Hamburg. „Hinz&Kunzt“ und die Hamburger Tafel: Der Ex-Diakoniechef hat ein Buch über sechs herausragende soziale Projekte geschrieben.
Der eine ist Volker Voigt. Der erste „Hinz&Kunzt“-Verkäufer in Hamburg, der mit seiner Leidenschaft und seinem persönlichen Einsatz wesentlich dazu beigetragen hat, dass sich die neue Zeitung am 6. November 1993 am Gerhart-Hauptmann-Platz und an der Mönckebergstraße überhaupt verkauft hat. „Zunächst tat sich nichts. Die Passanten gingen achtlos vorbei“, erinnert sich Stephan Reimers, der damalige Chef des Diakonischen Werks und Ideengeber für die erste Obdachlosen-Zeitung in Deutschland. „Meine Gefühle kann man sich leicht vorstellen. Wir hatten viel Geld und Zeit investiert, aber die Hamburger schienen mit dem neuen Angebot nichts anfangen zu können.“
Dann aber bildete sich im Eingangsbereich von Karstadt eine kleine Menschentraube. Dort standen Volker und Johannes, der zwölfjährige Sohn von Stephan Reimers. „Sie riefen die neue Zeitung laut aus und redeten mit den Passanten. Die Neuheit musste erklärt werden.“ Die Käufe vor Karstadt wirkten ansteckend. Am Ende des Tages hatten mehr als 6000 Exemplare Käufer gefunden.
1992 gab es 7000 Obdachlose in Hamburg
Die andere ist Marion Gräfin Dönhoff. Die „Zeit“-Herausgeberin hatte im August 1998 einen großen Artikel über „Hinz&Kunzt“ geschrieben. Er begann unter der Erde. In der Passage unter dem Rathausmarkt, die sich, sehr zum Erstaunen der Journalistin, von einem dreckigen dunklen S-Bahn-Eingang in ein helles, blitzsauberes Restaurant verwandelt hatte. Die Rathauspassage.
Volker Voigt und Marion Gräfin Dönhoff. Zwei Hamburger, die nur auf den ersten Blick nicht sehr viel miteinander zu tun gehabt haben. Aber es geht ja selten um den ersten Blick bei Menschen, die etwas verändern wollen und sich nie zufriedengeben mit dem momentanen Zustand einer Stadtgesellschaft. Das ist es wohl, was Stephan Reimers am besten kennzeichnet.
Vor 25 Jahren hat der evangelische Theologe begonnen, den Blick der Hamburger für die Randfiguren der Stadtgesellschaft zu verändern. Oder besser: erst einmal zu schärfen. „Von 1990 bis 1992 sind jährlich eine Million Menschen in die alten Bundesländer zugewandert“, erinnert sich Reimers. Für Hamburg hatte dies zur Folge, dass 1992 mehr als 7000 Menschen im Freien übernachteten. „Auch tagsüber waren sie nicht zu übersehen. Sie sammelten sich in Grüppchen an vielen Stellen der Innenstadt.“ Und die Hamburger? „Die Vorbeigehenden sahen sie in der Regel nicht an, sondern in einer Mischung aus Mitleid und Unbehagen geflissentlich an ihnen vorbei.“
„Die Zeit des Schweigens war vorüber“
Das wollte Reimers nicht akzeptieren. Und der Verkauf von „Hinz&Kunzt“ eröffnete mit einem Mal eine neue Möglichkeit. „Man konnte miteinander sprechen, Anteilnahme ausdrücken und Vertrauen gewinnen. Oft entspannen sich längere Gespräche. Und auch Dialoge mit Schlagfertigkeit, Witz und Humor.“
Die Menschen erfuhren plötzlich etwas voneinander. „Die Zeit des Schweigens war vorüber. Beziehungen zwischen Menschen konnten sich verändern. Das soziale Klima der Stadt erwärmte sich“, sagt Reimers. So mancher Hamburger hat damals sicherlich auch die Lebensgeschichte von Volker Voigt gehört. Im März 1994 hat Stephan Reimers sie noch einmal erzählt.
Auf der Beerdigung auf dem Friedhof Öjendorf erinnerte Reimers an einen Mann, dessen Lebensweg schon sehr früh „sehr steinig“ gewesen ist. „Mit 14 Jahren gerät der Schuljunge in die gnadenlosen Mühlen der DDR-Justiz. Gemeinsam mit anderen hatte Volker Menschen bei der Flucht geholfen. Die Volljährigen wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, er bekam sieben Jahre. Über sein Elternhaus erhält er nur die Information, dass sich seine Eltern damals von ihm distanziert haben. Der als Einzelkind Aufgewachsene gerät in Isolation.
Isolationshaft, Psychoterror und Folter
Er selbst hat von Isolationshaft, Psychoterror und Folter erzählt.“ Nach der Haft wird Volker 1984 in den Westen abgeschoben. „Mit schlechten Startchancen betritt der Neubürger eine Leistungsgesellschaft, die schon damals unter Arbeitslosigkeit in Millionenhöhe leidet. Er hat keine Ausbildung, keine Wohnung, kein Geld, keine Familie. Er nimmt Gelegenheitsjobs auf Jahrmärkten an. Schließlich bekommt er Kontakt zur Drogenszene. Im Sommer 1992 ein neuer Anfang. Volker zieht in das Bodelschwingh-Haus und beginnt eine Drogentherapie.
Die Idee mit ,Hinz&Kunzt‘ fand er gut. Die Zeitung war für ihn eine neue Hoffnung.“ Erst im Nachhinein seien ihnen viele Hinweise bewusst geworden, dass Volker rückfällig geworden war: Die Mietschulden, seine Versuche, sich von allen möglichen Leuten in den letzten Tagen vor seinem Tod Geld zu leihen. „Unser Glaube tröstet, wo die Liebe weint“, hat Reimers gesagt.
Es sind Menschen wie Volker Voigt, die ihn in all den Jahren beeindruckt haben. Dazu gehört auch Marion Gräfin Dönhoff. Bei ihrer Beerdigung im März 2002 sprach Reimers im Michel. „Unsere Gespräche begannen mit Gräfin Dönhoffs Interesse für die Kirchenkaten. Das sind kleine Holzhäuser für Obdachlose, die wir damals auf Gemeindegrundstücken aufstellten. Ihre Anregung war, ob nicht jugendliche Arbeitslose einbezogen werden könnten, um Wohnraum für sich selbst zu schaffen.“ Gräfin Dönhoff wollte, so Reimers, Hoffnung konkret machen und jungen Menschen eine Zukunft eröffnen. „Das waren Herzensanliegen für sie.“ Einer ihrer Lieblingsaussprüche hieß: „So kann es nicht bleiben.“
Zwischen 1993 und 1997 sind in Hamburg insgesamt sechs Projekte für Menschen entstanden, die unter Obdachlosigkeit, Armut und Isolation leiden. Und die Geburtstage der einzelnen Initiativen fielen jeweils auf den 6. November: „Hinz&Kunzt“ (1993) und die Hamburger Tafel (1994), die Kirchenkaten (1995) und das Hamburger Spendenparlament (1995), der Mitternachtsbus (1996) und die Rathauspassage (1997).
Was heute wie eine problemlose Aneinanderreihung von sechs Erfolgsgeschichten klingt, wurde immer auch von Widerständen und drohendem Scheitern begleitet. Etwa als die Hamburger Tafel gegründet wurde. Nach einem Fernsehbeitrag über die Berliner Tafel klingelte bei „Hinz&Kunzt“ pausenlos das Telefon: „Könnt ihr das nicht auch so machen wie diese Berliner Frauen, die überschüssige Lebensmittel sammeln und an Suppenküchen verteilen?“ Dafür reichen die Kräfte einfach nicht, bekamen sie zur Antwort.
Bis Annemarie Dose anrief. Sie meinte es wirklich ernst und baute die zweite Tafel in Deutschland auf. Und Reimers wurde Schirmherr. „Es gab damals auch kritische Wortmeldungen nach dem Motto: Jetzt würden Brosamen von den Tischen der Reichen an die Ärmsten verteilt, statt dafür zu kämpfen, die Regelsätze der Sozialhilfe zu erhöhen. Und am Ende würden dann staatliche Leistungen gesenkt werden, weil es ja nun die Angebote der Tafel gebe.“ Sie haben der Kritik entschieden widersprochen. Sollte es zu Leistungskürzungen kommen, würde die Tafel ihre Arbeit sofort einstellen. „Tatsächlich hat es nie eine ernsthafte politische Diskussion über Leistungskürzungen gegeben“, sagt Reimers.
Fehlende finanzielle Mittel
Auch der Start von „Hinz&Kunzt“ wäre wegen fehlender finanzieller Mittel beinahe fehlgeschlagen. „20.000 D-Mark konnte die Diakonie aus ihren Rücklagen für die Entwicklung von ,Hinz&Kunzt‘ aufbringen. Das Geld war bald aufgebraucht“, sagt Reimers. „Ohne einen Zuschuss der Nordelbischen Synode in Höhe von 50.000 D-Mark wäre die Zeitung ein Traum geblieben. Ich war stolz auf meine Kirche, die wagemutig war, in eine gute Idee zu investieren, deren Erfolg keiner garantieren konnte.“
Die Erfahrung, dass sie fast gescheitert wären, brachte ihn im Dezember 1993 auf die Idee, ein Spendenparlament zu gründen. „Seine Aufgabe bestand darin, dass in Hamburg kein neues, gutes Projekt wegen Geldmangels scheitern muss.“ Heute können neue Initiativen darauf vertrauen, dass „Hinz&Kunzt“ sie bekannt macht und das Hamburger Spendenparlament sie finanziell unterstützt.
Und das sind die Zahlen: 3400 Mitglieder des Hamburger Spendenparlaments erleben derzeit, wie viel mehr sich erreichen lässt, wenn man seine Spenden zusammenlegt. Inzwischen wurden mehr als zwölf Millionen Euro für mehr als 1300 Projektanträge bewilligt. Mehr als 100 Freiwillige der Hamburger Tafel verteilen jede Woche etwa 40 Tonnen Lebensmittel aus der Überflussgesellschaft an bedürftige Menschen. Rund 140 Freiwillige des Mitternachtsbusses teilen sich den Dienst in den 365 Nächten des Jahres. Jeweils vier von ihnen bringen zwischen 20 und 24 Uhr neben Getränken und Essen auch Decken und Isomatten und vor allem menschliche Wärme und Begegnung auf die Straße. Stellvertretend für die Stadtgesellschaft signalisiert ihr Dienst den draußen Bleibenden, so Reimers: „Wir sehen euch. Ihr seid nicht ganz allein.“
Stärkere Zivilgesellschaft
Ist die Zivilgesellschaft also stärker geworden? „Die Überwindung der Ost-West-Spaltung in Europa bewirkte nicht nur militärische Abrüstung, sondern auch eine innere Abrüstung und Entkrampfung“, sagt Reimers. „In einer gefährlichen Konfliktsituation sieht man ein, einem Lager anzugehören, dem vielleicht schon die Eltern verbunden waren. In einer offenen Situation aber zählt viel mehr, was ich selbst als unterstützenswert anerkennen kann.“
Das Wertvollste, was ein Mensch zu verschenken habe, sei seine Zeit. „1997 waren 22 Millionen Menschen ehrenamtlich tätig, 2017 sind es 31 Millionen.“ Ja, sagt Reimers, die Zivilgesellschaft sei stärker geworden. „,Hinz&Kunzt‘ und seine Geschwister haben auch wegen dieses Mentalitätswandels einen so großen Zuspruch gefunden.“ Die im Buch beschriebenen Projekte ermutigten Menschen am Rand der Gesellschaft, neue Anfänge zu wagen. Und Spender erlebten, wie viel sich bewirken lässt, wenn man gemeinsam handelt. „Die Kultur freiwilligen Helfens in Hamburg steht auf festen Füßen.“
Und noch ein Mensch hat Stephan Reimers in all den Jahren sehr beeindruckt. Nach einer Veranstaltung in der Evangelischen Akademie, die er zehn Jahre geleitet hat, begleitete er eines Abends Ida Ehre von der Esplanade nach Hause zu ihrem weißen Patrizierhaus an der Hallerstraße, in dem die Theaterintendantin wohnte. Auf dem Weg dorthin erzählte er ihr von einer fast gescheiterten Veranstaltung in der Akademie mit dem damaligen Wirtschaftssenator Volker Lange und Hafenstraßen-Bewohnern.
Pädagogischer Impuls
„Wir hatten ihre Haustür erreicht, als ich bekannte, dass ich mich mit meiner auf Ausgleich bedachten Natur in der Rolle des Moderators ganz wohlfühlte“, schreibt Reimers. Da traf ihn ihr flammender Blick und ihr Abschiedswort: „Streit ist etwas Herrliches, lieber Herr Reimers!“ Dieser Satz, sagt Reimers, sei ein pädagogischer Impuls gewesen, der Streitbereitschaft in der eigenen Seele mehr Raum zu geben und sie positiver zu werten.
„Streit suchen wollte ich nicht, als ich mich für die Diakonie entschied, was ich schon suchte, war mehr Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse, als es Akademiediskussionen erreichen können“, schreibt er. Ein Wort der Theologin Dorothee Sölle bei einem Gespräch in der Akademie hatte sich bei ihm eingeprägt: „,Da kann man nichts machen‘ ist ein ganz und gar gottloser Satz.“