Hamburg. Airbnb vermittelt weltweit Privatunterkünfte. Der Hamburger Sänger Sören Sieg beschreibt kuriose Erlebnisse – als Mieter und Vermieter.

Es begann im April 2013. Ein Kinderzimmer stand leer, das Portal schickte einen Fotografen, und schon hatte ich eine Anzeige und meine ersten Gäste: Kamille und Nikolaj aus Kopenhagen. Da war es fünf Jahre her, dass Studenten aus San Francisco den Teilnehmern eines Kongresses eine Luftmatratze (air) und ein Frühstück (bnb) in ihrer WG angeboten hatten. Heute ist Airbnb der größte Zimmervermieter der Welt. Jedes erfolgreiche Unternehmen hat ein Geheimnis. Was ist das Geheimnis von Airbnb?

Laura und Maria kommen aus São Paulo. Sie sind 22, studieren in Köln und nutzen die Wochenenden, um mit Flixbus und Airbnb Deutschland kennenzulernen. „Ist São Paulo nicht gefährlich?“, frage ich. „Ach, Quatsch!“ Laura lacht. „Das typische Vorurteil! Wobei – als ich ein Jahr alt war, kamen Einbrecher in unsere Wohnung, holten mich aus meinem Gitterbett, hielten mir eine Pistole an den Kopf. Danach zogen wir in eine Gated Community. Aber da ist es total sicher!“ Ich schicke sie ins Karoviertel, auf die Fähre 62, in die Große Freiheit. Sie sind total begeistert. In Brasilien hatten sie noch nie von Hamburg gehört.

Der grimmig blickende Russe entpuppt sich als netter Arzt

Genau wie Sean und Anna. Er ist Ire, sie Mexikanerin. Bei der Suche nach einer Zwischenstation auf dem Weg von Kopenhagen­ nach Amsterdam stießen sie auf diesen unbekannten Ort: Hamburg. Sean hatte gerade Anna in Mexiko besucht und war zur Feier des St. Patrick Days nach New York geflogen. Auf der Rückreise wurde er auf dem Flughafen in Mexiko-Stadt verhaftet, ihm wurde das Handy abgenommen, und er musste nach New York zurück, ohne Anna benachrichtigen zu können. Grund: Sein Visum für Mexiko berechtigte nur für eine Einreise, nicht für zwei. Wir plaudern bis spätabends auf dem Balkon.

Am Ende schreiben sie: „Sören was a fantastic host, very enthusiastic about people coming to stay and for them to experience Hamburg.“ (Sören war ein fantastischer Gastgeber, sehr begeistert von den Gästen, die Hamburg erleben wollten). Diese Referenzen sind die Währung bei Airbnb. Darum geben sich alle so viel Mühe. Ein Paar aus Warschau war begeistert von unserer „heimeligen“ Dachterrasse. Ihre Rezension: „Sehr heimlich.“

Man kann Airbnb-Zimmer nicht einfach buchen

Im Gegensatz zu Hotels kann man Airbnb-Zimmer nicht einfach buchen. Jemand fragt an, und ich studiere Profil und Referenzen, ehe ich zusage. Juri war ein Grenzfall: nur eine kurze Referenz, und auf seinem Foto sah er grimmig unter einem Hut hervor. Ein Russe. Ich las, was er über seine einzige Gastgeberin geschrieben hatte. Überschwänglich bedankte er sich, dass sie ihn nach zwölf abgelehnten Anfragen angenommen hatte. Zwölf Ablehnungen, in Hamburg? Ich sagte ihm für zwei Wochen zu – und war baff. Juri war ein freundlicher Hüne mit samtweichem Bass. In Kasachstan und der Ostukraine aufgewachsen, hatte er in Frankreich studiert und machte nun seinen Doktor am UKE.

Sören Sieg mit Laura, seiner spanischen Gastgeberin in Äthiopien: „Es gibt keinen besseren Kaffee als dort.“
Sören Sieg mit Laura, seiner spanischen Gastgeberin in Äthiopien: „Es gibt keinen besseren Kaffee als dort.“ © Privat

Wir diskutierten häufig. „Für einen Deutschen bist du ziemlich intelligent“, bescheinigte er mir. „Hochintelligent! Übrigens – kann ich das Zimmer verlängern?“ Ich hatte es schon vermietet, gab ihm aber den Tipp, ein freundlicheres Foto auf sein Profil zu stellen. Er lachte nur trocken. Das grimmige Foto ist immer noch online. Jung, mittellos, hochgebildet, international – das ist der typische Airbnb-Gast. Aber es gibt Ausnahmen – wie die elegante Italienerin, Mitte 50, die auf einer großen Hamburger Messe als Dolmetscherin arbeitete. Das billigste Hotelzimmer in dieser Nacht hätte 160 Euro gekostet. In Hamburg-Horn. Bei mir zahlte sie 38 Euro. Abends um elf unterbrach sie unser Gespräch: „Könnten Sie mal das Fernsehen anmachen? Da kommt gleich mein Mann.“ Er kam – und interviewte Angela Merkel. Eine halbe Stunde lang.

Redner bei Konferenz über Verschwörungstheorien

Aus Zürich reiste ein Geschichtsprofessor an, um einen Vortrag auf einer Konferenz über Verschwörungstheorien zu halten. „Im Manhattan Projekt entwickelten mehr als 150.000 Menschen über mehrere Jahre die gefährlichste Waffe der Welt. Und kein einziger US-Abgeordneter hat etwas mitbekommen. Klingt wie eine Verschwörungstheorie, oder?“

Und vor wenigen Wochen übernachtete ein Holländer bei uns, der in Oxford chinesische Geschichte lehrt. „Vegetarier und Abstinenzler“, erklärte er mir abends beim Weißwein, „wurden im Alten China verfolgt und sogar umgebracht. Warum? Weil zusammen Fleisch essen und Alkohol­ trinken ein starkes Gemeinschaftsband sind. Wer sich dem verweigert, verweigert sich der Gemeinschaft. “

Selber nur noch mit Airbnb auf Reisen

Seit 2012 verreise ich auch nur noch über Airbnb. Ich wohnte bei einem Maler in Rom, einer Folkmusikproduzentin in Barcelona, dem Schöpfer des Anti-Zensurdenkmals in Warschau, dem Nachhaltigkeitsbeauftragten einer Sushi-Kette in Kopenhagen und einer Tierschützerin in Kapstadt. Am Tag meiner Ankunft war gerade ein guter Freund von ihr im Helikopter abgeschossen worden – von einem Wilderer.

In Ghana wohne ich bei Nana, einer Diplomatentochter. Ich frage sie, welcher Bus zum Strand fährt, aber sie ist noch nie mit dem Bus gefahren. Sie hatte immer einen Chauffeur. Mir zu Ehren lädt sie Freunde zum Dinner ein, darunter den Leiter von World Vision Westafrika, der gerade aus Liberia zurückgekommen ist. „Im ganzen Land gibt es keinen Strom und nur zwei asphaltierte Straßen. Dafür geht es den Leuten erstaunlich gut!“

Der andere Freund ist Musikproduzent. „An drei Dingen krankt dieser Kontinent“, erklärt er. „Korruption, Müll und Pastoren. Sie predigen in Fußballstadien, sind die Reichsten der Reichen. Manche Eltern lassen ihre Kinder zu Hause, um das Schulgeld dem Pastor zu geben. Und der erzählt ihnen, Gott werde es ihnen zehnfach zurückgeben. Zum Heulen!“

Die Somalis machen das Geld

Auch Kiki, meine Gastgeberin in Äthiopien, kocht für ihren Freund Rage und mich ein veganes Abendessen. Rage ist Somali, lebt in Boston und arbeitet als Peacekeeper im Südsudan. „Die Menschen sterben dort wie Hühner auf den Straßen. Apokalyptisch.“

Sören Sieg bei Kiki und David in Addis Abeba
Sören Sieg bei Kiki und David in Addis Abeba © Sören Sieg

Er ist stolz auf seine Herkunft. „Wo wir auch hinkommen – wir Somalis machen das Geld. In Afrika, in den USA: Achte mal drauf! Wir haben das Kaufmanns-Gen!“ Ihr Bruder David fährt mich am Morgen zum Flughafen. „Wusstest du, dass die Regierung 50.000 Menschen in Erdhöhlen gefangen hält?“, fragt er mich. „So schlimm. Aber ich starte jetzt eine Tomatenfarm südlich von Adama. Willst du nicht investieren?“

In Addis Abeba wohne ich bei Katrin, die aus Flensburg hierher ausgewandert ist. Sie verkauft Bauern ein selbst entwickeltes Patent, mit dem sie aus Tierdung ihre Injera-Öfen beheizen können. Injera ist das äthiopische Nationalgericht, ein saurer Teigfladen. Für die Öfen wurde schon halb Äthiopien abgeholzt. „Und deine Anlage können die bezahlen?“, frage ich. „Klar, die haben schon Geld“, erklärt sie. „Nur legen sie es nicht auf die Bank. Sie vergraben es in ihrem Garten.“

Vor den Nazis geflohen

Sören Sieg bei Gidi aus Accra (Ghana), dessen Eltern 1935 vor den Nazis aus Lüneburg flohen.
Sören Sieg bei Gidi aus Accra (Ghana), dessen Eltern 1935 vor den Nazis aus Lüneburg flohen. © Sören Sieg

In Accra wohne ich bei Gidi und Gladys. Um zu ihrem Haus zu gelangen, muss man zwei Autobahnschleifen überqueren – ohne Ampel. Und abends auch ohne Beleuchtung. „Bei uns in Hamburg leben viele Flüchtlinge aus Ghana“, erzähle ich. „Flüchtlinge?“, fragt Gladys. „Wir sind das reichste Land Westafrikas, haben Frieden und Demokratie – wie soll es Flüchtlinge aus Ghana geben? Frag Gidi, was Flucht ist!“ Gidis Eltern flohen 1935 vor den Nazis: Aus der Villa in Lüneburg in eine Kellerwohnung in Haifa. Gidi studierte Maschinenbau in Lagos, heiratete Gladys und zog mit ihr nach Accra. Ich bin sein erster deutscher Gast. Er zeigt mir eine Doku, die das Museum Lüneburg über seine Mutter gedreht hat. Uns beiden stehen Tränen in den Augen.

Die perfektesten Gastgeber treffe ich in Japan. Der erste Host gibt mir ein Pocket-Wi-Fi für meine Touren durch die Stadt und spezielle Googlemaps mit Empfehlungen für Läden, Cafés und Spaziergänge. Der zweite auch. Es ist Standard in Japan.

Jordan wird ein Freund

Und manchmal geschieht ein Wunder, und man gewinnt einen Freund. Jordan buchte gleich für drei Monate: ein Rechtsanwalt aus St. Louis, der in Hamburg Law and Economics studierte. Er ging jeden Tag zum Crossfit – und direkt danach zu Burger King. Er lud meine Kinder ins Kino ein und schrieb seine Abschlussarbeit über Hollywood. „Sie drehen nur noch Sequels (Fortsetzungen, d. Red.) und knöpfen uns viel zu hohe Ticketpreise ab. Ein Fall fürs Kartellamt!“

Am Ende wohnte er kostenfrei bei uns. Wir sahen True Detective, und nach Mitternacht erklärte er uns die amerikanische Politik. Nicht die Abgehängten hätten Trump gewählt, sondern die Gutverdienenden – wegen der Steuererleichterungen. Hillary sei an ihrer Haltung zur Abtreibung gescheitert: „Bill Clinton hat immer erklärt, Abtreibungen sollten sicher, legal und selten sein. Hillary hat das nie wiederholt.“ Inzwischen arbeitet er fürs Oberste Gericht in Guam. Er vermisst Hamburg.

Airbnb als Geldquelle

Dann waren da Marcin und Marta aus Krakau. Sie verdient als Spanisch­dozentin 800 Euro, er als Jazz-Kontrabassist so gut wie nichts. Als ich da war, schliefen ihre beiden kleinen Kinder im Wohnzimmer. Nur durch die Airbnb-Einnahmen konnten sie sich die Wohnung überhaupt leisten. Marcin war begeistert von meinen Kompositionen und bat mich, zwei Solo-Suiten für ihn zu schreiben. Vergangenen September haben wir sie in Krakau aufgenommen.

Oder Mathieu: Vater Algerier, Mutter Kanadierin, aufgewachsen in Montreal. Er zog nach Hamburg, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen – weil unsere Frauen für ihn die schönsten der Welt sind. In den Wochen bei mir klapperte er jeden Abend die umliegenden Kneipen ab, ging sonnabends zum HSV, spielte sonntags Fußball im Stadtpark, auch bei schlimmster Erkältung. Nach vier Wochen hatte er den ersten Job, nach drei Monaten engagierte ihn ein Weltkonzern. Inzwischen spricht er fließend Deutsch. Nur eine Freundin hat er immer noch nicht.

Chinesin geht vier Tage lang ins Miniatur Wunderland

Marathonläufer und Triathleten, ein australischer Konzertpianist und eine spanische Geigerin: zu viele Geschichten, um sie alle zu erzählen. Da war der Weißrusse, der in zwei Tagen 100 Whiskeyflaschen kaufte und nicht wusste, wie er sie wieder zurück nach Minsk bringen sollte („Hast du einen alten Koffer?“). Da war die Chinesin, die vier Tage ausschließlich im Miniatur Wunderland zubrachte. Die beiden Finninnen, die von einem Männerstriplokal in St. Georg schwärmten. Der IT-Nerd aus Tokyo, der drei Tage auf dem Salsafestival durchtanzte. Der kalifornische Lyriker, der mir seine Arbeitsweise anvertraute: „Manchmal schreibe ich wochenlang nichts. Dann zwei oder drei Gedichte in nur sechs Tagen!“

Verkäufer aus Südkorea als Gast

Sören mit Max aus Seoul
Sören mit Max aus Seoul © Sören Sieg

Der Autoteileverkäufer aus Südkorea, der jeden Morgen Hemd und Hose bügelte, um dann den ganzen Tag in seinem Zimmer zu telefonieren. Oder der indische Solaringenieur, der sich beschwerte, niemand verstehe sein Englisch – ich verstand es auch nicht. Schließlich Ali Asgari, iranischer Filmregisseur, der während des Kurzfilmfestivals bei uns wohnte. „Ich werde hier immer wieder gefragt, ob wir Handys in Teheran haben. Handys! Teheran ist eine der modernsten Städte der Welt! Und die Bewohner? 80 Prozent Atheisten!“

Das Geheimnis von Airbnb? Menschen mögen Menschen. Sie mögen Geschichten, sind neugierig. Und das ist ihnen wichtiger als ein eigenes Bad und eine Putzfrau, die morgens das Bett neu bezieht. Es gibt dafür altmodische Wörter: Kulturaustausch. Völkerverständigung. Vielleicht ist es genau das, was Hamburg seit 1000 Jahren groß gemacht hat.