Hamburg. Zur Saisoneröffnung brillierte Antú Romero Nunes mit einer kraftvollen und rauschhaften „Orpheus“-Inszenierung. Ein Theatermärchen.

Wir leben in geschwätzigen Zeiten. Manchmal kann es da wohltuend sein, einfach mal die Klappe zu halten. Mehr als eine halbe Stunde dauert es, bis im Thalia Theater in Antú Romero Nunes’ „Orpheus. Eine musische Bastardtragödie“, jener freien Aneignung des bei Ovid und Vergil beschriebenen antiken Mythos, das erste Wort fällt. „Wer redet, verliert das Geheimnis“, heißt es später auf der Bühne. Das Wort wird zwar zunächst vermisst, aber die Bilder mit Tanz, Musik und Gesang sprechen eine eigene, kraftvolle Sprache. Die Uraufführung des Hausregisseurs Nunes liefert einen glanzvollen Start in die Saison, in der das Theater sein 175. Jubiläum feiern wird.

Die Liebe ist ein, sie braucht ein Geheimnis. Auch jene von Orpheus und Eurydike. Lisa Hagmeister ist als weiblicher Orpheus kein Lyra schwingender Mensch, Tier und sogar Steine betörender Sänger, sondern ein androgyn, zartstimmig französische Chansons hauchender Popstar. Marie Löcker wiederum gibt Eurydike nicht als liebenswerte, schöne und duldsame Nymphe, sondern als rotlockig burschikose, taubstumme Geliebte. Auf der Drehbühne stolpern die beiden Frauen ineinander. Und können fortan nicht mehr voneinander lassen. Nunes erzählt ihre Liebe als Rausch aus Nähe und Vertrautheit. Allein, es bleibt natürlich nicht so.

Die Götter: ein liederlicher Männer-Haufen

Die schlichte Drehbühne mit kreisendem Piano und viel Nebel gibt der Inszenierung früh etwas Traumartiges. In ihm erscheinen die Olymp-Bewohner wie Projektionen des Geistes. Sie wollen wie immer ein Wort mitreden. Bei Nunes sind die Götter ein ziemlich lieder­licher, die weiß und golden gekalkten Muskeln spreizender Männer-Haufen. Der Olymp ist eine Techno-Wummerbude, und der innere Kompass der Tanzwütigen zeigt Richtung Hedonismus: mit Sebastian Zimmler als rauschhaftem Dionysos, Sven Schelker als zartfühlendem Künstlerästhet Apollon, Bekim Latifi als redegewandtem Bote Hermes. Pascal Houdus als Zeus aber ist der schlimmste von allen. Von Exzess zu Exzess eilend ist ihm die Liebe nichts als eine Lüge, die es auszumerzen gilt.

Aber es ist Dionysos, der Eurydike verfolgt, vergewaltigt und hinterm Piano meuchelt. Umhüllt von einer Plastikplane wird Eurydike in einer starken Szene von der Welt des Lichts in jene der Dunkelheit gesogen. Orpheus’ Gesänge klingen danach noch verzweifelter, bevor sie beschließt, angefixt vom lustvoll-sinnlichen Amor Björn Meyers, den Weg in die Unterwelt anzutreten und die Geliebte zurückzuholen. „Du wusstest doch, dass das irgendwann vorbei ist“, wirft ihr Amor um die ­Ohren.

Ja, natürlich. Die Liebe ist immer tödlich, wie der Dramaturg Carl Hegemann in seinem „Plädoyer für die unglückliche Liebe“ einst schrieb. Entweder für die Liebenden oder für die Liebe. Sie ist aber auch die schönste Ablenkung von der Gewissheit ewiger Dunkelheit.

Von Eurodisco umspielter Totentanz

Dieser „Orpheus“ ist ein von Eurodisco und zartem Folk umspielter Totentanz. Gespeist von wundervoll auf- und abwogender Musik, komponiert und präsentiert von Anna Bauer und Johannes Hofmann, gespielt zusätzlich von einer fünfköpfigen Frauenband.

Mit Fabulierlust und einem erstklassigen Ensemble inszeniert Nunes gegen die Todesangst und auch den Fatalismus der Götterwelt an. Setzt dem Grau der Welt einen fantasievoll-farbigen Gegenkosmos entgegen. Dem Misstrauen gegenüber der Vernunft die Macht des Gefühls. Über das Tänzerische, Musikalische und Spielerische findet der Abend zu seiner Form, deren Ästhetik sich weg vom Volkstheater und dem Slapstick-Humor früherer Nunes-Arbeiten bewegt.

Im Hades angekommen kriechen schwarzgewandete Wesen um die Götter. Die Inszenierung jongliert mit allerlei Pop-Verweisen, etwa wenn Amor eine Auswahl „Ma­trix“-Pillen zum Weltenwechsel bereithält. Und im Totenreich ist Raum für ein wenig Nihilismus, wenn die Götter mit Friedrich Nietzsche über die Unausweichlichkeit des Endes räsonieren und mit Friedrich Schiller über die Schönheit. Zwar verharren die Texte in einem etwas willkürlichen Nebeneinander, das aber konsequent.

Sinnliches Theatermärchen

Das Wunder der Begegnung jenseits der Grenze des Totenreiches findet statt. Allerdings scheitern die Liebenden gleich zweifach. Einmal tut Orpheus das Einzige, was sie in der Dunkelheit nicht tun soll, sie dreht sich um. Beim zweiten Versuch, den der Abend ihr immerhin lässt, marschieren Orpheus und Eurydike eine gefühlte Ewigkeit hintereinander her. Bis Orpheus die verstummende Eurydike erst an das Schweigen und schließlich an die ewige Finsternis verliert.

„Orpheus“ ist ein sinnliches und lange nachwirkendes Theatermärchen, von dem man sich wünscht, es möge ewig so weitergehen.

„Orpheus. Eine musische Bastardtragödie“ nächste Vorstellungen 14.9., 19.9., 28.9., 5.10., jeweils 20.00, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44;
www.thalia-theater.de