Hamburg. Ich war gerade aus der U 2 ausgestiegen, als ein Mann an mir vorüberhastete. Hier stimmte etwas nicht.

Was soll man denken, wenn jemand in einem Affentempo an einem vorbeirennt? Ich war gerade aus der U 2 am Jungfernstieg ausgestiegen, als ein Mann an mir vorüberhastete – auf dem Kopf eine Mütze, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, er war in Sekundenschnelle wieder weg. Der muss was geklaut haben, dachte ich. Ich blickte ihm vom Bahnsteig aus hinterher, als er die Treppe hocheilte, dann drehte ich mich nach links um, ob vielleicht ein Verfolger in ähnlichem Tempo hinterherkäme.

Manchmal gibt es Situationen, in denen man das Gefühl hat, hier stimmt etwas nicht. Aber da war niemand. So schnell läuft man nicht, wenn man nur den nächsten Bus kriegen will, dachte ich noch. Kaum war ich an den Alsterarkaden auf dem Weg zum Spätdienst, hörte ich Sirenen. Und es wurden immer mehr. Ein Anruf bei einem unserer Polizeireporter half mir nicht weiter. Er saß gerade als Prozessbeobachter im Gericht und wusste nichts von einem größeren Einsatz.

Die Lage war unübersichtlich

Trotzdem ging ich wieder zurück. Inzwischen parkte ein Polizeiauto am Jungfernstieg. „Nur Routine“, sagten mir die Beamten, als ich nach dem Grund für die vielen Sirenen fragte. Doch dazu passte nicht, dass mehrere Feuerwehrautos herbeirasten – einige kamen vom Ballindamm und fuhren in die Bergstraße, andere kamen von dort und fuhren Richtung Jungfernstieg. Die Lage war unübersichtlich. Als ein Rettungshubschrauber landete, wurde mir klar, dass hier etwas ganz und gar nicht Routine war. Inzwischen hielten auch mehrere Feuerwehrfahrzeuge vor der Haltestelle Jungfernstieg. Ich ging den Rettungskräften in ihren orangefarbenen Jacken und Hosen und den Feuerwehrleuten in Schwarz mit Neonstreifen und Helmen einfach hinterher – hinunter in die Station. In so einem Moment hält einen tatsächlich niemand auf, stellte ich fest.

„Messerangriff auf Frau und Kind“ rief ein Mann, der gerade die Treppe hochkam, dem Sanitäter oder Notarzt zu, als dieser nach unten zu den S-Bahn-Gleisen lief.

Niemand schickte mich weg

Die S-Bahn stand noch da – mit offenen Türen. Ganz vorn am Bahnsteig lag jemand auf dem Boden, mehrere Menschen knieten darum herum. Niemand schickte mich weg. Dafür erklärte ich immer wieder S-Bahn-Fahrgästen, die nichtsahnend in die Bahn steigen wollten, dass hier bis auf Weiteres kein Zug mehr fahren werde.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit wurde der Bahnsteig gesperrt. Einsatzkräfte führten eine Frau, die sich unter einem Mantel versteckt hielt und von Weinkrämpfen geschüttelt wurde, nach oben. Wenig später kam der Notarzt und fragte einen Hochbahnmitarbeiter nach einem Fahrstuhl. Doch den gibt es an dieser Stelle der Station nicht. Und so mussten die Einsatzkräfte die Trage mit Sandra P., die niedergestochen worden war, im Laufschritt über die Treppe nach oben schleppen – vorbei an den Augen der Passanten. Blut tropfte von der Trage.

Absolute Fassungslosigkeit

Während Sandra P. in einem Krankenwagen versorgt wurde, entdeckte ich eine kleine Gruppe von Polizisten. Eine Frau hielt einen kleinen Jungen auf dem Arm. Er trug eine dunkle Pudelmütze mit bunten Streifen auf dem Kopf und wirkte völlig verstört. Aus den Gesprächsfetzen wurde klar, wer dieser Junge war: Es war der drei Jahre alte Sohn des Mordopfers, der bei der Tat auf dem Bahnsteig dabei war. Sein Gesicht, das absolute Fassungslosigkeit und Nichtverstehen ausdrückte, geht mir bis heute nicht aus dem Kopf. Und die Frage, wie es diesem kleinen Jungen, dem vor seinen Augen seine Mutter genommen wurde, geht.

Seit Anfang Oktober 2018 läuft der Prozess gegen Mado Bido M., einen Flüchtling aus Niger, der angeklagt ist, seine ehemalige Lebensgefährtin San­dra P. und die gemeinsame 21 Monate alte Tochter an diesem 12. April 2018 auf dem Bahnsteig ermordet zu haben.

Als ich am Tag nach dem Verbrechen ein Foto von M. direkt nach seiner Festnahme sah, wusste ich, wo ich den Mann schon mal gesehen hatte. Er war derjenige, der so schnell an mir vorbeigerannt war. Direkt nach der Tat.