Hamburg. Rückenserie, Teil 5: Matthias Böhme nutzt Erkenntnisse über Weltklassesportler für seine Patienten. Warum Reden beim Heilen hilft.

Einmal muss man es sagen, dann kann man es auch schon wieder vergessen: Matthias Böhme ist ein Mann mit schmerzreicher Vergangenheit. Er hat als Physiotherapeut unter anderem Vitali und Wladimir Klitschko betreut und war im Team des leider zu früh verstorbenem Trainers Fritz Sdunek lange für Fitness und Regeneration der Schwergewichtsweltmeister mitverantwortlich.

In Hamburg, bei Trainingslagern in Los Angeles, Kämpfen in Las Vegas und und und. Dass beide absolute Ausnahmesportler waren, ist eine Binsenweisheit. Aber noch heute ist Böhme, der auch andere Box-Weltmeister, Fußballer und Tennisspieler versorgte, von der Psyche der K.-o.-Brüder beeindruckt.

Im Video: Der ehemalige Klitschko-Physio

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Rückenschmerzen: Physiotherapie mit Fitness-Studio

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    Das ging zum Beispiel so weit, dass Vitali (Boxname: „Dr. Eisenfaust“) auf Biegen und Brechen trainieren und boxen wollte, auch wenn sein Körper das nach Operationen oder Blessuren eigentlich noch gar nicht möglich machte. Beide Klitschkos, so unterschiedlich sie sind, haben sich über zwei Jahrzehnte Profisport körperlich auf Weltklasseniveau gehalten. Dazu braucht es mehr als ein bisschen Training und ausreichend Schlaf. Gerade der „Reparaturbetrieb“ im Verschleißkampf Boxen und im Spitzensport ist vor gewaltige Herausforderungen gestellt.

    Durch körperliche Fitness kann ein Spitzensportler viel kompensieren. Doch eine ständige Extrembelastung führt wie bei der „Normalbevölkerung“ zum Teil zu gravierenden Rückenschmerzen. Aus dieser Erkenntnis, wissenschaftliche Therapieansätze in den Breitensport zu übertragen, ist vor zehn Jahren das Physio Sports in der Elbgaustraße in Lurup entstanden, das Matthias Böhme mit seinen Partnern betreibt, dem früheren HSV-Handballprofi Matthias Karbowski und Sportwissenschaftler Marc Hachmann.

    Böhme braucht keinen Blick in seine Patientenkartei zu werfen, um zu wissen, wo der Rücken am meisten drückt: bei Mann wie Frau, Durchschnittsalter 55, gerne im Büro beschäftigt und nach getaner Arbeit im Fitness-Studio an Geräten – im Sitzen. Diese Schleife zu lösen, darum geht es.

    Psyche: Patienten brauchen oft Zeit, um sich zu öffnen

    Ein Physiotherapeut hat einen großen Vorteil gegenüber Ärzten: Er hat schon auf dem Papier mehr Zeit für die Therapie. Was beim Orthopäden die sogenannte „Sieben-Minuten-Medizin“ ist, innerhalb derer der Doktor liest, schaut, anfasst und verschreibt, wächst sich auf der Reha-Liege oder am Seilzug auf bis zu eine Stunde aus. Das hängt von der Verordnung ab. Zwischen Physiotherapeut und Patient wird deutlich mehr geredet. „Vorsicht, da hatte ich mal einen Sturz“, „Ich jogge meist auf Asphalt“ oder „Früher war ich deutlich beweglicher“ – solche Sätze lassen einen guten Therapeuten aufhorchen. Und in vielen Fällen ist der „Ort des Geschehens“ nicht die Ursache der Probleme.

    Vielleicht ist der Teil des Rückens, um den es geht, ja gar nicht der, der auf eine Therapie anspricht. Wichtiger ist oft die psychologische Komponente: Viele Patienten brauchen Zeit, um sich zu öffnen, sie fühlen sich ernst genommen, wenn jemand länger zuhört. Das kann schon einen Teil der Heilung ausmachen.

    Medizinische Fitness statt Muckibude

    Diese Form der sprechenden Medizin steht in keinem orthopädischen Handbuch. Und was Physiotherapeuten wie Böhme zudem auszeichnet: Ihnen fallen kleine Dinge auf, die große Auswirkungen haben. Da ist ein Bein länger als das andere – nie aufgefallen bislang. Da steht ein Becken immer nach dem Aufstehen schief, da gewöhnt ein Mensch sich bei körperlicher Belastung an eine Art Schonhaltung.

    Das Besondere am Konzept von Physio Sports: Physiotherapie, Reha-Sport und medizinisch korrekte Fitness innerhalb einer Einrichtung. Bei Rückschritten muss man dann wieder auf die Liege. Anders als im Fitness-Studio steht die körperliche Makellosigkeit nicht am Anfang und Ende des Trainings. Anders als in chromblitzenden Muckibuden gibt es hier keine Programme von der Stange oder aus dem aktuellen Körpermodekatalog. Die Sportwissenschaftler hier müssen mehr tun als Geräte auf Größe und Gewicht einstellen.

    „Mehr noch als Knie- hat das Gros unserer Patienten Rückenbeschwerden“, sagt Böhme. „Aber auch wenn der Therapeut einmal Hand angelegt hat, muss der Patient aktiv bleiben.“ Er schaut darauf, ob bei einem Patienten Belastung und Belastbarkeit aus der Balance geraten. „Man kann sich mal verheben“, so Böhme. Das renkt man schnell wieder ein, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber bei chronischen Rückenleiden ist das etwas anderes. Böhme spricht vom „System“, in das praktisch alles einfließt, was den Körper und die Psyche auf Trab hält. Dieses System wird „dekonditioniert“, also das Gegenteil von trainieren und Kondition aufbauen.

    Der Bandscheibenvorfall ist vielleicht gar nicht das Problem

    Was die Apparatemedizin und ein MRT-Bild zeigen, kann auch ein Zufallsfund sein. Heißt: Man sieht einen Bandscheibenvorfall, aber der wäre ohne Technik womöglich gar nicht aufgefallen. Gut denkbar, dass das Rückenproblem ganz woanders liegt. „Das frisst sich auch in die Psyche hinein: Jemand sagt, du hattest einen Bandscheibenvorfall.“ Das kann auch Angst vor einer Bewegung auslösen. Das wiederum führt zu Verspannungen – ein Teufelskreislauf.

    Der klassische Büromensch heute macht einen Ausgleichssport. Dort schlägt eher häufig als selten der Übereifer auf den Rücken zurück. Am Wochenende die Notaufnahmen, am Montagmorgen die Arztpraxen – volle Wartezimmer kennt jeder Hobby-Fußballer, -Läufer, -Tennisspieler. Auch der Trend zur V-förmig getrimmten Rückenansicht des männlichen Oberkörpers durch reichlich Gewichte führt am Ende oft zu Matthias Böhme.

    Gerade wer im Kraft-Business zu Hause ist, muss auf die Geschmeidigkeit der Bewegungen und die richtige Körperbalance achten. Als Box-Champion Vitali Klitschko aufgrund von anhaltenden Rückenproblemen nicht mehr so lange und so schnell laufen konnte, musste sich Trainer Fritz Sdunek etwas einfallen lassen, was Fitness für zwölf Runden bringt, aber den Rumpf nicht zu stark in Anspruch nimmt. Er warf den älteren der Klitschko-Brüder ins kalte Wasser und ließ ihn fortan viel schwimmen. Auch das brachte dem Zweimetermann Ausdauer für den Ring.

    Als Sportwissenschaftler würde Klitschko eine Böhme-Weisheit sofort unterschreiben: „Chronische Rückenpatienten müssen ein Leben lang etwas für ihren Rücken machen.“

    Drei Fragen an Matthias Böhme

    Was muss ein Patient wissen, wenn er zur „Physio“ kommt?

    Er sollte die Diagnose des Arztes kennen. Da Beschwerden oftmals auf einen Bewegungsmangel zurückzuführen sind, beinhaltet die Physiotherapie eine aktive Mitarbeit, nicht nur „Massage“.

    Kommen auch Leute, die bereits operiert wurden?

    Ja. Aber grundsätzlich werden in Deutschland zu viele Wirbelsäulen operiert. Nach der OP können wieder Probleme auftreten, das sogenannte „Failed Back Surgery Syndrome“, weil a) etwas operiert wurde, das nicht den Schmerz verursacht hat, b) Schmerzen wieder auftreten, zum Beispiel durch eine schlecht koordinierte Muskulatur oder c) Schmerzen durch Narbengewebe da sind. Das ist aber selten.

    Was ist für Sie ein Behandlungserfolg?

    Das ist abhängig vom Empfinden des Patienten und vom Grad der Schmerzlinderung. Wir verwenden eine Schmerzskala von 0 bis 10, von keinem Schmerz bis zum stärksten vorstellbaren Schmerz. Diese Werte dokumentieren wir. Chronisch werden die Beschwerden, wenn die Symptome länger als zwölf Wochen andauern. Aus­tralische Ärzte haben ein Prognose-Instrument entwickelt, das vorhersagen soll, wie lange Rückenschmerzen andauern. Ob dieses Werkzeug die Ergebnisse für Patienten verbessert, ist offen.