Hamburg. Hamburgs grüner Umweltsenator über Forderungen an die Industrie, neue Fahrverbote, Fernwärmekauf – und seine Diät.

Er war auch 2018 einer der umstrittensten Senatoren: Der grüne Umweltsenator Jens Kerstan sorgte dafür, dass Hamburg sich trotz aller Risiken für den Rückkauf des Fernwärmenetzes für knapp eine Milliarde Euro entschied – und er verhängte die bundesweit ersten Dieselfahrverbote. Im Abendblatt-Interview äußert er sich zu umstrittenen Grenzwerten und möglichen neuen Fahrverboten, erläutert Verzögerungen beim Fernwärmedeal, analysiert das Verhältnis der Grünen zur SPD und die Unterschiede zwischen Peter Tschentscher und Olaf Scholz – und erzählt von einem persönlichen Problem, das er im Januar lösen will.

Wir hoffen, Sie hatten eine schöne Weihnachts- und Adventszeit, Herr Senator. Sind Sie eigentlich der Typ, der sich einen Adventskranz zu Hause hinstellt?

Jens Kerstan: Ja, ich bastele mir sogar das Adventsgesteck jedes Jahr selber.

Hoffentlich hinterlässt das keine gesundheitlichen Schäden. Ein Adventskranz stößt ein Vielfaches der an Straßen erlaubten Stickoxidmengen­ aus.

Ach, da werden immer gerne Äpfel und Birnen verglichen, um den Gesundheitsschutz von Straßenanwohnern zu diskreditieren. Die Grenzwerte gelten als Jahresmittel. Und kein Mensch sitzt 365 Tage im Jahr vor einem Adventskranz. Wer an einer großen Straße wohnt, wohnt da aber immer.

Sie haben im Mai an Max-Brauer-Allee und Stresemannstraße die bundesweit ersten Dieselfahrverbote erlassen, die den Schadstoffausstoß nicht senken, sondern nur umverteilen. War das wirklich nötig?

Wir haben keine Konfettikanonen aufgebaut, als wir die Beschränkungen verhängen mussten. Es war schlicht notwendig, weil andere Maßnahmen nicht zum Erfolg geführt haben. Die Bundesregierung hat im Umgang mit dem Dieselskandal versagt und nicht für zügige Nachrüstungen auf Kosten der Indus­trie gesorgt. Wir hatten da als Kommune keinen rechtlichen Spielraum. Und wir haben gesehen, dass Städte, die nicht gehandelt haben, jetzt zu Fahrverboten gezwungen sind, die weit über das hinausgehen, was wir angeordnet haben. In Stuttgart oder Frankfurt sollen jetzt ganze Innenstädte gesperrt werden.

Der EuGH hat gerade auch Verschärfungen bei Euro-6-Dieseln verlangt. Drohen in Hamburg weitere Verbote?

Im Lichte der jüngsten Urteile kann ich das nicht ausschließen. Ich gehe allerdings nicht davon aus, dass hier – von Gerichten angeordnet – flächendeckende Fahrverbote drohen. Im äußersten Fall kann es zusätzliche Einschränkungen an ein oder zwei Straßenabschnitten geben.

Wo könnte das passieren?

Der BUND lässt die Nordkanalstraße und die Habichtstraße vor Gericht überprüfen. Bei der Habichtstraße gibt es bisher keine Durchfahrtsbeschränkungen, weil wir Radfahrer und Anwohner an Ausweichstrecken und Wohnstraßen nicht mit Lkw-Verkehr belasten und gefährden wollten. Ob die Gerichte dieser Abwägung nach den jüngsten Entscheidungen noch folgen, das ist offen.

Sehen Sie Bewegung in der Bundesregierung bei diesem Thema?

Urteile und politischer Druck haben dazu geführt, dass sich endlich bei der Nachrüstung etwas tut. Ich finde allerdings, dass das nicht reicht. Kunden, die betrogen und getäuscht wurden, müssen aus meiner Sicht vernünftig entschädigt werden. Selbst bei einer Nachrüstung haben sie einen Wertverlust ihres Autos erlitten. Den muss die Industrie ersetzen. Die Bundesregierung und insbesondere die Union muss ihren Kuschelkurs gegenüber den Herstellern aufgeben und dafür sorgen, dass deutsche Autokäufer genauso entschädigt werden wie amerikanische.

Hier geht es allerdings auch um Zehntausende Arbeitsplätze.

Der Betrug durch die Autoindustrie kostet mittlerweile schon im Mittelstand Arbeitsplätze. In Hamburg ist gerade der erste große Autohändler deswegen pleitegegangen, weil er Fahrzeuge nicht mehr losgeworden ist. Die Bundesregierung aber gewichtet die Interessen der Konzerne höher als die der Bürger und des Mittelstands. Das ist Politikversagen. Langfristig wird es der Autoindus­trie selbst und den Hunderttausenden Angestellten der Branche massiv schaden, wenn die Politik überholte und umweltfeindliche Technologien schützt, anstatt die Entwicklung moderner Technik zu fördern. Entweder die Fahrzeuge werden umweltfreundlicher, oder die Industrie wird massiv schrumpfen oder gar vom Markt verschwinden.

Zweites großes Thema 2018 war der nun doch beschlossene, sehr umstrittene Rückkauf der Fernwärme von Vattenfall. Fühlen Sie sich da als großer Sieger?

Das ist das erste Mal seit ihrem Bestehen, dass sich die Grünen bei einer wichtigen Infrastrukturfrage in Hamburg in Gänze durchgesetzt haben. Insofern ist das schon ein Erfolg. Wir haben uns immer für die komplette Umsetzung des Volksentscheids innerhalb der Koalition eingesetzt, SPD und Bürgermeister sind uns nach einigem Zaudern und Wackeln am Ende gefolgt. Jetzt ist das eine gute gemeinsame Entscheidung.

Wäre das mit dem früheren Bürgermeister Olaf Scholz auch so gelaufen?

Schwer zu sagen. Ich denke, wir wären am Ende auch aufgrund des eindeutigen Volksentscheids zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Olaf Scholz ist den alten Industrien und der Kohle aber insgesamt stärker verhaftet.

Sehen Sie da einen großen Unterschied zu Peter Tschentscher?

Peter Tschentscher legt augenscheinlich mehr Wert auf Umwelt- und Klimaschutz und ist gegenüber grünen Positionen offener. Ob sich seine Interviewäußerungen auch im Regierungshandeln abbilden, das werden wir genau verfolgen – zum Beispiel wenn wir im kommenden Jahr den neuen Klimaplan mit konkreten CO2-Einsparfahrplänen für einzelne Sektoren erarbeiten.

Die Stadt kauft das Netz über Wert und muss viel in den Umbau investieren. Führt das nicht automatisch zu höheren Preisen für die Kunden?

Das Wärmeunternehmen ist das Geld wert, das wir bezahlen. Das bestätigen Gutachten ganz klar. Wir geben die Garantie ab, dass kein Kunde mit höheren Preissteigerungen als für eine Öl- oder Gasheizung rechnen muss. Ich bin mir sehr sicher, dass wir diese Zusagen einhalten können. Die Panikmache der Opposition ist ohne Grundlage, da werden wirklich populistische Fake News verbreitet. Wir machen uns mit den erneuerbaren Wärmequellen weitgehend unabhängig von schwankenden Weltmarktpreisen für Kohle und Gas. Das stabilisiert den Preis und macht das Geschäft planbarer.

Noch ist der Rückkauf nicht vollzogen. Ist das Ganze eigentlich wirklich schon in trockenen Tüchern?

Noch läuft ein informelles EU-Prüfverfahren, ob der Kauf als unerlaubte Beihilfe gewertet werden könnte. Darauf hat Vattenfall bestanden. Das Ergebnis erwarten wir erst Mitte Januar. Deswegen ist es möglich, dass sich der für den 25. Januar vertraglich vereinbarte Übergang des Unternehmens verzögert und erst im Laufe des ersten Quartals vollzogen werden kann.

Und wenn die EU das Ganze doch als Beihilfe bewertet?

Davon gehe ich nicht aus. Gerade hat die Bundesregierung angekündigt, die Förderung für Kraft-Wärme-Kopplung zu verlängern. Das erhöht die Planbarkeit für das Wärmenetz und damit auch den Unternehmenswert.

Das heißt: Mitte Januar wäre alles klar, wenn die EU das Okay gibt?

Das hängt auch davon ab, ob Vattenfall die Aussagen der EU ohne ein formelles Verfahren akzeptiert.

Und wenn nicht? Dann könnte sich alles noch Monate oder Jahre hinziehen.

Ich gehe davon nicht aus. Ich erwarte, dass Vattenfall sich am Ende vertragstreu verhält. Der Konzern war auf dem Weg ein manchmal schwieriger Partner. Er kooperiert aber jetzt bei der Umsetzung des Konzepts zum Wedel-Ersatz und auch bei der Herauslösung der Wärmegesellschaft aus dem Unternehmen. Da gibt es keinen Grund zur Klage. Es kann also auch ganz schnell gehen. Eher früher als später übernehmen wir das Fernwärme-Unternehmen. Unabhängig davon legen wir schon jetzt los mit der Umsetzung unseres Konzepts.

Was steht beim Umbau der Fernwärme als Erstes an?

Das Planfeststellungsverfahren für die Leitung unter der Elbe, danach das Kraftwerk Dradenau. Wir wollen das Kraftwerk Wedel in der Heizperiode 2022/23 abschalten – an der Zeitplanung ändert sich nichts. Auch die Müllverwertung der Stadtreinigung in Stellingen, die ebenfalls Wärme liefern soll, ist schon weit in Planung und Vorbereitung. Den Kohleausstieg in der Wärme wollen wir ab Mitte des nächsten Jahrzehnts abschließen und auch das Kraftwerk Tiefstack ohne Kohle befeuern.

Was steht im kommenden Jahr sonst auf Ihrer politischen Agenda?

Wir werden den Hamburger Klimaplan fortschreiben und Maßnahmen ausarbeiten, um unser Klimaziel zu erreichen, bis 2030 den CO2-Ausstoß um 50 Prozent zu reduzieren. Außerdem werden wir den Hochwasserschutz verstärken, um Hamburg an die Folgen des nicht mehr vermeidbaren Klimawandels anzupassen. Ein weiteres wichtiges Thema ist der Lärmschutz. Wir wollen mit der neuen Lärmaktionsplanung die Menschen stärker vor hoher Lärmbelastung schützen.

Weniger Lärm, wie soll das gehen?

Einmal müssen wir es endlich schaffen, dass es deutlich weniger Verspätungen nach 23 Uhr am Flughafen gibt. Außerdem werden wir schauen, ob und wo wir Tempo 30 an sehr lauten Straßen ausweiten. Wir werden den passiven Lärmschutz weiter stärken, also etwa den Einbau von Schallschutzfenstern oder Lärmwänden. Ganz große Vorhaben sind ja der Lärmschutzdeckel über der A 7 und die Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße. Auch der Ausbau des Radverkehrs hilft.

Jemand aus Ihrer Behörde hat gerade die Hafenbehörde HPA angezeigt wegen angeblich unrechtmäßiger Schlickentsorgung. Und Sie wussten angeblich von nichts. Wissen Sie nicht so genau, was in Ihrer Behörden so läuft?

Das war ein rein formaler Vorgang. Die Abteilungen sind gehalten, Unregelmäßigkeiten zur Anzeige zu bringen, da sind sie nicht auf politische Weisungen angewiesen. Wir sind jetzt in guten Gesprächen mit der HPA, um das Problem zu lösen. Aber ich hätte mir gewünscht, das früher zu erfahren.

Die SPD ist sauer auf Sie, weil Sie die Eintrittspreise für Schwimmbäder erhöhen. Das sei herzlos gerade gegenüber Menschen mit wenig Geld.

Es gibt keine allgemeine Erhöhung der Eintrittspreise. Zuletzt gab es unterschiedliche Preise in ähnlichen Bädern, die werden wir ab Februar angleichen und in 13 Bädern den Eintritt leicht um 10 Cent oder 20 Cent anheben. Ich fände es auch wünschenswert, die Preise zu senken. Das Geld dafür müssten der SPD-Finanzsenator oder das Parlament zur Verfügung stellen. Die Bäder bekommen ja jetzt schon jedes Jahr 20 Millionen Euro Zuschuss. Die Spitze der SPD in Senat, Fraktion und Partei ist sich allerdings mit uns einig, bei Bäderland die Priorität auf Neubau, Sanierung und den 12-Euro-Mindestlohn zu legen. Das wissen auch diejenigen Abgeordneten, die sich mit dem Thema gerade zu profilieren versuchen.

Das Verhältnis zur SPD scheint derzeit etwas angespannt – oder täuscht das? SPD-Chefin Melanie Leonhard will sich nicht einmal mehr auf die Grünen als Koalitionspartner nach der Bürgerschaftswahl 2020 festlegen.

Die Führungsspitzen der Koalition arbeiten nach wie vor gut und vertrauensvoll zusammen. Allerdings scheinen die Leitideen der SPD-Führung nicht immer von allen Mitgliedern geteilt zu werden. Ich nehme eher eine größere Vielstimmigkeit in der SPD wahr als Unstimmigkeiten in der Koalition. Das Nein der SPD-Vorsitzenden zu einer Koalitionsaussage ist ehrlich. Es gibt viele ähnliche Ziele mit den Grünen, aber in manchen Bereichen ist die SPD wohl auch näher an der CDU. Das macht klar: Wer grüne Politik will, muss die Grünen wählen.

Ist die CDU in Hamburg denn regierungsfähig?

Die CDU hat von einem liberalen Großstadtkurs einen deutlichen Schwenk zurück zu einem konservativen Leitbild gemacht. Die liberalen Pflänzchen sind da sehr schwach.

Das neue Jahr beginnt demnächst. Haben Sie, fernab der Politik, auch persönliche Vorsätze gefasst?

2018 war ein hartes und stressiges Jahr, bei dem ich etwas aus den Fugen geraten bin. Deswegen will ich im Januar ein paar Kilo abnehmen – damit ich mir nicht eine neue Kleidergröße zulegen muss.

Haben Sie einen Diättipp für uns und unsere Leserinnen und Leser?

Bewährt hat sich bei mir in den vergangenen Jahren eine relativ rabiate Eiweißkur. Also ein paar Wochen lang Eiweißgetränke statt Essen. Und ein völliger Verzicht auf Alkohol. Das hilft.