Hamburg. Rund 850 Wohnungen entstehen in Eidelstedt neben der A 23. Die CDU kritisiert Planänderungen und warnt vor Gettobildung.
Für einen Moment tauchen die acht Wohnblöcke direkt neben der Autobahn auf, verschwinden dann wieder wie Möbelgigant Höffner auf der gegenüberliegenden Seite im Rückspiegel. Doch diese Sekunden reichen in diesen Wochen vielen Autofahrern, um zu grübeln: Entstehen dort wirklich Wohnungen? Unmittelbar an der A-23-Abfahrt Eidelstedt?
Der Weg zur Antwort auf diese Frage führt an einem sonnigen Freitag an den Hörgensweg, der Spaziergang von der gleichnamigen Haltestelle der AKN dauert nur wenige Minuten. Um die hell verklinkerten Gebäude mit Balkonen und bodentiefen Fenstern wuseln Bauarbeiter. Mitte Oktober werden etwa 300 Flüchtlinge in die 73 für sie errichteten Wohnungen der ersten beiden Blöcke einziehen. Zwei Monate später sollen dann auch die 291 Sozialwohnungen in den benachbarten sechs Gebäuden bezugsfertig sein, jedes acht Stockwerke hoch.
Das Interview zum Thema
Wenn alles klappt, werden auf der Brachfläche, einst Heimat einer Gärtnerei, etwa 1000 Bewohner das erste Weihnachtsfest in ihrem neuen Quartier verbringen – vom kleinen Flüchtlingsjungen aus dem Irak bis zum betagten Hamburger Rentnerehepaar. Und das ist erst der Anfang. Schon 2019 erfolgt der Spatenstich für den zweiten Bauabschnitt. Auf dem Areal entstehen dann noch einmal rund 500 Wohnungen, ein Mix aus geförderten und frei finanzierten Mietwohnungen.
Die CDU spricht von einem „finanziellen Desaster“
Kann das funktionieren? Direkt zwischen Autobahn und den Bahnlinien der AKN? Wie unter einem Brennglas zeigen sich am Hörgensweg in Eidelstedt alle Chancen und Risiken der Integration und der wachsenden Stadt. Während der rot-grüne Senat vom Gelingen fest überzeugt ist, warnt die oppositionelle CDU vor einem neuen sozialen Brennpunkt und spricht von einem „finanziellen Desaster auf Kosten der Steuerzahler“.
Doch um zu verstehen, was dort eigentlich in Eidelstedt passiert, braucht es einen Blick zurück in den Sommer 2015, der die Republik so veränderte. Der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab, der Senat tagt im Dauerkrisenmodus, Asylsuchende werden in Container-Dörfern und leerstehenden Baumärkten einquartiert. Hektisch fahndet die Stadt nach jedem Quadratmeter Boden, auf dem man Expresswohnungen errichten könnte.
Das Gelände an der Autobahn in Eidelstedt rückt schnell in den Fokus, erste Pläne sehen Massenunterkünfte für 3000 Asylsuchende vor. Anwohner protestieren, Diskussionsabende werden zu hitzigen Tribunalen – auch für Staatsrat Matthias Kock von der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen. In der Julius-Leber-Schule wütet bei einer Informationsveranstaltung eine Anwohnerin: „Wir wollen nicht, dass Sie uns 3000 Flüchtlinge vor den Latz knallen!“
Die Stadt zahlt einen Ausgleich für die Umplanung
Fast zweieinhalb Jahre später plaudern Staatsrat Kock und Kurt-Ove Schroeder, Geschäftsführer des Immobilien-Unternehmens Fewa, über den Baufortschritt. Kock lobt den Bauherrn, spricht von exzellenten Lösungen. Schroeder gibt das Kompliment zurück: „Die Zusammenarbeit mit der Behörde war optimal.“ Die Zeit der großen Proteste scheint vorbei, der Hörgensweg macht keine Schlagzeilen mehr. Denn statt 3000 werden nur noch 300 Flüchtlinge einziehen. Für sie reichen zwei statt der geplanten acht Gebäude des ersten Bauabschnitts.
Aber können sich Menschen nur 40 Meter von der Autobahn entfernt wirklich einmal wohlfühlen?
Bauherr Schroeder deutet auf eine durchsichtige, 21 Meter hohe Kunststoffwand vor den Gebäuden, Schallschutz der neuesten Generation. In einer Wohnung öffnet er ein Kastenfenster mit zwei hintereinander angeordneten Scheiben. Die vordere kann an der oberen Kante auf Kipp gestellt werden, die hintere an der unteren Kante.
Die Schallwellen legen einen gewundenen Weg zurück, der Geräuschpegel sinkt. Entwickelt wurden diese Fenster für die HafenCity, wo der Güterverkehr die Nachtruhe mancherorts so stören würde, dass Wohnen gar nicht erlaubt wäre. Nun schützen sie die Wohnungen am Hörgensweg. Zudem will der Bund im kommenden Jahr an der Autobahn eine Lärmschutzwand bauen, Flüsterasphalt als neuer Belag soll folgen.
Eine Blaupause für die Stadtentwicklung
Aber schon jetzt empfindet man den tosenden Verkehr der Autobahn selbst bei geöffnetem Fenster als kaum störend. Wer an der Stresemannstraße in einem Altbau wohnt, dürfte mehr unter Verkehrslärm leiden als die künftigen Bewohner am Hörgensweg. Schroeder sieht das Projekt dann auch als Blaupause für die Stadtentwicklung der Metropole: „Bislang hatte die Stadt bestimmte Flächen aus Lärmschutzgründen gar nicht auf dem Schirm. Wir zeigen, dass Wohnen auch direkt an der Autobahn sehr wohl möglich ist.“
Und doch zeigen gerade die HafenCity-Fenster, wie teuer es werden kann, wenn mitten im Bauprozess umgeplant wird. Ursprünglich waren nur dreifach verglaste Fenster vorgesehen, der etwas niedrigere Schallschutz hätte für Flüchtlingsunterkünfte rechtlich gereicht. wobei Kock wichtig ist, dass der Lärmschutz dennoch menschenwürdig gewesen wäre. Bei normalen Wohnungen schreibt der Gesetzgeber jedoch deutlich strengere Richtwerte vor. Also finanzierte der Senat für 1,4 Millionen Euro den Einbau von HafenCity-Fenstern für das gesamte Ensemble. „Wir konnten die Pläne zum Glück in letzter Minute noch ändern“, sagt Schroeder.
In einem anderen Punkt war das nicht mehr möglich. Flüchtlingsunterkünfte, in aller Regel höher belegt als normaler Wohnraum, müssen mit speziellen Treppenhäusern ausgestattet werden. Dieser Sicherheitsstandard – extrem aufwendig durch separate Schächte, Notstromaggregate, Lichtkuppeln und Schalträume – wäre nur für die beiden Gebäude, die mit Flüchtlingen belegt werden, erforderlich gewesen. Doch die Fewa baute auch in die sechs Blöcke mit Sozialwohnungen dieses Schutzsystem ein – die Planänderung kam zu spät.
Heißner (CDU) spricht von „finanziellem Desaster“
Jetzt zahlt die Stadt 15 Jahre Monat für Monat einen Baukostenzuschuss von 63.105 Euro – auch als Ausgleich dafür, dass sich die Fewa selbst um die Vermietung der Sozialwohnungen kümmern muss, bei Flüchtlingen kümmert sich mit „Fördern und Wohnen“ ein Tochterunternehmen der Stadt. „Der Investor wird so gestellt, dass ihm keine Nachteile dadurch entstehen, dass der ursprünglich geschlossene Mietvertrag nicht erfüllt wird“, heißt es in einer Mitteilung der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen.
Philipp Heißner, CDU-Bürgerschaftsabgeordneter des Wahlkreises, spricht von einem „finanziellen Desaster zulasten des Steuerzahlers“. Er sagt: „Rot-Grün hat hier Millionen aus dem Fenster geworfen. In jedem Unternehmen wäre nach so einem Vorgang der Vorwurf der Untreue zu prüfen.“ Staatsrat Kock spricht dagegen von einer „Notsituation“. Der Investor wäre sonst womöglich abgesprungen: „Dieses Risiko konnten wir nicht verantworten. Uns war es wichtig, die Flüchtlinge auch im Sinne der Integration so schnell wie möglich aus den Erstunterkünften herauszuholen.“ Im Übrigen sei die Unterbringung in Containern deutlich teurer für den Steuerzahler.
Heißner kann das nicht überzeugen: „Es war ein großer Fehler, dass der Senat Mietverträge unterschrieben hat, in denen das Gegenteil von dem stand, was er zeitgleich in den Bürgerverträgen versprochen hat. So hat der Senat die Stadt in eine extrem schlechte Verhandlungsposition manövriert.“
In die Flüchtlingsunterkünfte sollen vor allem Familien ziehen
Doch abseits aller Kostendiskussionen bleibt die eine Frage, ob hier an der Autobahn zusammenwachsen kann, was vielleicht gar nicht zusammengehört. Werden auf den Innenhöfen Freundschaften geschlossen? Oder sorgen die unterschiedlichen religiösen, sozialen und ethnischen Bindungen für Streit? Staatsrat Kock ist optimistisch: „Das wird funktionieren, zumal in den beiden für Flüchtlinge reservierten Gebäuden vor allem Familien mit großer Bleibeperspektive untergebracht werden.“
Schroeder verweist auf die Expertise seines Unternehmens: „Wir bauen seit Jahren vor allem im geförderten Wohnungsbau. Wir wissen, worauf wir bei der Mischung in einem solchen Quartier achten müssen.“ Zudem habe die Fewa im Gegensatz zu anderen Investoren kein Interesse an einem Verkauf: „Wir denken als Familienunternehmen langfristig, halten unsere Wohnungen im Bestand. Entsprechend sorgfältig entwickeln wir ein Quartier.“ Wohnen mit Parkett, Aufzügen und Tiefgaragen für nur 6,50 Euro kalt den Quadratmeter – das klingt in der Tat attraktiv auf dem geförderten Wohnungsmarkt – wie ein Sechser im Lotto.
Die Herausforderungen bleiben dennoch hoch. Die Fewa hat sich verpflichtet, 50 Wohnungen für „vordringlich Wohnungssuchende“, also auch für Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, zu reservieren. Zum Lackmustest für das Projekt werden die frei finanzierten Wohnungen, die für eine Quadratmeter-Miete von etwa neun Euro angeboten werden sollen. Wirklich attraktiv für Wohnen an der Autobahn? Oder droht Leerstand?
Heißner befürchtet Gettobildung und soziale Spaltung
Heißner bleibt skeptisch: „Dieses Quartier wird zu Gettobildung führen und soziale Spaltung verstärken.“ Das gesamte Projekt sei eine Fehlplanung, geschuldet der Vorgabe des Senats, dass die Bezirke jedes Jahr eine feste Anzahl neuer Wohnungen nachweisen müssen: „Viel besser wäre es gewesen, auf eine kleinere, gemischte Bebauung, etwa auch mit Reihenhäusern für Familien, zu setzen. Aber leider hat sich der Bezirk Eimsbüttel dem Druck des Senats gebeugt.“
Zudem entstehe das Quartier in einem ohnehin sozial benachteiligten Viertel: „In Harvestehude oder Blankenese gibt es genügend Rechtsanwälte, die alles daran setzen würden, ein solches Projekt zu stoppen. Hier werden viele ihren Protest bei der Wahl mit einem Kreuz für die AfD ausdrücken.“
Auch Horst Klemeyer, Sprecher der Initiative „Sozial gerechtes Eidelstedt“, spricht von einer „völlig unüberlegten Stadtplanung“. Man überfordere ein Quartier mit einem solch hohen Hartz-IV-Anteil: „Starke Schulten tragen nun einmal mehr.“
Die Künstler am Hörgensweg erhalten neue Räume
Staatsrat Kock sieht das anders. Er verspricht: „Wir werden gemeinsam mit dem Investor alles daran setzen, dass hier ein lebendiges und gut funktionierendes Quartier entsteht.“ Er holt ein dicht beschriebenes Papier aus seiner Aktenmappe. Es geht um die Fördermaßnamen im Rahmen des Programms Integrierten Stadtentwicklung (RISE). 2016 wurde Eidelstedt aufgenommen – auch wegen des neuen Quartiers.
Jetzt wird ein Nachbarschaftshaus erweitert, Künstler erhalten neue Räume. Eine Begegnungsstätte wird gebaut, ebenso Bolz- und Spielplätze. Auch umliegende Schulhöfe profitieren. Ohnehin nimmt eine Kita in der Flüchtlingsunterkunft ihren Betrieb auf, eine weitere Kita wird gebaut. Initiativen-Sprecher Klemeyer warnt dennoch. Er sagt: „Statt mit viel Geld mögliche Sozialprobleme zu reparieren, wäre es besser, sie gar nicht erst entstehen lassen.“
Bauherr Schroeder nervt die Kritik: „Da reden auch Leute mit, die sich nicht wirklich mit unserem Projekt beschäftigt haben.“ Dabei hätten sich schon jetzt viele Interessenten gemeldet, obwohl man die Wohnungen noch gar nicht offiziell vermarkte. „Entscheidend ist auf dem Platz“, zitiert Staatsrat Kock zum Abschied eine Fußballer-Weisheit.
Nur dass diese Spiel nicht 90 Minuten dauern wird. Sondern viele Jahre.