Hamburg . Eine schlampige Elektro-Installation soll einen Vierjährigen das Leben gekostet haben. Die Angeklagten schweigen.

Auf die Treppe zum Harburger Amtsgericht hat jemand aus der Familie des Jungen ein Grablicht und einen Blumenstrauß gestellt. Wer das Gebäude an der Buxtehuder Straße betritt, soll wissen, dass es hier um eine unfassbare Tragödie, um Trauer und ihre Bewältigung geht, sagt ein Angehöriger. Er sagt auch: „Die Familie ist zerstört worden, komplett zerstört.“

Ein Junge ist gestorben. Jonathan. Vier Jahre alt. Durch welche Hölle seine Eltern gegangen sind, offenbart sich am Dienstag in Gerichtssaal 3.06, als David B. erzählt, wie ein Stromschlag seinen Sohn am 31. Mai 2016 in einem Supermarkt das Leben kostete – mutmaßlich weil die beiden angeklagten Ladenbetreiber bei einer Elektro-Installation geschlampt hatten.

Angeklagt sind die Marktleiter, ein Geschwisterpaar

Immer wieder hält der 37-Jährige inne, seine Stimme stockt, und manchmal bricht sie. Als er erzählt, wie Jonathan, die Augen weit aufgerissen und wie erstarrt am Metallgitter neben der Kasse hing. Wie er ihn mit einem Ruck vom Gitter riss und vergeblich seinen Namen brüllte. Am folgenden Tag starb der Vierjährige, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Als ein Rechtsmediziner David B. zu möglichen Vorerkrankungen befragt, etwa ob sein Sohn aus unerfindlichen Gründen mal nicht ansprechbar war oder nicht wach wirkte, antwortet der Zeuge: „Im Gegenteil. Er hat uns immer wachgehalten.“ Es ist das einzige Mal, das ein leises Lachen durch den Zuschauerraum geht.

Die Staatsanwaltschaft hat die Geschwister Türkan D. (48) und Erol A. (44) wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen angeklagt. Als gemeinsame Betreiber des Adesemarktes an der Seevepassage sollen sie entweder selbst oder durch „einen von ihnen beauftragten Dritten“ die Stromleitung für einen LED-Trafo versehentlich so verlegt haben, dass über die Schraube eines Metallschranks Strom in das Metallgeländer neben der Kasse floss. Zudem seien die Arbeiten so dilettantisch und unfachmännisch ausgeführt worden, dass die Mängel auch für Laien erkennbar gewesen seien. Türkan D. und Erol A. schweigen zu den Vorwürfen. Ihre Verteidiger streben einen Freispruch an.

Hässlicher Schlagabtausch zu Beginn des Prozesses

Gleich zu Prozessbeginn liefern sich beide Seiten – Verteidigung und Nebenklage – einen hässlichen Schlagabtausch. Beide Markbetreiber könnten den Schmerz der Eltern nachvollziehen. Sie hätten versucht, ihnen ihr Mitgefühl auszudrücken und wollten an der Trauerfeier für den Jungen teilnehmen – beide Versuche seien gescheitert, sagt Gerald Goecke, der Anwalt von Erol A.. Zudem seien sie bedroht worden. Walter Schäfers, Rechtsvertreter der Eltern, spricht in seiner Replik indes von „bösartigen Unterstellungen“: Es habe nie den Versuch einer Kontaktaufnahme durch die Angeklagten gegeben. In den sozialen Medien seien Zeugen unter Druck gesetzt worden. Und eine Woche nach Jonathans Tod hätten trauernde Kinder aus seiner Kita vor dem Markt Blumen und einen Teddy niedergelegt – der sei jedoch im Müll gelandet.

Als Jonathans Vater David B. in den Zeugenstand tritt, schluchzen einigen Angehörige im Zuschauerraum laut auf. Am 31. Mai, gegen 18 Uhr, kauft der 37-Jährige mit seinem Jungen und dessen jüngerem Bruder in dem Markt Reis und Tee ein. An Kasse vier legt er die Waren aufs Laufband. Jonathan, hinter ihm im Einkaufswagen, fragt: „Papa, darf ich nach vorne kommen?“ Dann hört er nichts mehr. Als sich David B. eine halbe Minute später umdreht, sieht er Jonathan. Ein Fuß ist im Einkaufswagen eingeklemmt, mit der Hand hängt der Vierjährige am Metallgitter, den Kopf auf einen Arm gelegt, die Augen weit aufgerissen. Er habe sich nicht bewegt, kein bisschen, sagt David B. Als der Vater das Gitter berührt, trifft ihn ebenfalls ein Stromschlag. Wie 1000 Nadelstiche am Arm habe sich das angefühlt. Er benötigt viel Kraft und etwa zehn Sekunden, um seine Hand vom Gitter zu lösen.

Rettungswagen traf nach 30 Minuten ein

Die sogenannte Loslasschwelle liegt bei Erwachsenen bei einer Stromstärke von rund 20 Milliampere. Damit Kinder an einer elektrischen Stromquelle haften bleiben, reicht schon die Hälfte. David B. befreit, abermals unter einem enormen Kraftaufwand, seinen um Luft ringenden Sohn. Dann bringt ihn ein Ersthelfer in die stabile Seitenlage. Erst „30 Minuten später“ sei der Rettungswagen eingetroffen. Liegt es daran, dass eine zunächst alarmierte Kassiererin keinen Krankenwagen gerufen hat?, wie David B. andeutet. Der Junge wird erst ins Harburger Mariahilf-Krankenhaus transportiert, am nächsten Morgen kommt er ins UKE, wo ihn die Maschinen künstlich am Leben halten. Für den bereits hirntoten Jungen gibt es keine Hoffnung mehr. Am Abend stirbt er. Wie sich herausstellt, hat er einen vollständigen Herzinfarkt erlitten.

Das Risiko eines plötzlichen Herztods liege bei Deutschen unter 30 Jahren bei 1:100.000, sagt ein Sachverständiger der Hamburger Rechtsmedizin. Sein Institut habe sogar überprüft, ob eine seltene genetische Krankheit oder eine Epilepsie das tödliche Kammerflimmern verursacht haben könnten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit habe Jonathan unter keiner dieser Krankheiten gelitten, eine alternative Todesursache zum Stromschlag sehe er daher nicht.

Der Vierjährige habe keine Vorerkrankungen gehabt, sagt auch seine frühere Kinderärztin im Zeugenstand. Er sei ein kerngesunder Junge gewesen. Ein ganz normaler Junge eben. Ein Urteil wird am 20. November erwartet