Hamburg. Die bekannte Straße ist viel mehr als nur eine Verkehrsachse im Hamburger Westen. Ein neues Buch stellt sie vor.
Sie ist keine Straße, sondern eine Chaussee. Man könnte sie auch als Visitenkarte Hamburgs bezeichnen. Das von und zu einer Stadt gewissermaßen, mit einem Namen, bei dem mancher auch in der Fremde ganz ehrfürchtig guckt.
Elbchaussee, das ist – mehr als alles andere – Heimat Hamburg und große weite Welt in einem. Vieles hat sich in den vergangenen Jahrzehnten an der 8,6 Kilometer langen Achse durch den Westen der Stadt verändert, nicht immer nur zum Guten. Und vieles ist auch erstaunlich gleich geblieben.
Endlich gibt es ein neues Buch, das auf 400 Seiten die lesenswerten Anekdoten aus alten Zeiten und die aktuellen Betrachtungen zusammenführt und damit das ganze Phänomen erfasst. Das erzählt, wie die Elbchaussee wurde, was sie ist – und wie es voraussichtlich mit ihr weitergehen wird. „An der Elbchaussee wurde Hamburgs Rang in der Welt definiert, gelebt und zur Schau gestellt“, schreibt Autor Svante Domizlaff im Vorwort: „Diese großbürgerliche Lebensweise bildet den Kern des Mythos Elbchaussee.“
Hoffmanns Buch ist in die Jahre gekommen
1937 veröffentlichte der Altonaer Chronist Paul Theodor Hoffmann ein Standardwerk „Die Elbchaussee. Ihre Landsitze, Menschen und Schicksale“. Mehrmals neu aufgelegt, aber kaum aktualisiert, steht es heute in unzähligen Bücherschränken überall in den Elbvororten. Hoffmann hat Großes geleistet. Über viele Seiten listet er nicht nur die Baugeschichte einzelner Villen auf, sondern dokumentiert auch so ziemlich alle Besitzerwechsel im Laufe der Jahrzehnte. Eine Fleißarbeit, der man die Liebe zum Sujet in jeder Zeile anmerkt. Doch dieses Buch ohne Fotos ist in die Jahre gekommen, sein gravitätischer Stil ermüdet Leser heute schnell.
Svante Domizlaff greift einiges aus Hoffmanns Buch auf, aber er knüpft nicht einfach da an, wo der Vorgänger aufhörte. Selbst Bekanntes beleuchtet er neu, und sein Text ist forscher geschrieben, aber auch interessanter zu lesen. Das liegt daran, dass Domizlaff andere Akzente setzt, was sogar längst Vergangenem ein erstaunliches Maß an Aktualität und nicht selten auch Brisanz verleiht. Auch bietet das Buch viele noch nie erzählte Geschichten und Fotos, die keinen Betrachter kaltlassen können.
Ein einziges großes Dorf
Eine der verblüffendsten Informationen im Buch, die für viele neu sein dürfte, liefert der Autor ziemlich am Anfang: „Fasst man Ottensen, Othmarschen, Groß und Klein Flottbek, Nienstedten, Hochkamp, Dockenhuden, Blankenese, Falkenstein und Teile von Sülldorf unter dem Begriff ,Elbvororte‘ als eine Region auf, deren Schlagader die Elbchaussee bildet, so findet man hier das weltweit größte zusammenhängende städtische Villenareal überhaupt.“ Ein einziges großes Dorf, wie viele Ortsansässige meinen, sind die Elbvororte damit schon lange nicht mehr. Sondern eine Stadt mit ihren vielen Facetten.
Namen und Begriffe tauchen auf, die es bei Hoffmann noch nicht gab, nicht geben konnte: Peter Rühmkorf, Stöter-Villa, Airbus, Augustinum, Peter Tamm.
Es ist vor allem die Geschichte der einzelnen Landsitze, die den Autor (und die Leser) fasziniert. Domizlaff erzählt, was aus ihnen geworden ist – zum Beispiel aus der Säulenvilla (Nummer 186), dem Landhaus Roosen (Nummer 388) und der Villa de Freitas (Nummer 239). Letztere strahlt seit der Überarbeitung durch Stararchitekt David Chipperfield in unglaublicher Pracht. Aktuelle Innenaufnahmen gibt es zwar nicht, aber die ausführlichen Schilderungen sprechen für sich. Unter anderem wurden für die Wiederherstellung der zentralen Halle eine massive Beton-Zwischendecke und zwei Treppenaufgänge abgetragen.
Gut gehütetes Geheimnis
Viele Einblicke haben die oft sehr namhaften Eigentümer Svante Domizlaff vor Ort gewährt. In etlichen Familienalben durfte er offenkundig blättern, manches gut gehütete Geheimnis notieren. Dokumentiert wird das alles von einem gelungenen Mix aus zum größten Teil noch nie gezeigten alten Aufnahmen und den spektakulären aktuellen Fotos von Michael Zapf. Und es ist diese Mischung aus Text und Fotos, die das Thema Elbchaussee mit Leben füllt. Das Treppenhaus im Landhaus Vorwerk und die Rotunde im Landhaus Baur, zwei Abbildungen von insgesamt 333 (!), hat man so noch nie gesehen: unglaublich stilvoll und trotz ihres Alters verblüffend zeitlos.
Erstaunlich bieder von innen und außen wirkt dagegen das Haus Nummer 197, das der Getreide-Tycoon Alfred Toepfer 1936 für seine Eltern bauen ließ. Die laut Domizlaff einzige Backsteinmauer der Elbchaussee (zutreffender ist wohl: eine der ganz wenigen) schirmt es gegen die bis zu 45.000 Autos ab, die hier täglich vorbeidonnern. „Die Elbchaussee-Region war und ist immer ein Spiegel der wirtschaftlichen Kraft der Hansestadt Hamburg“, heißt es in dem Buch. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Hamburg immer wohlhabend war – und noch immer ist: Die Elbchaussee bezeugt es. „Die Straße, die die Welt bedeutet“, nennt Domizlaff die Elbchaussee, und sein Buch macht deutlich: Übertrieben ist das nicht.
Doch bei allem Glanz: Leider wird das Bild der Straße an vielen Stellen von beliebig aussehenden Mehrfamilienklötzen neueren Datums geprägt, die auch an anderen Stellen Hamburgs oder sonst wo stehen könnten – da trägt auch der Elbblick nicht zur Verschönerung bei. Domizlaff beschreibt sie als „sehr weiß, sehr eckig, sehr elegant, sehr teuer“.
Diese Vermarktung der Prachtstraße setzte schon viel früher ein, als manchem bekannt sein dürfte. Bereits unmittelbar nach der Weltwirtschaftskrise 1929 ließen etliche Besitzer ihre Villen in Wohnungen unterteilen, um die zunehmende Besteuerung zu umgehen und Mieten zu kassieren.
Und auch das ist ein Stück Zeitgeschichte, das Domizlaff nicht ausspart: die Enteignung und Vertreibung der jüdischen Eigentümer. Im Gesellschaftshaus Groth, das an der heutigen Einmündung Liebermannstraße stand, wurde der beschlagnahmte jüdische Besitz gesammelt und zur Begutachtung ausgestellt. „Und die ehemaligen Nachbarn konnten sich günstig mit Raubgut eindecken“, schreibt der Autor.
Domizlaff, selbst an der Elbchaussee aufgewachsen, dokumentiert auch, wie schnell altgediente Nazis im Gesellschaftsleben der Nachkriegszeit in den feinsten Kreisen vor Ort wieder Tritt fassen konnten. Dabei nennt er Namen und erläutert Zusammenhänge, an die mancher vermutlich nicht gerne erinnert werden möchte.
Beschreibungen mit hintersinnigem Humor
„Die Zeit des Nationalsozialismus wurde an der Elbchaussee bis heute nicht aufgearbeitet“, so der Autor. Gut, dass er jetzt nachliefert.
Domizlaff bietet einen flott geschriebenen, sehr gut recherchierten Abriss der Elbchaussee-Geschichte, die sich mal glamourös, mal von Tragik umweht zeigt. Immer wieder verblüfft der Autor dabei mit hintersinnigem Humor. „Ein verdeckt eingebauter Fahrstuhl erleichtert den Aufstieg“, heißt es da, oder auch: „In den Elbchaussee-Häusern sind Bücher eher die Ausnahme.“
Es waren übrigens nicht, wie der Autor schreibt, „findige Lokaljournalisten“, die den lange verschollenen Besitzer der Säulenvilla 2016 in Monte Carlo ans Telefon bekamen, sondern nur einer. Und zwar vom Hamburger Abendblatt. Am Dienstagabend wurde das Werk öffentlich vorgestellt: stilecht im Poolhaus Blankenese. Mit dabei waren viele, deren Familiennamen im Buch stehen.
„Einige der schönsten historischen Häuser und die meisten Parks sind längst sozialisiert und der Öffentlichkeit zugänglich“, schreibt Svante Domizlaff. Für die Parks trifft das zu und auch für das Jenischhaus und ein paar Bürovillen. Wahr ist aber auch, dass sich die meisten Anwesen nach wie vor hinter hohen Hecken und Zäunen verbergen, manche sind dank Überwachungskameras und elektrisch schließender Tore sogar noch abweisender als früher.
Es ist das Verdienst von Domizlaff und Zapf, nicht nur über diese Zäune und Mauern geblickt zu haben, sondern auch durch die oft gewaltigen Haustüren gelangt zu sein. Was sie dort entdeckt und dokumentiert haben, macht ihr Werk zu mehr als einem Bildband. Es ist faktisch ein Kulturschatz von ganz besonderem Wert.