Hamburg. Das Haus der Photographie in den Deichtorhallen zeigt mit „Life in Cities“ von Michael Wolf eine beeindruckende Ausstellung.

Von Weitem sehen die großformatigen Bilder, die mitten im Raum von der Decke hängen, aus wie längs und quer gestreifte Webteppiche mit gelben, roten und grauen Fäden. Bei näherem Hinsehen werden aus Teppichen Wimmelbilder mit winzigen Fenstern und Balkonen; oft sind darauf, noch kleiner, Wäscheständer mit Kleidung zu erkennen. Doch kein Mensch weit und breit. Kein Fleckchen Himmel. Die Hochhaus-Ansichten aus Hongkong, die Michael Wolf in der Serie „Architecture Of Density“ (2003-1024) vereint, ähneln auf erschreckende Weise endlosen Abstraktionen. Und doch schafft es der seit 1994 dort lebende Fotograf, in der monotonen, oftmals menschenfeindlichen Architektur großstädtischer Wohnkomplexe Schönheit zu entdecken.

Ästhetisch wirken auch die Por­träts, die Wolf zwischen 2010 und 2013 für seine Serie „Tokyo Compression“ von überfüllten U-Bahnzügen in Tokio gemacht hat: Vor lauter Enge sind die Gesichter an die Scheiben gepresst, einige tragen Mundschutz, die Augen der Frauen und Männer sind geschlossen. So, als wollten sie die Fahrtzeit nur irgendwie überstehen oder dem Blick des Fotografen entgehen.

Auch eine Serie mit Sonnenuntergängen gibt es

Michael Wolf hat das Leben der Menschen in den wachsenden, sich ständig verändernden Metropolen der heutigen Welt zu seinem zentralen Thema gemacht. Seine Arbeiten reflektieren die (Über-)Lebensbedingungen in Me­tropolen wie Hongkong, Tokio, Paris und Chicago. „Life in Cities“ heißt also auch die zwölf Werkserien umfassende Ausstellung im Haus der Photographie in den Deichtorhallen. Entstanden in Kooperation mit dem Fotomuseum Den Haag und kuratiert von Ingo Taubhorn und Wim van Sinderen, ist sie erstmalig in Deutschland zu sehen.

Eine Passagierin in einem U-Bahn-Waggon in Tokio.
Eine Passagierin in einem U-Bahn-Waggon in Tokio. © Michael Wolf | Michael Wolf

Michael Wolf wurde 1954 in München geboren. Er wuchs in den USA und Kanada auf, kehrte aber für sein Studium an der Folkwangschule in Essen nach Deutschland zurück. Schon seine Abschlussarbeit über die Bergbausiedlung Bottrop-Ebel von 1976 ließ Wolfs Stärke erkennen: Darin dokumentierte er das Leben der Ruhrpott-Arbeiter mit ihren Familien, geprägt von der drohenden Schließung vieler Werke. Ein Mann, der sich in einer kleinen Wanne in der Küche den Ruß abwäscht, unbekümmert wirkende Paare beim Tanz, Arbeiterinnen in einer Nähfabrik. Auch hier sind es die scheinbar unwichtigen Details des Alltags, die auf eindrückliche Weise sichtbar machen, wie Urbanisierung und Globalisierung das Leben der „normalen Menschen“ beeinflussen.

Zweimal erhielt Michael Wolf den World Press Photo Award

Nach dem Studium arbeitete Wolf für das Magazin „Geo“, 1994 zog er nach Hongkong und war dort als Vertragsfotograf für den Stern tätig. Zehn Jahre später wechselte er das Metier und machte sich als Fotograf selbstständig. Seine Arbeiten sind in internationalen Sammlungen vertreten, unter anderem im Metropolitan Museum of Modern Art in New York. Er stellte auf der Biennale für Architektur in Venedig aus und wurde zwei Mal mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet.

Auch nach seiner journalistischen Karriere ist er dem dokumentarischen Fotografieren treu geblieben. Ob ungewöhnliche Straßenszenen in der Serie „Street View“ (2008-2011) oder „Transparent City“ von 2006, in der er Angestellte in Chicagoer Bürohochhäusern mit der Kamera beobachtete und die Fotos so stark vergrößerte, dass er damit die Grenzen zum Voyeurismus überschritt – in seiner Ästhetik liegt fast immer auch Kritik. Aber Wolf mahnt nie mit dem Zeigefinger. Und auch die Wandtafeln neben den Bildern sind eigentlich überflüssig. Es reicht schon, dass der Betrachter lange genug hinsieht, um das Bittere, Bedrohliche oder auch Kuriose hinter der hübsch inszenierten Fassade selbst zu entlarven. Meist sind es von der modernen Arbeitswelt und dem großstädtischen Leben erschöpfte und frustrierte Menschen: Man sieht sie an ihren Schreibtischen ins Leere starren oder sich die Haare raufen.

Riesige Wandin­stallation „The Real Toy Story“

Eine Premiere feiert das Herzstück der Schau: Zum ersten Mal präsentieren die Deichtorhallen die riesige Wandin­stallation „The Real Toy Story“ (2004-2018). Dafür sammelte Michael Wolf 15 Jahre lang mehr als 30.000 Billigspielzeuge „Made in China“ und bildete daraus einen kitschig-bunten Rahmen für seine tristen Porträts von Arbeiterinnen und Arbeitern in chinesischen Spielzeugfabriken. Diese überwältigende Masse heiter-bunter Plastikfiguren und -fahrzeuge ist ein nachhaltiger Schock, gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit.

Da ist der Betrachter fast schon misstrauisch, welche heimliche Botschaft sich hinter der Bildserie „Paris Rooftops“ von 2014 verbirgt. Doch die grafisch angeordneten Schornsteine auf den schiefen Dächern der Seine-Metropole stehen für sich – ganz ohne Hintergedanken. In Hongkong wiederum arrangierte Wolf metallene Kleiderbügel, die von den Bewohnern in alle möglichen Formen gebogen werden, um darauf Alltagsgegenstände zu befestigen, zu einem Gesamtkunstwerk („Hong Kong Coat Hangers“, 2016-2018).

Und nach mehr als 40 Jahren hinter der Kamera und 13 Jahren als Dokumentarist des städtischen Lebens hat sich Michael Wolf geleistet, was unter professionellen Fotografen eigentlich ein absolutes No-Go ist: Von seiner Wohnung aus, die auf der Hongkong vorgelagerten Insel Cheung Chau liegt, hat er Sonnenaufgänge abgelichtet: in Gelb, Hellblau, Rosa, mit Wattewolken und Vögeln. Für jeden Tag im Jahr ein Bild. Mit „Cheung Chau Sunrises“ von 2018 beweist Wolf, dass er auch einfach Schönes kann. Warum auch nicht?