Hamburg. Vierter Teil der Rückenserie. Für Patienten mit chronischen Schmerzen bietet das Rückenzentrum am Michel eine Therapie an.
Vielleicht hat alles einmal mit einem Hexenschuss angefangen. Aber der akute Schmerz ist schon längst vorbei: An seine Stelle sind tief bohrende Kreuzschmerzen getreten, die mal mehr, mal weniger heftig sind, aber nie mehr ganz verschwinden. Für Patienten mit solchen chronischen Rückenschmerzen, die länger als drei Monate anhalten oder immer wiederkehren, bietet das Hamburger Rückenzentrum Am Michel ein besonderes Behandlungskonzept an. Es basiert auf dem Grundsatz, dass der chronische Schmerz nie allein auf eine Ursache zurückzuführen ist, sondern dass mehrere Faktoren das Schmerzerleben beeinflussen, im Vordergrund steht also eine ganzheitliche Betrachtungsweise.
„Da ist zunächst die Struktur, also das, was an krankhaften Veränderungen an der Wirbelsäule festzustellen ist, wie zum Beispiel eine Skoliose oder Verschleiß. Zweitens geht es um die Funktion, um die Frage, was funktioniert und was nicht. Die dritte Ebene ist die Psyche. Hat der Mensch aufgrund seiner Rückenschmerzerkrankung ein Stimmungstief bis hin zu einer leichten oder mittelgradigen depressiven Episode? In diesem Zusammenhang muss auch geklärt werden, ob es soziale Rahmenbedingungen gibt, die den Schmerz verstärken, wie zum Beispiel Trennungssituationen oder Probleme am Arbeits- platz“, sagt Dr. Joachim Mallwitz. Er ist Orthopäde und ärztlicher Leiter des
Rückenzentrums, das er 2001 mitgegründet hat.
Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen
Um diese unterschiedlichen Dimensionen zu beurteilen, besteht das Team aus Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen. „Mein Job in meinem Team ist, dass ich die Strukturkomponente bewerte, also ob zum Beispiel die Verschleißerscheinungen an der Wirbelsäule das Problem sind und wie groß ihr Anteil am Gesamtproblem des Patienten ist“, sagt Mallwitz. Die Psychologen untersuchen die psychische Verfassung und die psychosozialen Einflussfaktoren, die Physiotherapeuten beurteilen den Zustand der Muskulatur und prüfen, wie sich dieser verbessern lässt.
Praktisch heißt das: Bevor die Therapie startet, gibt es einen Diagnostiktag. Der Patient ist eine Stunde bei der Psychologin, eine Dreiviertelstunde beim Physiotherapeuten und eine Dreiviertelstunde beim Orthopäden und muss außerdem Fragebögen ausfüllen. Dann setzen sich die drei Experten zusammen und legen den Schwerpunkt der Therapie fest.
Patienten müssen Sandsäcke tragen
„In den Leitlinien zur Versorgung des chronischen Kreuzschmerzes wird empfohlen, die Patienten interdisziplinär zu beurteilen, wenn sie länger als drei Monate unter diesen Beschwerden leiden“, sagt Mallwitz.
Nach dem Diagnostiktag wird ein Therapieprogramm individuell festgelegt. Das richtet sich danach, welche Probleme im Vordergrund stehen, zum Beispiel ob der Patient in erster Linie eine Psychotherapie braucht oder eine Behandlung seiner körperlichen Symptome. „Wenn es sich bei chronischen Schmerzpatienten um einen Mix aus allen Dimensionen handelt, nehmen wir sie in ein Vierwochenprogramm und behandeln alles gleichzeitig, jeden Tag fünf bis sechs Stunden. Ein Team aus Physiotherapeuten, Sporttherapeuten, Psychotherapeuten und Ärzten betreut Gruppen mit jeweils acht Teilnehmern“, sagt der Orthopäde.
Die Patienten erhalten morgens eine körperliche Behandlungseinheit, danach eine mentale Einheit und nachmittags noch eine körperliche Einheit. Auf dem Programm stehen Alltagstraining, Gymnastik, medizinische Trainingstherapie, Kreislauf- und Krafttraining, Sozialmedizin, Visite, progressive Muskelentspannung, Schmerzbewältigung, Verhaltenstherapie und Patientenschulung.
Schmerz wegdrücken
Beim Alltagstraining müssen die Patienten zum Beispiel Sandsäcke tragen, nach Zeit auf unsicheren Untergründen oder in gebückter Haltung arbeiten. „Ziel ist, die Angst zu verlieren, den Rücken krumm zu machen. Doch das muss der Patient alleine schaffen. Wir können nur dabei sein und ihn coachen“, sagt Mallwitz.
Ein wesentlicher Teil der Therapie ist die Information, um dem Patienten die Angst zu nehmen, vor dem Schmerz, vor Bewegung, vor körperlicher Aktivität. „Wir wollen unseren Patienten vermitteln: Kreuzschmerz ist nichts Schlimmes, solange ihr im Bein keine Lähmung habt, bleibt aktiv, bewegt euch“, sagt Mallwitz.
Dazu gehört auch die Information, dass der Mensch im Kreuz keine Schmerzrezeptoren hat, sondern nur solche Rezeptoren, die Dehnung, Spannung und Durchblutung messen und diese Information über das Rückenmark an das Gehirn weitergeben. „Und das Gehirn entscheidet, ob und in welcher Intensität wir Schmerz empfinden. Das ist abhängig von der Vorerfahrung und der aktuellen Situation, in der sich jemand befindet. Für jemanden, der sehr gestresst ist, sich Sorgen um seinen Job macht und seit zehn Jahren keinen Sport mehr gemacht hat, hat der Schmerz eine andere Bedeutung als für jemanden, der in Dänemark mit der Freundin im Arm am Strand liegt. Der kann den Schmerz viel leichter wegdrücken“, sagt Mallwitz.
Komplextherapie steht nicht allen offen
Fast alle halten die Therapie durch. „Wir erkennen bereits im Rahmen der vorausgehenden Untersuchung, für wen diese Therapie nicht der geeignete Weg ist. Diesen Patienten geben wir eine alternative Empfehlung. Die Abbrecherquote ist bei uns extrem gering“, sagt Mallwitz. Wieder arbeitsfähig werden nach einer solchen Therapie laut Mallwitz mehr als 80 Prozent der Patienten.
Und wenn nach der Therapie die Schmerzen erneut auftreten? „Aber wer die Einstellung zu seinem Kreuzschmerz verändert hat, den wirft das nicht aus der Bahn. Er wird die Schmerzen abklingen lassen und dann wieder aktiv werden. Denn er hat gelernt und weiß, was abläuft und wie er damit umgehen muss“, erklärt der Orthopäde.
Die sogenannte Komplextherapie (Multimodale Schmerztherapie) steht nicht allen gesetzlich Versicherten offen. „56 Versicherungen haben mit uns einen Vertrag für diese vierwöchige Therapie und den Diagnostiktag geschlossen. Wenn die Patienten sich bei uns melden, klären wir gern für sie die Kostenübernahme.“
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