normalerweise rechnet man bei über Achtzigjährigen nicht damit, dass sie stehlen gehen.“