Hamburg. Vor 65 Jahren begann der Bau der Ost-West-Straße. Kritiker hatten vor einer so aggressiven Schneise durch die Innenstadt gewarnt.
An Warnungen hatte es nicht gefehlt. Als im September 1953 der Bau der Ost-West-Straße am Rödingsmarkt begann, gab es jede Menge kritische Stimmen. Zu breit sei die Schneise, die da durch Hamburgs City geschlagen werden sollte, befanden etliche Experten, zu unkoordiniert sei die Planung, zu unklar das eigentliche Ziel.
Dabei schien die Ausgangslage für ambitionierte Stadtplaner zunächst ideal: Zum einen hatte es Überlegungen für eine solche Achse schon seit Jahrzehnten gegeben, sodass die Öffentlichkeit für ein derartiges Projekt aufgeschlossen war – in Zeiten zunehmenden Autoverkehrs mehr denn je. Zum anderen hatten die massiven Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs in der Innenstadt so viele Freiflächen hinterlassen, dass – Glück im Unglück – der Bau der neuen Straße eine geradezu natürliche Sache zu sein schien. Man würde die Brachen quasi miteinander verbinden und hätte die drohenden Verkehrsprobleme vor Ort ein für alle Mal behoben.
Warner behielten recht
Die Warner haben recht behalten. Die 2,5 Kilometer lange, sechsspurige Verkehrsachse, deren westlicher Abschnitt seit 1991 Ludwig-Erhard-Straße heißt und deren östlicher Teil 2005 den Namen Willy-Brandt-Straße erhielt, ist heute vor allem eines: eine gesichtslose Durchgangsstraße mit dem Charme einer kleinen Autobahn.
Die Überlegungen, Hamburgs Stadtgebiet durch eine breite, quer verlaufende Achse verkehrstechnisch stärker zu erschließen und dabei den dicht bebauten Gängevierteln vor Ort mehr Licht und Luft zu verschaffen, sind viel älter, als man heute vermuten würde, und auf faszinierende Weise griffen sie immer wieder aufs Neue ineinander.
Kontorhäuser wurden einfach abgerissen
Schon 1911 (!) hatte es erste Pläne für eine ost-westlich verlaufende Straße durch die Innenstadt gegeben. Der Architekt und Stadtplaner Wilhelm Fränkel entwarf damals eine „Tangentialstraße“, die vor allem den Verkehrsfluss von Straßenbahn und Lieferverkehr verbessern sollte. Während der NS-Zeit entwickelte das Büro um Konstanty Gutschow, ebenfalls Architekt und Stadtplaner, im Rahmen eines Wettbewerbs die Gestaltung einer „Ost-West-Durchgangsstraße“. Bei ihren Überlegungen knüpften Gutschow und sein Team an Fränkels Ideen an, sodass beide Projekte einander in groben Zügen ähnelten.
Wegen des Kriegsbeginns unterblieb der Ausbau Hamburgs zu einer von fünf „Führerstädten“ – und auch die neue Straße wurde nicht mehr ausgeführt. Nach 1945 übernahm der frühere Stadtbaurat von Altona, Gustav Oelsner, die Planung, wobei er zum Teil wiederum auf Vorarbeiten von Gutschow und dessen Mitarbeitern zurückgriff.
Zentrale Überlegung
Die im Februar 1953 vorgestellten Teilbebauungspläne legten den Straßenverlauf fest. Um das Projekt schneller verwirklichen zu können, wurden der Bau der Ost-West-Straße und ihre Randbebauung getrennt entwickelt, was dazu führte, dass einige Jahrzehnte später architektonisch wenig ansprechende „Monolithen“ die 36 Meter breite Achse flankierten. Das erste Teilstück ab Rödingsmarkt wurde 1956 fertiggestellt, das vierte und letzte zwischen der Neuen Gröningerstraße und dem Deichtorplatz 1963. Nach rund zehn Jahren waren die Arbeiten an der Ost-West-Straße abgeschlossen. Sektkorken knallten damals nicht.
Weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass die neue Straße beileibe nicht nur über unbebaute Brachen geführt werden konnte. Wie Michael Wawoczny in seinem Buch „Der Schnitt durch die Stadt“ zeigt, wurden vor allem im Osten, nahe Chilehaus und Gröningerstraße, Dutzende alte Gebäude abgerissen, die den Krieg weitgehend unbeschädigt überstanden hatten, darunter Wohn- und Kontorhäuser. Auch Gröninger- und Brauerstraßenfleet fielen dem Bau zu Opfer. Man schüttete sie kurzerhand zu und nahm auch auf gewachsene Platzstrukturen keine Rücksicht.
Eine zentrale Überlegung hinter dem Ganzen: Die neue Achse sollte die City vom Autoverkehr entlasten, der – so die Vorstellung – über sie „abfließen“ könne. Wie kleine Adern sollten die Seitenstraßen dafür mit der Hauptschlagader verbunden sein, das Gesamtkonstrukt während der Stoßzeiten einen zügigen Verkehrsfluss ermöglichen. Fakt ist, dass viele Abzweigungen heute durch ein komplexes Einbahnstraßensystem kaum noch mit der Riesenstraße verbunden sind. Und da etliche Pendler die City ohnehin vor allem mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder per Rad ansteuern und zum Beispiel auf der Mönckebergstraße kaum noch Autos fahren, ist das auch nicht mehr wirklich nötig.
Ergebnis: Statt für den Innenstadtverkehr werden Willy-Brandt- und Ludwig-Erhard-Straße mehr denn je lediglich zum zügigen Durchfahren Hamburgs genutzt, unzähligen Lkw dienen sie dabei als Ersatz für die lange versprochene Hafenquerspange.
Umgestaltung steht nicht auf der Prioritätenliste
Dazu hat auch die Planung unter dem früheren Oberbaudirektor Egbert Kossak beigetragen. Denn der Verzicht auf Ladengeschäfte und die Verlegung der meisten Hauseingänge in die Seitenstraßen unterstrich die Botschaft noch: Hier wird nur durchgefahren.
Auch eine weitere Befürchtung, die schon 1953 geäußert wurde, ist eingetreten: Auf geradezu aggressive Weise trennt die Straße den Süden vom restlichen Teil der Innenstadt. Nicht selten kann man heute Touristen antreffen, die neben der vom Lärm umtosten Gedenkstätte St. Nikolai herumirren und ortskundige Passanten fragen, ob es denn „drüben“ noch weitergehe und wie man denn halbwegs sicher zum Hafenrand gelange.
In den vergangenen Jahren hat es immer wieder Pläne gegeben, die ehemalige Ost-West-Straße durch Umgestaltung so zu „entschärfen“, dass in ihrem Umfeld neue Lebensqualität entstehen kann. An kühnen Ideen hat es nicht gefehlt (siehe Kasten), aber bislang sind alle im Sande verlaufen. Die Stadt setzte andere Projekte auf die Prioritätenliste, ließ sich zum Beispiel die (keineswegs letzte) Umgestaltung des Rathausmarkts im Jahr 1982 fast 40 Millionen Mark kosten. Aktuell gibt Hamburg Milliarden für die Transformation zur „Fahrradstadt“ aus – und an der ehemaligen Ost-West-Straße bleibt alles, wie es ist.