Hamburg. Zum Parteitag bewertet das Abendblatt die Leistungen der CDU-Chefin. Erst gab es Lob. Nun folgt die Gegenrede von Matthias Iken.
Die Kanzlerin bekommt dieser Tage wieder freundliche Presse – erst gestern an dieser Stelle von meinem geschätzten Kollegen Thomas Andre.
Er ist nicht allein – ob in der „Süddeutschen Zeitung“, der „Mopo“, beim „Spiegel“ oder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, überall überschlagen sich Journalisten mit Würdigungen und Anerkennungen. So viel Unterstützung, so warme Worte hätten sich Helmut Kohl oder Gerhard Schröder im Spätherbst ihrer Kanzlerschaft sicherlich gewünscht.
„Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche“
Das Dumme daran: Merkels Partei nutzen die Schalmeienklänge wenig – die CDU steckt in einem Stimmungstief, das seit Gründung der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg unmöglich schien. Zwischen 24 und 27 Prozent taxieren die Meinungsforscher die Union. Erst seit Merkels erklärtem Abgang dreht der Trend zaghaft ins Plus. Zustimmung bei vielen Kommentatoren und Ablehnung in Umfragen müssen kein Widerspruch sein. Die Hymnen aus dem linksliberalen Lager bringen der CDU eben keine Stimmen; man lobt Angela Merkel und wählt im Zweifelsfall die Grünen. Wie schrieb Thomas Andre so schön? Er sei der größte Angela-Merkel-Fan, der Angela Merkel dennoch nie gewählt hat. Das ist schön für das Poesiealbum der Kanzlerin, politisch aber eine eher zweifelhafte Erfolgsformel.
Ich war nie ein großer Angela-Merkel-Fan, aber ich habe sie – so viel gebe ich zu – schon einmal gewählt. „Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche“, wissen wir seit den 60er-Jahren. Das Problem der Union ist die wachsende Anzahl der Elche im ausgehenden Jahr 2018.
Seit der Grenzöffnung 2015 hat die CDU dramatisch verloren
Sie laufen in alle Richtungen davon: Das konservative Lager hat die Kanzlerin und Parteichefin in den vergangenen Jahren paralysiert bis atomisiert. Am rechten Rand haben CDU und CSU so an die AfD verloren, der Wirtschaftsflügel ist zu den Liberalen davongeflattert, und der linksliberale Rand diffundiert zu den Grünen. Die Volkspartei, die einst so unterschiedliche Köpfe wie Alfred Dregger oder Norbert Blüm unter einem Dach versammeln konnte, verliert und verliert. Und weiß kaum, wie sie dagegen ankämpfen soll.
Seltsamerweise darf die Union in den Augen vieler Politikwissenschaftler und Leitartikler niemals nach rechts ausschwenken, weil das im Zweifel die AfD stärken würde; das mag sogar stimmen. Warum aber wird das mitunter übermütige Anbandeln mit dem grünen Zeitgeist dann beklatscht? Der Logik nach müsste das die Grünen stärken. Und tatsächlich: CDU und Grüne nähern sich nicht nur inhaltlich, sondern auch demoskopisch an.
Als Merkel die Partei übernahm, lag die CDU mit 35 Prozent am Boden
Wenn so viele gehen, wer bleibt dann noch? Vielleicht sollte man in der Union mal bei der SPD nachfragen. Nun tauschen die Sozialdemokraten ihr Spitzenpersonal fast so häufig aus wie sonst nur der HSV. Aber ewige Treue zur Vorsitzenden muss nicht viel klüger sein.
Als die gebürtige Hamburgerin Angela Merkel die Partei im April 2000 übernahm, lag die Union mit 35 Prozent am Boden – so nannte man es damals. Heute wären derlei Werte himmlisch. In den Jahren darauf kletterte die CDU/CSU zeitweise auf über 50 Prozent – seit der Flüchtlingskrise (im Sommer 2015 lag die Union noch recht konstant bei 43 Prozent) befindet sich die Partei im freien Fall. Es ist tollkühn zu glauben, dies habe nichts mit Merkels einsamer Entscheidung vom September 2015 zu tun, Hunderttausende Migranten unkontrolliert einreisen zu lassen. Trotzdem stimmen manche Unions-Granden fröhlich-frei ein „weiter so, Deutschland“ an. Mit diesem Slogan konnte man zu Helmut Kohls Zeiten noch Wahlen gewinnen – mit diesem Rezept wird man heute als Volkspartei untergehen. Augen zu und durch? Besser nicht.
Zur Person Merkel gehören die außenpolitischen Erfolge
Natürlich muss man Merkels Wirken als Kanzlerin von ihrem Wirken als Parteichefin unterscheiden. Als Regierungschefin musste die heute 64-Jährige stets Kompromisse eingehen, mit reiner Parteiprogrammatik kommt niemand ans Ziel. Die CDU-Politikerin wird im Ausland geschätzt als besonnene Politikerin, als ehrliche Maklerin, als Vertreterin einer besseren Zeit des Multilateralismus. Das Lob, mit dem sie im Ausland überhäuft wird, hat sie sich verdient. Sie wirkte als Fels in der Brandung eines aufziehenden Sturms des Populismus. Allein angesichts dieser Verdienste in der internationalen Politik verbieten sich die schlimmen Ausfälle der „Merkel muss weg“-Krakeeler. In der Demokratie entscheiden nicht Verwünschungen, sondern die Wünsche der Wähler. Unter dem Strich waren ihre 13 Jahre als Kanzlerin für Deutschland keine schlechten Jahre: Sie steuerte die Wirtschaft 2008 durch die tiefste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise 1929, sie modernisierte die Gesellschaft und wagte in ihren ersten Jahren im Bundeskanzleramt sogar unpopuläre Reformen.
Man sollte aber angesichts des Lichtes in der Bilanz die Schattenseiten nicht übersehen – und die Schatten wurden zuletzt immer länger. Warum Angela Merkel als Parteichefin ihre Partei sozialdemokratisiert, ja auf einen Mitte-links-Kurs gedrängt und das deutsche Parteiensystem umgebaut hat, bleibt rätselhaft. Am Ende bestand die CDU-Programmatik allein darin, Merkels Macht zu sichern. Nachhaltig ist das nicht.
Entfremdung zwischen der Chefin und ihrer Partei
Eine Episode vom Bundesparteitag 2016 zeigt die Entfremdung zwischen der Chefin und ihrer Partei. Damals in Essen stimmten die Delegierten für die doppelte Staatsbürgerschaft – gegen den erklärten Willen der Kanzlerin. Den Ausschlag gab seinerzeit der Delegierte Jens Spahn mit seiner Aussage: „Natürlich muss man in Koalitionen Kompromisse machen, aber wir sind hier auf dem CDU-Bundesparteitag.“ Und der müsse „programmatisch“ beschließen dürfen. Die Kanzlerin reagierte schroff auf die Mehrheit ihrer Partei: „Es wird in dieser Legislaturperiode keine Änderung geben.“ Und einen Wahlkampf über den Doppelpass schon gar nicht. Was juckt es die deutsche Eiche, wenn sich die Wildsau an ihr reibt?
Dabei hatte die Kanzlerin einst noch auf Wellenlänge mit ihrer Partei gefunkt: „Die multikulturelle Gesellschaft ist grandios gescheitert“, proklamierte Merkel etwa 2004 auf dem CSU-Parteitag. Heute würde man für diese Aussage vermutlich ein Parteiausschlussverfahren riskieren. Hat sich die Integration seit 2004 eigentlich verbessert?
Welche originäre CDU-Position hat sie überhaupt gehalten?
Und was sagte Merkel ein Jahr zuvor? Man müsse „natürlich darüber sprechen, dass es den Missbrauch des Asylrechts gibt. Da muss man natürlich sagen, die Folge kann nur sein: Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung. Alles andere wird keine Akzeptanz in der Bevölkerung finden.“ Die Kanzlerin hat sich – auch eingedenk der weltpolitischen Verwerfungen – gewandelt, aber viele Anhänger ihrer Partei konnten, mochten, wollten ihr nicht folgen. Wer aus weltanschaulichen Gründen einstmals Christdemokrat wurde, dürfte sich schwer damit tun, dem Zeitgeist hinterherzulaufen.
Man erinnere auch an Merkels Volten in Sachen Kernkraft. Das Atomausstiegsgesetz von Rot-Grün bekämpfte die Kanzlerin im Wahlkampf 2009. Es sei doch „jammerschade“, wenn Deutschland aussteigen würde. Hm.
Nach dem schwarz-gelben Sieg verlängerte sie folgerichtig die Laufzeiten der Atomkraftwerke. Als im März 2011 aufgrund eines Tsunami in Japan das Atomkraftwerk von Fukushima havarierte, wendete die Physikerin in voller Fahrt. Binnen kürzester Zeit wurde ein schlampiges Ausstiegsgesetz zusammengezimmert. „Merkel lässt Tabus brechen, wie andere Nüsse knacken“, staunte damals die „Süddeutsche“. Ob Wehrpflicht oder Griechen-Rettung, ob Homo-Ehe oder Mindestlohn – Positionen, für die viele Parteifreunde eifrig an Stammtischen und Wahlkampfständen gekämpft hatten, räumte die Kanzlerin nonchalant ab. Die Eine-Million-Euro-Frage lautet: Welche originäre CDU-Position hat sie überhaupt gehalten?
Die Kanzlerin Merkel hat das SPD-Programm umgesetzt
Es mag eine Spielerei sein, aber das Ergebnis verblüfft – befragen wir den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung aus dem Jahr 2005: Diese Website gibt zu 30 Fragen politische Statements vor – vom Tempolimit auf Autobahnen über die Einführung eines Mindestlohns bis zur Gleichstellung der Homo-Ehe – und hilft den Wählern, die passende Partei für sich zu finden. Wer die Wünsche von 2005 mit der Wirklichkeit von 2018 abgleicht, erkennt sofort, wer sich politisch durchgesetzt hat.
Der Wahl-O-Mat empfiehlt die SPD. Gewichtet man die großen Themen, hat Kanzlerin Merkel auch viele Ziele der Grünen und der Linken erfüllt. Das Programm der CDU von 2005 deckt sich kaum mit der Realpolitik von 2018. Die große Stärke der Union, bürgerlich-zivilisiert zu streiten und an einem Strang zu ziehen, hat sich angesichts dieser Entkernung ins Gegenteil verkehrt: Viele ballten die Faust in der Hand und hoben zugleich die Hand, um zuzustimmen.
Dieses Demokratieverständnis ist fatal
Es geht mir nicht um die Frage, ob Merkels Politik am Ende politisch richtig war, sondern vor allem, was mit denen passiert, die den alten Positionen anhingen. Das war den Wahlergebnissen zufolge früher immerhin eine relative Mehrheit der Deutschen. Viele Menschen sind flexibel und wissen um nötige Anpassungen an neue Herausforderungen. Sie begrüßen Pragmatismus.
Wer aber das, was gestern noch Common Sense war – siehe multikulturelle Gesellschaft –, heute in die rechtsradikale Ecke schiebt und die eigene Politik für alternativlos erklärt, darf sich nicht wundern, wenn sich eine „Alternative für Deutschland“ gründet. Auf ihr Erstarken hat die Union, die stets auf dem rechten Flügel Ausputzer hatte, zu wenig reagiert. Die CDU hat diese rechtspopulistische bis rechtsradikale Partei groß gemacht und ihren Aufstieg tatsächlich, wie Friedrich Merz sagt, „achselzuckend zur Kenntnis“ genommen. In Hintergrundgesprächen zeigten sich Spitzenpolitiker der Union lange zum Aufstieg der AfD tiefenentspannt, „solange die SPD genauso viel verliert“.
Dieses Demokratieverständnis ist fatal und hat die Bundesrepublik beschädigt. Zu der programmatischen Unschärfe gesellte sich lange Zeit eine Trägheit des Streits. Martin Schulz hatte sich genau darüber im Wahlkampf 2017 in einmaliger Schärfe empört: „Während wir uns mit unseren Ideen der Öffentlichkeit und der Auseinandersetzung stellen, wird auf der anderen Seite geschwiegen“, empörte sich der Kandidat. Die CDU verfolge die Strategie, dass die Person Merkel allein reiche. Aber jedem müsse klar sein, was es bedeute, wenn eine Parteizentrale „systematisch beschließt, die Debatte um die Zukunft des Landes zu verweigern“ und bewusst ein Absinken der Wahlbeteiligung in Kauf nehme. „Ich nenne das einen Anschlag auf die Demokratie.“
Erst wurde gar nicht mehr gestritten – und nun nur noch
Was als asymmetrische Demobilisierung zum Schaden der SPD begann, hat sich zu einer Krise der Volksparteien ausgeweitet. Durch die Linksverschiebung der Union hat Merkel die SPD in die Enge und an die Ränder getrieben – derzeit ist zu besichtigen, dass die Partei von Gerhard Schröder, Otto Schily und Wolfgang Clement all das abräumt, was sie einst in der Mitte erfolgreich gemacht hat. Aber was sollen die Sozialdemokraten tun? Die SPD muss sich absetzen, weil politische Unterschiede in einer Parteiendemokratie nicht zu sehr verwischen dürfen.
Von dieser Koordinatenverschiebung nach links profitieren am Ende nur die schlecht gelaunte AfD und die Grünen, die sich als gut gelaunte Anti-AfD in Szene setzen. Das Problem dabei: Die Radikalen von rechts bestimmen die Musik, zu der getanzt wird. Lange wurde gar nicht mehr gestritten – plötzlich prügelt man sich pausenlos. Höchste Zeit, dass die CDU andere Töne anstimmt und sich dort positioniert, wo sie seit ihren Gründungstagen hingehört: in die Mitte. Und manchmal auch rechts davon. Mit zwei großen Blöcken, der eine etwas links, der andere etwas rechts, hat die Bundesrepublik gute Erfahrungen gemacht: Damit gab es stets die Chance auf einen demokratischen Wandel. Wohin es führt, wenn nur eine Kraft der Mitte bleibt, lässt sich in Frankreich besichtigen: Wer gewinnt dann, wenn Macron scheitert? Die Linksextremen? Oder die Rechtsextremen?
Noch darf sich Deutschland glücklich schätzen, zwei Blöcke in der Mitte zu haben. Vom Kurs der Union wird abhängen, ob sich zwei Volksparteien erholen können – oder am Ende vielleicht keine bleibt.