Hamburg. Die Entscheidung der Essener Tafel hat eine deutschlandweite Debatte ausgelöst. Wie ist die Situation in Hamburg? Ein Ortstermin.
Von oben herab, nee, das geht gar nicht. Das will niemand. Und hätten sie ihn hier wie einen Bittsteller behandelt, wäre Max Reinke gleich wieder gefahren. Er hätte sich auf sein Tourenrad mit eigenem Nummernschild gesetzt und wäre umgekehrt. Günstiges Essen sei wichtig, aber Würde sei wichtiger. Seit einem Unfall vor zehn Jahren ist Max Reinke Hartz-IV-Empfänger, darf wegen starker Schmerzmittel kein Auto fahren. Das Rad ist seine Mobilitätsversicherung, und die Hamburger Tafel ein Angebot, das er gern annimmt. „Aber verhungert wäre ich mit Hartz IV auch nicht.“
Es ist 16 Uhr, als sich der kleine Gewerbehof an der Schimmelmannstraße in Jenfeld füllt. Der Arbeiter-Samariter-Bund betreibt in dieser schmucklosen Flachbaugruppe eine Essensausgabe als Kooperationspartner der Hamburger Tafel. Vor der noch verschlossenen Tür sammeln sich die ersten Bedürftigen. Fast alle haben einen Einkaufsroller, den sogenannten Hackenporsche, dabei. Nur Max Reinke biegt mit Fahrrad und Rucksack um die Ecke. Er ist erst das zweite Mal da. Natürlich hat er von der bundesweiten Aufregung um den Aufnahmestopp für Ausländer bei der Essener Tafel gehört.
Die deutschlandweite Debatte hatte die Essener Tafel damit ausgelöst, Bedürftigen ohne deutschen Pass keine neuen Bezugskarten für Lebensmittel auszustellen. Der Anteil der ausländischen Kunden sei auf 75 Prozent gestiegen, dadurch würden ältere Menschen sowie Alleinerziehende verdrängt. Zuvor hatte es offenbar wiederholt Auseinandersetzungen an den Ausgabestellen gegeben. Christian Tack, Geschäftsführer der Hamburger Tafel, hatte danach eine Bevorzugung an Hamburgs Ausgabestellen ausgeschlossen. Jetzt bekräftigt er noch mal: „Das gibt es bei uns nicht!“
Dosierter Einlass entspannt die Situation
In Jenfeld, wo Bedürftige einmal pro Woche für zwei Euro gespendete Lebensmittel einkaufen können, ist schon alles aufgebaut. Es duftet nach Backwaren, Kisten mit Gemüse, Dressing und Joghurt stehen aufgereiht bereit. 15 Ehrenamtliche, viele selbst bedürftig, sortieren das Essen vorher und teilen es später ein. Kurz vor dem Einlass wird noch ein Türsteher gesucht. „Wer macht das heute?“, fragt Detlef Hapke. „Susann, du?“ Und Susann Katsotis macht’s.
„Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ein dosierter Einlass von drei bis vier Leuten gleichzeitig die Situation entspannt“, sagt Hapke. Er ist Vize-Chef des Hamburger Arbeiter-Samariter-Bundes, ein zugewandter, ruhiger Mann, bei dem die Fäden zusammenlaufen. Seit einem halben Jahr öffnet er in Jenfeld für etwa 100 Bedürftige die Türen.
Draußen hat Max Reinke inzwischen sein Fahrrad geparkt. Er trägt einen Hut, den er neulich aus dem Keller gekramt hat und erst mal wieder zurechtbiegen musste. Die großen Tüten sind noch in seinem Rucksack, seine Hände braucht er für Gehstützen. Früher hat er als Schlosser gearbeitet, seit seinem Unfall bezieht er mal Rente, mal Hartz IV. Gerade ist wieder ein Rentenantrag abgelehnt worden. „Große Sprünge sind da nicht drin“, sagt er. Reinke ist 59 Jahre alt, trägt seine grauen Haare zum Zopf gebunden und führt heute seine Bartperlen aus. Fast macht es den Anschein, als hätte er sich für seinen Tafelbesuch herausgeputzt.
Flüchtlinge, Rentner und Alleinerziehende
In der Warteschlange vor der Ausgabe ist er eine Erscheinung. Mit ihm stehen andere Hartz-IV-Empfänger, Flüchtlinge, Rentner, Alleinerziehende und all die anderen an, die nicht so viel Glück im Leben hatten. Grundsätzlich kann jeder einen Tafel-Ausweis erhalten, wenn er Sozialleistungen bezieht. „Wir akzeptieren aber auch alle anderen, die weniger als 900 Euro im Monat haben“, sagt Detlef Hapke.
Natürlich habe sich in den umliegenden Flüchtlingsunterkünften herumgesprochen, dass es hier günstiges Essen gibt. „Ich tippe, wir haben 50 Prozent deutsche und 50 Prozent ausländische Bedürftige.“ Der Umgang sei unkritisch, was Hapke auch auf die klaren Regeln des Ausgabesystems zurückführt.
Wer dreimal unentschuldigt fehlt, wird von der Liste gestrichen. Rauchen, ungebührliches Verhalten und Betrug sind tabu. „Wir hatten jemanden, der für drei Personen einkaufen wollte, obwohl er alleinstehend war“, berichtet Hapke. Solche Leute fliegen raus. Schon bei der Anmeldung werden die Bedürftigen nach Zufallsprinzip in sechs Gruppen von A bis F eingeteilt.
Die Ausgabezeiten der Gruppen wechseln wöchentlich, sodass jeder mal als Erster, mal als Letzter dran ist. Durch das Rotationsprinzip könne sich jeder darauf einstellen und es gebe keinen Ärger, keinen Zank. „Alle wissen, dass sie in der nächsten Woche wieder früher dran sind“, sagt Hapke.
Vor der Tür fragt Max Reinke: „Seid ihr auch Gruppe F?“ Eine Frau nickt, die anderen sind heute früher dran. Da es feste Zuteilungen gibt, kennen sich die meisten, was den Ablauf entspannt. Auch Reinke hat schon Leute kennengelernt. Kurz nachdem er sich in die Schlange eingereiht hat, klopft ihm Hartmut Schneider auf die Schulter. Später wird er mit einer Ehrenamtlichen über die Vorzüge von Schokocroissants philosophieren. Auch dafür ist Raum.
Streit ist Mentalitäts- und Persönlichkeitsfrage
Es ist ja jede Woche eine Überraschung, was im Angebot ist. „Letzte Woche habe ich ein Drei-Kilo-Fass Gurken bekommen“, sagt Reinke. Dazu Blumenkohl und Kartoffeln. „Habe ich drei Tage von gelebt.“ Dass es – wie in Essen – auch mal Streit oder Gedränge geben könnte, sei bei der Vielzahl der Bedürftigen nachvollziehbar. „Wie immer, wenn Menschen anstehen, ist das eine Mentalitäts- und Persönlichkeitsfrage“, sagt Reinke.
Im Essener Fall hatte Angela Merkel die Unterscheidung von deutschen und ausländischen Bedürftigen kritisiert. „Da sollte man nicht solche Kategorisierungen vornehmen“, sagte die Kanzlerin. Die Mehrheit der Deutschen hielt die Kritik für nicht berechtigt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mahnte zu einer differenzierten Sicht. „Die Politik muss Sorge dafür tragen, dass es nicht zu einer Konkurrenz der Bedürftigen kommt.“ Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte, Not dürfe nicht nach Herkunft hierarchisiert werden.
Der Geschäftsführer der Hamburger Tafel will die Entscheidung in Essen nicht verurteilen, da er die genauen Umstände nicht kenne. Die beiden Tafeln verbinde viel, sagt Christian Tack.
„Es tut uns in der Seele weh, dass mehr als 20 Jahre gute Arbeit in Essen durch negative Schlagzeilen vergessen wird.“ Der steigende Zahl der Bedürftigen in Hamburg – 2016 waren es 15.000, aktuell sind es 20.000 – werde die Tafel noch gerecht. Ob sich der Trend fortsetzt, sei unklar. Eine weitere Ausgabestelle in Winterhude sei in Planung.
Mit der Tafel bleibt von wenig Geld mehr übrig
Von der noch jungen Tafel in Jenfeld hat Max Reinke zufällig auf Facebook erfahren. Eigentlich hatte er online nach einem Rucksack gesucht. „Aber wie das so ist – man findet immer was ganz anderes.“ Dass die Ausgabe in der Nähe seines Wohnortes liegt, war für den Gehbehinderten von Vorteil. Über die Ehrenamtlichen vor Ort kann er nur Gutes sagen. „Das sind alles nette Leute.“ Keiner behandelt ihn von oben herab.
Es sind Leute wie Annett Assmann. Sie habe einen christlichen Hintergrund, deshalb seien ihr ehrenamtliches Engagement und Nächstenliebe nicht fremd. „Ein bisschen Gutes tun“, nennt sie das. Heute betreut sie die Obstkisten. „Was darf’s denn sein?“, fragt sie, und stört sich nicht daran, dass nur wenige Danke sagen. Dafür gingen 90 Prozent mit großer Dankbarkeit im Gesicht nach Hause.
Ein kurzer Dank sei kein Problem für Max Reinke. Mehr Überwindung habe es ihn gekostet, sich überhaupt bei der Tafel anzumelden. Das sei typisch, sagt Detlef Hapke. Manchen fällt es da leichter, Hilfe anzunehmen. „Alleinstehende und Ältere kommen leider nur wenig.“ Das sei auch eine Generationenfrage. Dabei könnten in Jenfeld mehr Menschen versorgt werden. Bisher würden vor allem Familien mit ausländischen Wurzeln kommen. Eine ungünstige Unwucht oder Verteilungskämpfe der Klientel sei aber nicht zu erkennen.
Bei Bevorzugung wären Spenden ausgeblieben
Hellmut Bauer, stellvertretener Vorsitzender der Hamburger Tafel, musste nach den Schlagzeilen aus Essen erst mal viele Spender beruhigen. „Bei einer Bevorzugung hätten sie aufgehört, zu spenden“, sagt er. Dabei gehe es bei der Arbeit der Tafel darum, den finanziellen Spielraum der Bedürftigen, ungeachtet ihrer Herkunft, zu erhöhen, um sie vor der Isolation und Vereinsamung zu bewahren. „Wenn die Leute Geld für Lebensmittel sparen können, ist vielleicht auch mal ein Besuch im Café mit Freunden finanziell drin“, so Bauer.
Für Max Reinke ist der Einkauf bei der Tafel ein kleines Glück, fast wie ein Marktbesuch. In seinen Tüten landen Zucchini, Tomaten, Mandarinen, Kaffee, Brot, Wasser und Eis. Auch er kann durch das Angebot Geld sparen, sagt er, bevor er alles im Rucksack und den Radtaschen verstaut. Denn einen Traum für das beiseitegelegte Geld, den hätte er ja schon. Ein Elektrofahrrad, das wär’s.