Hamburg. Gewalt gegen Frauen ist für manche schrecklicher Alltag: Die erschütternde Geschichte einer Betroffenen.

Yvonne liegt in einem Hamburger Krankenhausbett und betrachtet ihr Gesicht in einem Handspiegel. Die rechte Gesichtshälfte hängt herunter wie nach einem Schlaganfall. Die dreifache Mutter kann nicht mehr lachen, nicht mehr sprechen und das rechte Auge nicht mehr öffnen. „Einseitige Gesichtslähmung“, sagen die Ärzte. Ausgelöst durch ein Trauma, auf das Yvonnes Körper auf diese Art reagiert, als wolle er sagen: Ich will nichts mehr sehen, nichts mehr hören und nicht mehr sprechen. Drei Jahre ist das nun her.

Wer Yvonne heute sieht, ahnt nichts von dem, was sie erlebt hat. Die Lähmungen sind verschwunden, die Augen wach und dezent geschminkt. Lächeln kann sie auch wieder. Aber wenn sie erzählt, was sie erlebt hat, dann beginnt ihre Stimme wieder zu zittern, und die Augen werden glasig. Die 48 Jahre alte Hamburgerin hat mehr als 20 Jahre lang Gewalt erfahren, psychische und physische, und sie hat Todesangst erlebt. Der Tatort war ihr Zuhause, der Täter ihr Ehemann.

Kapazitäten der Frauenhäuser sind erschöpft

Häusliche Gewalt ist ein Tabuthema. Und die Opfer, meist Frauen, trauen sich selten oder erst viel zu spät, Hilfe zu suchen, wie Petra Schlesiger, Diplomsozialpädagogin und Mitarbeiterin in einem Hamburger Frauenhaus, berichtet. Wie eine aktuelle Anfrage der Hamburger Linksfraktion ergab, wurden allein im laufenden Jahr sechs Frauen in Hamburg durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet. Weiter hat die Staatsanwaltschaft Hamburg für das Jahr 2017 5680 Fälle als Beziehungs- und Gewaltdelikte erfasst. Laut Frauenhausmitarbeiterin Schlesiger sei die Tendenz „ganz klar steigend“. „Die Kapazitäten der Hamburger Frauenhäuser sind oftmals erschöpft. In vielen Fällen müssen wir die Frauen in anderen Bundesländern unterbringen.“

Als Yvonnes damaliger Mann Stefan (beide Namen von der Redaktion geändert) das erste Mal zuschlägt, ist sie im vierten Monat schwanger. Der Auslöser ist eine Lappalie, eine Unstimmigkeit über den Abfahrtszeitpunkt zu einer Familienfeier. „Plötzlich schlug er mir mitten ins Gesicht und brach mir die Nase“, erzählt die 48-Jährige. Yvonne versucht, den Schlag kleinzureden, ihn zu vergessen. Schließlich sei Stefan kein klassischer Schlägertyp gewesen. Selbstbewusst, das schon. Und ja, auch eher etwas autoritär. Aber vor allen Dingen „ein gebildeter Mann, der gut mit Worten umgehen kann“.

Abfällige Bemerkungen und Vorwürfe

Und mit seinen Worten arbeitet er sich nun zunehmend auch an Yvonne ab. Es sind Worte, die klein machen und sich in ihre Seele bohren. Spitzen, abfällige Bemerkungen, Vorwürfe. Es schaukelt sich hoch. „Irgendwann war alles, was ich gemacht habe, falsch.“

Es fällt Yvonne sichtlich schwer, zu beschreiben, wie es ihm gelang, sie so zu manipulieren, dass sie nicht mehr handlungsfähig war. „Es war die Summe aller Handlungen“, sagt sie. „Ständig kam er unangekündigt von der Arbeit nach Hause, um zu kontrollieren, ob ich alles richtig mache. Er kon­trollierte meine Quittungen, kontrollierte Anrufe und Kontakte zu Freunden, und überall fand er Fehler. Er sagte mir, ich sei nichts wert.“ Hobbys? Job? Freiräume? Duldet er nicht mehr. Wie kann es sein, dass eine junge, kluge Frau nicht sagt „mir reicht­’s, ich gehe“?

„Er hat mir so oft gesagt, dass ich ohne ihn nicht klarkommen würde, dass ich es irgendwann geglaubt habe“, sagt Yvonne. Noch ein einziges Mal traut sie sich, eine leise Kritik an ihm zu äußern. Das Wasserglas, das Stefan ihr daraufhin nach ihr schmeißt, kann ihre Tochter gerade noch abwehren. „Die Scham, dass die eigenen Kinder so etwas mitbekommen müssen, war so groß, dass ich alles tat, um einen erneuten Wutausbruch zu vermeiden.“ Und so passte sich Yvonne nach und nach immer weiter an. „Irgendwann wurde ich unsichtbar und habe nur noch für die Kinder gelebt“, sagt sie.

Kontrolle den ganzen Tag

Petra Schlesiger kennt Fälle wie den von Yvonne zur Genüge. Physische und psychische Gewalt von Frauen komme in allen gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen Schichten vor. „In unseren Frauenhäusern waren schon Frauen von Politikern, von Polizisten und Ärzten.“ Dass die Täter oft Männer seien, die in der Öffentlichkeit sympathisch und wortgewandt rüberkommen, mache es den Frauen oft besonders schwer, sich Hilfe zu suchen.

Im Fall von Yvonne sind es am Ende die Kameras, die eine Wendung einleiten. Durch Zufall entdeckt sie, dass ihr Mann in der Wohnung mehrere Überwachungskameras platziert hat, um sie zu beobachten. Selbst in dieser Situation stellt sie ihn zunächst nicht zur Rede. Stattdessen sucht sie sich neue Wege in der Wohnung, um der Überwachung zu entgehen. Aber ihr Körper sucht sich sein eigenes Ventil. Von einen Tag auf den andern spürt sie ihre rechte Gesichtshälfte nicht mehr. „Ich sah aus wie nach einem Schlaganfall.“ Yvonne kommt ins Krankenhaus , eine Woche lang muss sie dort bleiben. Sie starrt an die Decke, verlässt ihr Zimmer nicht, wälzt alles hin und her, bis es wehtut. Irgendwann steht ihre inzwischen 14-jährige Tochter vor ihrem Bett und sagt: „Mama, du musst das nicht erleiden. Er wird sich nicht ändern.“ Einen Tag später ruft Yvonne ihren Mann ins Krankenhaus und trennt sich.

Yvonne funktioniert wie ein Roboter

Zwar reagiert Stefan erst mal verständig, stimmt zumindest einer Trennung auf Zeit zu, und Yvonne zieht mit den Kindern erst eimmal zu ihrer Schwester. Aber die Kontrollen gehen weiter, er lauert ihr in Hauseingängen und hinter Gebüschen auf, bedroht sie, schüchtert sie ein. Und dann steht Yvonnes Tochter plötzlich weinend vor ihr und erzählt , was Papa zu ihr gesagt habe: „Ihr werdet ohne Eltern aufwachsen, die eine wird im Grab sein und der andere im Knast.“

Der Satz legt den Schalter um. Yvonne funktioniert wie ein Roboter, ruft den Frauennotruf „24/7“ an. Einen Tag später zieht sie mit ihren drei Kindern in ein Hamburger Frauenhaus. Ein Jahr bleibt sie dort, ein Jahr, um Kraft zu sammeln und um in einem geschützten Raum wieder zu lernen, wie normales Leben geht. Dass sie einen Platz in Hamburg bekommen hat, war reine Glückssache. Laut Petra Schlesiger wären dauerhaft mehr als 200 zusätzliche Plätze nötig , um alle Frauen unterzubringen. Dass demnächst ein neues Frauenhaus mit 30 Plätzen eröffnen soll, sei nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Cansu Özdemir, fordert in einem Antrag 230 zusätzliche Schutzplätze für Hamburg. Das Thema wurde gestern in der Bürgerschaft debattiert (siehe Kasten).

Die Kinder darf er nicht mehr sehen

Yvonne lebt inzwischen mit ihren Kindern in einer hübschen Wohnung im Hamburger Osten, sie hat einen kleinen Job gefunden, die Kinder gehen gern auf die neue Schule. Und jeder würde sich wünschen, dass die Geschichte hier vorbei sein könnte. Aber sie ist es nicht. Yvonnes neue Adresse hat Stefan über die Kinder herausgefunden, die er zumindest anfangs trotz allem noch sehen durfte. „Das Recht ist in vielen Fällen auf der Seite der Väter“, so Petra Schlesiger. „Der Ex-Mann von Yvonne hat vor Gericht glaubhaft machen können, dass er keine Gefährdung für die Kinder darstellt.“

Und dann passierte das: Bei einer Übergabesituation im vergangenen Jahr, die Yvonnes Schwester begleitete, prügelte er diese krankenhausreif. Und vor wenigen Monaten kreuzte er plötzlich auf Yvonnes Geburtstagsparty in einer Bar auf, zerrte sie auf die Straße und schlug sie zu Boden. Partygäste konnten das Schlimmste verhindern. Die Kinder darf Stefan inzwischen nicht mehr sehen, Yvonne darf er sich auf eine Entfernung von 100 Metern nicht mehr nähern. Yvonne hofft, dass sie diese Regelung schützen kann. Echte Sicherheit hätte sie aber nur, wenn Stefan ins Gefängnis käme. Anzeigen haben Yvonne und ihre Schwestern natürlich umgehend erstattet. Verhandelt wurden die Fälle bis heute nicht.