Hamburg . Sanierungsstau erfordert viele Bautätigkeiten. Diese werden mit Arbeiten anderer Unternehmen koordiniert. Ein intelligenter Tisch hilft dabei.

Wie wichtig Strom ist, wird einem oft erst bewusst, wenn er ausfällt. Etwa wenn, wie im vergangenen Sommer, im ausgetrockneten Boden die Verbindungen der Kabel brechen. Oder an einer der vielen Baustellen in der Stadt ein Bagger eine Leitung aufreißt. Obwohl in Hamburg rund 30.000 Kilometer Kabel verlegt sind, passiert das aber selten. Von einem Stromausfall länger als 11,3 Minuten ist ein Stromnetz-Kunde statistisch nur alle sechs Jahre betroffen (der Bundesdurchschnitt liegt bei mehr als 12,8 Minuten alle drei Jahre).

Dennoch kann es auch bei uns künftig öfter lokale Blackouts geben: Die Lebensdauer der meist in den 60er-, 70er-Jahren verlegten Stromkabel läuft ab.

Vorwürfe an den Vorbesitzer Vattenfall: zu wenig investiert

Für Stromnetz Hamburg bedeute das eine enorme Steigerung von Bautätigkeiten und Investitionen, sagt Christian Heine, einer der drei Geschäftsführer. „Zwischen 2016 und 2018 haben wir jedes Jahr 150 Kilometer Kabel erneuert. Damit kommen wir jetzt nicht mehr aus.“ Schon im kommenden Jahr müssten 180 Kilometer, ab 2020 dann 290 Kilometer Kabel im Jahr ersetzt werden. „Bis 2028 soll kein Kabel mehr in der Erde liegen, dessen technisch-wirtschaftliche Nutzungsdauer überschritten ist.“

Seit die Stadt das Unternehmen vor vier Jahren von Vattenfall zurückgekauft habe, seien insgesamt 600 Millionen Euro investiert worden, künftig würden es 250 Millionen Euro im Jahr sein. Dass es zu einem derart großen Sanierungsstau gekommen ist, liege am Vorbesitzer. „Dort hat man immer nur ausgebessert und Störungen behoben, doch es hätten pro Jahr auch 500 Kilometer Kabel saniert werden müssen“, behauptet Heine. „Wir müssen das jetzt aufholen, denn es liegt in unserer Verantwortung, die Versorgungssicherheit für Haushalte und Industrie bereitzustellen.“

Vattenfall weist die Anschuldigung zurück. „Wir haben zwischen 2010 und 2013 jährlich zwischen 165 und 198 Millionen Euro investiert“, sagt Sprecherin Barbara Meyer-Bukow. Für die Erweiterung und Verstärkung des Stromverteilnetzes habe man 78,7 Millionen 2010 und 75,4 Millionen Euro 2012 ausgegeben. Informationen zur Länge der sanierten Kabel lägen ihr nicht vor.

Mehr Baustellen erwartet

Wegen der bevorstehenden Sanierungen und weil durch das Wohnungsbauprogramm in den nächsten Jahren 60.000 neue Kunden ans Stromnetz angeschlossen werden müssen, wird es sehr viel mehr Baustellen von Stromnetz Hamburg im Stadtgebiet geben. Um die Belastungen für Autofahrer und Anwohner so gering wie möglich zu halten, wird das Unternehmen daher künftig mit Gasnetz Hamburg, Hamburg Wasser, dem der Verkehrsbehörde angegliederten Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) sowie der Hamburg Port Authority (HPA) kooperieren.

„Wir werden unsere Maßnahmen weitaus intensiver als bisher spartenübergreifend planen“, sagt Heine. Dann könnten Gas-, Wasser- und Abwasserleitungen im Rahmen einer gemeinsamen Tiefbaumaßnahme verlegt werden und mit ebenfalls anstehenden Umgestaltungen von Straße, Rad- oder Gehwegen einhergehen. „Diese Tätigkeiten werden dann alle auf einmal erledigt, statt Straße oder Gehweg mehrmals hintereinander aufzugraben.“

IT-Tisch hilft beim Planen

Koordiniert werden die Maßnahmen am sogenannten Roads-Table, einem IT-Tisch, der im Verwaltungsgebäude von Stromnetz Hamburg steht. Dort lassen sich verschiedene digitale Stadtpläne wie Folien übereinanderschieben. Auf ihnen sind alle in den kommenden Jahren geplanten Baumaßnahmen eingezeichnet. Dabei kennzeichnen verschiedene Farben, ob es sich um Arbeiten an Strom-, Gas- oder Wasserleitungen oder um Straßen- oder Hafenbaumaßnahmen handelt. Vorstellbar ist, auch private Unternehmen wie die Telekom zu beteiligen.

Um all diese Informationen zu erhalten, „füttern“ die Beteiligten die Software derzeit mit allen verfügbaren Daten der nächsten Jahre. „Roads ist ein komplexes Projekt, das sich noch in der Erprobungsphase befindet“, erläutert Thomas Volk, technischer Geschäftsführer. „Aber es bietet endlich eine Möglichkeit, Baustellen gut und vor allem rechtzeitig koordinieren zu können.“ Das sei vor allem für die Verkehrsplanung wichtig.

Neue Kabel brauchen Platz

Heine und Volk zeigen die neue Vorgehensweise am Beispiel des Umspannwerks Gertrudenkirchhof – eines von 54 Umspannwerken im Stadtgebiet, die bis 2035 erneuert werden und dann 43 Prozent mehr Strom verteilen sollen. Seit 2014 laufen die Arbeiten im Gebäude sowie im Straßenraum davor. Jetzt gilt es, Trassen für die neuen Kabel festzulegen. Das ist schwierig. „Im Innenstadtbereich liegt jeder Quadratmeter voller Leitungen und Rohre. Außerdem haben manche Kabel einen so großen Biegeradius, dass wir sie nicht in kleine Straßen legen können“, sagt Heine.

Mammutaufgabe in Tonndorf

Die möglichen Trassen stellt der ­Roads-Table als rote Linien dar. Sie führen vom Gertrudenkirchhof Richtung Ballindamm und Jungfernstieg, aber auch zu Rosenstraße, Steintordamm oder Mönckebergstraße. In der „Mö“ ist ein Bereich rosa gefärbt. Hier plant die Hochbahn den barrierefreien Ausbau der Station Mönckebergstraße. Am Ballindamm werden weitere Farben dazukommen, sobald sich die Pläne zu seiner Umgestaltung zum Boulevard konkretisieren. Und auch die Sanierung der Elbchaussee, die 2020 ansteht, wird am Roads-Table geplant werden. „Nach diesem Muster werden wir künftig ganze Quartiere sanieren“, schwärmt Volk. Den Anfang soll Tonndorf machen – ebenfalls eine Mammutaufgabe, die gerade ausgeschrieben wird und Anfang 2020 starten soll.

Doch nach der Koordination kommt die Kooperation – und die ist für ­Stromnetz Hamburg und die anderen Leitungsträger eine große Herausforderung. „Wir brauchen Arbeiter, die wir spartenübergreifend einsetzen können. Die zu finden wird schwierig“, sagt Thomas Volk. Schon jetzt seien qualifizierte Arbeiter angesichts der Hochkonjunktur Mangelware. Vor dem Hintergrund der geplanten Sanierungsoffensive bräuchte man jedoch noch mehr. Daher werde das Unternehmen den Fokus auf Ausbildung legen. „Wir bauen gerade ein Aus­bildungszentrum mit 60 Plätzen. 30 Azubis übernehmen wir, 15 gehen zur Fernwärme, die Hamburg gerade zurückkauft, die anderen zu unseren Dienstleistern.“ Der Vorteil der selbst ausgebildeten Arbeitskräfte liege auf der Hand, so Volk: „Sie kennen das Netz.“