Hamburg. Vor dem Bundesparteitag in Hamburg bewertet das Abendblatt die Leistungen der Kanzlerin und CDU-Chefin. Morgen folgt die Gegenrede.
Um die Dauer von Angela Merkels Kanzlerinnenschaft zu ermessen, werden oft Rechnungen aufgemacht. Solche wie diese: „Wer 2005 geboren wurde, kennt nur Angela Merkel auf diesem Posten.“ Oder weitaus aussagekräftiger: „Heute 25-Jährige haben nie eine andere Kanzlerin als Angela Merkel bewusst erlebt.“
Das klingt dramatisch und ergibt durchaus Sinn: Nichts ist dem menschlichen Bedürfnis nach Abwechslung abträglicher als die ewigen Auftritte der immer Gleichen. Angela Merkel erscheint manchen allein durch ihre Allgegenwart als langweiligste Person der Welt, und ganz egal, wie sie zu ihrer Politik stehen, ob sie mit paranoiden „Merkel muss weg“-Parolen hausieren gehen oder ob sie im Flüchtlingsheim Sprachkurse geben: Sie sind der Meinung, dass es Zeit ist für einen Wechsel. Allerhöchste Zeit. Das mag sein.
Aber jemand wie ich, der 1998 unter problemloser Aufbietung des allergrößten Enthusiasmus mithalf, den wahren Dauerpolitiker, den ehernen Kanzler Helmut Kohl endlich abzuwählen, muss dann doch mal mit Nachdruck feststellen: 13 Jahre „Mutti“ im Vergleich zu 16 Jahren „Birne“? Das waren doch bis hierhin ganz wunderbare, selten ärgerliche, geradezu federleichte Jahre. Im Unterschied zu den Jahren mit dem schweren Pfälzer. Damals war ich zwar immerhin jünger, aber ich würde die Atmosphäre der Merkel-Zeit und den in ihr vorherrschenden Politikstil – und damit ist nicht die gesellschaftliche Großwetterlage gemeint – nicht um alles in der Welt gegen die Trübsal der Kohl-Epoche mit ihren machistischen Bonnprovinzialitäten tauschen wollen.
Der größte Merkel-Fan, der sie nie gewählt hat
Ich habe auch nach 1998 bei Bundestagswahlen meistens SPD gewählt. Erst aus Dankbarkeit wegen der – allerdings viel zu späten – Entkohlung der Republik, zwischendurch auch mal aus Überzeugung, später aus Mitleid. Ein demokratisches Kunststück, von Anfang an, eigentlich: In allen Fasern grün sein, aber schamlos rot wählen, nur damit andere sich schwarz ärgern. Oder irgendwie so. Ich bin also ganz abseits dieser Form von Rotgrünblindheit und in einem Wort: der größte Angela-Merkel-Fan, der Angela Merkel dennoch nie gewählt hat.
Und ich bin, wenn es es jetzt darum geht, sich eine Zukunft ohne Merkel vorzustellen, banger Erwartung. Das war längst nicht nur am Anfang ihrer Kanzlerschaft undenkbar. Und deshalb ist die Veränderung meiner Merkel-Wahrnehmung am Ende vor allem auch eins: ein Spiegel dessen, wie sich mein Blick und der, wie ich annehme, auch von anderen auf Politik verändert hat. Und das hat eben nicht nur etwas mit Merkel selbst zu tun.
2005 konnte man sich noch mit einem pöbelnden Schröder, der am Wahlsonntag in der sogenannten Elefantenrunde nicht zuletzt von seiner eigenen Virilität beschwipst war, auf billig zu habende anti-christdemokratische Weise identifizieren. Den Mann also, dem heute – Stichworte: Putin, Gas, Kohle, Konto – so ziemlich alles egal ist, der aber zum Glück meist mit seinen Besserwissereien nicht so nervt, wie man es hätte erwarten können. Eitler Gockel, Macho-Mann, der Staatenlenker als dröhnende Ego-Walze: Das war auch in Deutschland früher durchaus normal.
Sie steht für einen erfrischenden Pragmatismus
Als Merkel in den ersten, langen Jahren ihrer Kanzlerinnenschaft einfach mal dabei zuschauen konnte, wie die von der rot-grünen Regierung auf den Weg gebrachten Reformen fruchteten, nannte ich sie schnaubend „die Absahnerin“. Eine Pastorentochter, die sich am Schaffen der anderen gütlich tat. Der heilige Gerd hatte sich in dieser Logik selbst also auf dem Altar der Agenda 2010 geopfert, um aus dem kranken Mann Europas, dem bewegungsunfähigen Deutschland, wieder eine mobile Unternehmung zu machen. Das klappte. Aber nicht wegen Merkel, sondern trotz Merkel, die erst mal nach bester Kohl-Manier eine Aussitzerin war, die sich nie zu etwas bekannte, immer abwartete. Bloß kein Risiko.
Man dürstete aber nach Risiko in der Spätphase der sogenannten Nullerjahre, und ich zum Beispiel hätte nicht im entferntesten daran gedacht, wirklich gar nicht, wie anziehend die Risikolosigkeit dieser Frau einmal im Nachhinein anmuten würde, und wie entscheidend es trotzdem für mein Verhältnis (und das so vieler anderer) zu ihr einmal sein sollte, dass sie dieses eine Mal dann aber eben doch Risiko ging, Hochrisiko.
Was es vielen Frauen bedeutete, dass nun erstmals eine der ihren die mächtigste Person im Staate war, konnte ich übrigens gut nachvollziehen. Es schien mir also logisch, dass rot-grüne Glaubensschwestern mit einem Male CDU wählten. Logisch und, auch das, sympathisch – obwohl meine Gendersensibilität, obwohl meine Feminismusfreundlichkeit, die nur in wenigen Momenten eher eine Feminismustoleranz war, niemals dazu geführt hätte, Merkel zu wählen, nur weil sie eine Frau ist.
Aber ich interessierte mich irgendwann sehr für die Vorteile der politischen Durchlässigkeit und demokratischen Wendigkeit. Was heißt, dass ich den Pragmatismus der Physikerin, der es ihr etwa erlaubte, 2011 den deutschen Ausstieg aus der Atomkraft in die Wege zu leiten, erst einmal für außerordentlich gut befand. Um es dann für zumindest erwägenswert zu erachten, vielleicht tatsächlich meinem Wahlverhalten einen neuen Drall zu geben.
Identitätskrise der Konservativen
Dass Merkel manchen eh längst als verkappte Sozialdemokratin galt, fand ich bald als Einschätzung noch längst nicht unoriginell genug. Ich bedauerte die SPD dafür, dass Merkel ihrer eigenen Partei deren nervige konservativen Altbackenheiten austrieb und stellte überhaupt nicht exklusiv fest, dass es eigentlich egal war, ob man SPD oder CDU wählte. Im Freundes- und Bekanntenkreis stellten wir gemeinsam erst eine gewisse Ratlosigkeit fest hinsichtlich der Unfähigkeit der SPD, geeignete Kandidaten gegen Merkel ins Kanzlerrennen zu schicken, dann hielten wir dies gar nicht mehr für notwendig. Dass Merkel Positionen der SPD kaperte und die stolze Arbeiterpartei in den Regierungskoalitionen marginalisierte, ärgerte einen zwar, wurde aber mit der Gehässigkeit aufgewogen, mit der man der Identitätskrise der Konservativen begegnen konnte.
Aber skeptisch blieb ich, ob Merkel meine Sympathie denn wirklich verdient hatte. Bis dann die Weltgeschichte ihr Tempo anzog, bis der Weltgeist über die Kontinente fegte und mit einem Male sichtbar wurde, was doch ganz bestimmt nicht über Nacht kam: das globale Zeitalter und die Grenzen, die keine mehr sein durften oder sollten. Es kamen die Grenzbefestiger und Nationalisten, die sich zu Volkstribunen aufschwangen und rechten Populismus auf die Tagesordnung setzten. Kenternde Flüchtlingsboote also und Donald Trump.
Als sie meine Kanzlerin wurde
Spätestens in jenen bewegten Zeiten seit 2015 hat sich bei mir die große Kanzlerwende vollzogen, ich nenne sie: das Merkel-Paradox. Während die Ultra-Konservativen und die, die rechts von ihnen standen, zu CDU-Fressern wurden und Merkel-Hatern, wurde sie zu meiner Kanzlerin. Weil sie aus humanistischen Gründen Flüchtlinge aus kriegsversehrten Ländern nicht an deutschen Grenzen abwies. Weil sie standhaft und stur blieb und mit einem Male von ihrem Pragmatismus abwich, der viel zu oft eben auch eine machterhaltende Bequemlichkeit war.
Merkel setzte ihre Kanzlerschaft aufs Spiel. Und das auch noch aus den richtigen Gründen. Welche Fehler sie damals auch machte, wie wenig es ihr gelungen sein mochte, das Land längerfristig auf dem beschwerlichen Weg mitzunehmen, der ein großes Maß an zivilgesellschaftlicher Großzügigkeit erforderte – ihre Haltung nötigte mir Respekt ab. Sie knickte nicht ein, sie blieb dabei: Der reiche Teil der Welt muss sich öffnen, zumindest bis zu einem gewissen Punkt, den Merkel und mit ihr – richtigerweise, wie ich finde – größere Teile der Gesellschaft im Möglichkeitsgelände des „Wir schaffen das“ verorteten. Eine globalisierte Welt, in der Waren keine Grenzzäune kennen, Menschen aber ausgesperrt werden, wird ihre inneren Widersprüche nur schwer aushalten können. Diese Einsicht lag Merkels Handeln zugrunde, und das, was aus jener Einsicht folgte, war dann am Ende auch doch wieder Pragmatismus.
Merkel ist oft ihre langweilige, wenig mitreißende Art vorgeworfen worden, ihr leidenschaftsloser Habitus. Auch mir war es oft so, als müsse ich aufgrund ihrer tief sitzenden Enthusiasmusunfähigkeit spontan wegdösen. Begeisterung zu wecken fällt Merkel schwer, und wenn sie den gebeutelten Griechen dieselbe Empathie entgegengebracht hätte wie Flüchtlingen, wären Erstere in ihren Gazetten sicher freundlicher mit der Kanzlerin und dem tatsächlich arroganten Deutschland umgegangen.
Aber angesichts der Hitzköpfe dies- und jenseits des Atlantiks ist der nüchterne Politikstil längst rehabilitiert. Sieht man mal von der zunehmenden Erschöpfung ab, die mit dem Imageproblem der Großen Koalition, mit verlorenen Wahlen, mit der Merkel-Feindschaft der Rechten sowie der „besorgten Bürger“ und einer natürlichen Amtsmüdigkeit zusammenhängt, ist Merkels kühle, ruhige, die auch von der großen Erfahrung rührenden Unantastbarkeit längst ein Wert an sich geworden. Die mächtigste Frau der Welt ist, aber ja, immer noch ein Fels in der Brandung. Was leider aber auch, wie der dauerhaft agile Franzose Emmanuel Macron wiederholt feststellen darf, mit einer grundsätzlichen Unbeweglichkeit einhergeht.
Krasser Gegensatz
Wer wie ich Merkels lahme Art längst wie ein Gegengift zur grassierenden Hysterie wahrnimmt, jener vom „Neuland“ namens Internet stammenden immerwährenden Aufgeregtheit, der kann daran erst einmal nichts mehr verwerflich finden. Der Politikstil der Orbans, Putins und Erdogans, der populistischen Spalter und antidemokratisch Denkenden, zielt nicht zufällig auf den kochenden Volkszorn oder nationalistische Gefühlsregungen – nichts funktioniert besser im Modus des Unterkomplexen. Wie lieb ich meine Merkel, wenn ich an Donald Trumps Twitterexzesse und Recep Tayyip Erdogans Großmannssucht denke! Was die beiden Genannten miteinander verbindet und in einem krassem Gegensatz zu Merkel vereint, ist der durch wenig bis nichts gedeckte Glaube an die eigene Besonderheit. Es ist nicht zuletzt der Merkel so ferne Narzissmus, der Trump und Erdogan zu lächerlichen und abstoßenden Figuren macht.
Ich habe, als die Flüchtlingseuphorie auf ihrem Höhepunkt war und der „linke Gutmensch“ mit einem Male vollständig rehabilitiert war, manchmal schmunzeln müssen über die fest im linken Lager Stehenden, die eine CDU-Kanzlerin plötzlich zumindest für eine Sache gut finden mussten, während sich Sahra Wagenknecht gegen offene Grenzen aussprach. Und ich habe, als die AfD ihr spalterisches Haupt erhob, oft gehofft, dass Merkel ihre Nüchternheit ablegt und wie der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel („Pack“) auch mal gegen den Mob pöbelt. Sie hat es zum Glück nicht getan.
„Letzte Verteidigerin des freien Westens“
Die „New York Times“ nannte sie einmal „Die letzte Verteidigerin des freien Westens“. Merkel hat stets gnadenlos alle Gedanken an eine Überhöhung der eigenen Person negiert. Sie kann mit Überhöhung allgemein nichts anfangen und versteht sich nicht auf die Inszenierung der eigenen Person. Sie ist das Sedativum im hochgepitchten Daseinsdrama der modernen Welt. Ich will das längst auch als Notwehr, als eine Reaktion auf das Pathos, die Verblasenheit der Männer sehen, mit denen sie es international und national zu tun hat.
Was bleibt also jetzt, wo auf dem Parteitag der CDU ein neuer Vorsitzender oder eine neue Vorsitzende gewählt wird und die Kanzlerinnendämmerung fortschreitet? Die Hoffnung darauf, dass Merkel, als scheidende Kanzlerin erlöst vom lähmenden Gedanken an den Machterhalt, mit derselben Verve und Klarheit wie zuletzt im Bundestag, als es um den Migrationspakt ging, für ihre Überzeugungen eintritt. Und die Sorge davor, dass der Typus des Selbstdarstellers zurückkehrt, das Alphatier, der Beißer. Kein Bock mehr drauf. Und erst recht nicht auf einen Populisten und Vereinfacher.
Für die eine große humanitäre Geste, besonders aber für die Langweile: Danke, Angela Merkel.