Hamburg. Jörn Nürnberg betreibt die Kneipe, in der Frauenmörder Fritz Honka Stammgast war. Jan Haarmeyer über einen Kultwirt.

Aus den Lautsprechern dröhnt „Penny Lane“ von den Beatles, hinten in der schummrigen Ecke trinken sie Holsten Edel aus Flaschen, am Tresen wird Cola-Bacardi ausgeschüttet, vorn rechts knutscht ein verliebtes Pärchen. Es ist zwölf Uhr mittags an einem Dienstag, und im Goldenen Handschuh am Hamburger Berg auf St. Pauli läuft das Bier schon schneller als die Zeit.

Als Baby hat Jörn Nürnberg hier die ersten zwölf Monate seines Lebens in einem Zimmer mit seinen Eltern verbracht. 58 Jahre ist das jetzt her. Heute sind dort die Damen-Toiletten. Es gibt wohl niemanden, der diesen Laden besser kennt als Jörn.

Der Goldene Handschuh ist eine sogenannte Kult-Kneipe. Vor Jahren hat Jörn über dem Eingang ein Schild anbringen lassen. „Honka-Stube“ steht jetzt über der Tür. An einem normalen Wochentag ist hier wenig Kult, dann versammeln sich Ureinwohner, Kneipengänger, Kiezarbeiter, Nachbarn.

Besuchergruppen lassen sich von Fritz Honka erzählen

Doch seit der Autor Heinz Strunk sein gleichnamiges Buch über den minderbemittelten Frauenmörder Fritz Honka geschrieben hat, ist der Goldene Handschuh ein richtiger Anschauungsort geworden. Und nun wird auch noch Regisseur Fatih Akin mit seiner Romanverfilmung dazu beitragen, dass die Honka-Stube europaweit Bekanntheit erfährt. Gerade sind die Dreharbeiten zu Ende gegangen, Akin hat die Kneipe originalgetreu nachbauen lassen. Nächstes Jahr soll der Film im Kino laufen.

So viel Hype um Honka und den Handschuh. Schon jetzt kommen die Besuchergruppen in Jörns Laden und lassen sich auf den zahlreichen St.-Pauli-Führungen die Gruselgeschichten über Fritz Honka erzählen. Dazu gibt es ein Getränk. Der Werftarbeiter und Nachtwächter ermordete zwischen 1970 und 1975 vier Gelegenheits-Prostituierte, die er im Goldenen Handschuh aufgegabelt hatte. Er nahm sie zu sich nach Hause in die Zeißstraße 74 in Ottensen mit, zerstückelte sie und versteckte die Leichenteile in seiner Wohnung.

Jörn Nürnberg erzählt, dass sein Vater den Stammgast „Fiete“ Honka nie besonders gemocht hat. Jörn ist groß von Statur, hat breite Oberarme und ein freundliches Gesicht, das vielleicht manchen Gast in den letzten Jahrzehnten etwas in die Irre geführt hat. „Der Klügere gibt nur so lange nach, bis er der Dümmere ist“, sagt er und erzählt, dass er noch nie einer Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen ist. Wenn es denn sein musste. Einmal musste er sich gegen drei Angreifer wehren, einer hat ihm einen Barhocker auf dem Rücken zertrümmert, das schmerzt noch heute.

Nürnbergs Großvater war Profiboxer

Schon als Kind hat Jörn Boxen gelernt. Kein Wunder, denkt man, bei dem Opa. Herbert Nürnberg, Gründer des Goldenen Handschuhs, war ein Meisterboxer. Zweimal Europameister der Amateure, als Profiboxer gewann er nach dem Krieg von 74 Kämpfen 51, davon 25 durch K. o. Herbert Nürnberg hatte das Frühstückslokal 1955 von einem älteren Ehepaar übernommen. „Die hatten die leckerste Ochsenschwanzsuppe in Hamburg“, sagt Jörn.

Sein Opa liebte die Suppe – und die alten Leute. Als die ihm eines Tages erzählten, dass sie von drei Männern in ihrem Laden bedroht werden, nahm sich Herbert der Sache an. „Es ging wohl um Schutzgeld“, sagt Jörn. Nürnberg passte die drei Typen ab, verprügelte zwei von ihnen, der dritte suchte das Weite. „Die sind nie wiedergekommen.“

Als Kind, sagt Jörn, sei er ziemlich chaotisch gewesen. Vom Hamburger Berg zog die Familie zuerst in einen Schrebergarten nach Bahrenfeld, von dort nach Iserbrook. Nach dem Hauptschulabschluss machte Jörn eine Lehre als Restaurantfachmann im Bahrenfelder Forsthaus. „Ich war dort der erste Lehrling.“ Und der, der seine Abschlussprüfung verhauen hat, weil er statt um 8.15 Uhr erst um 8.45 Uhr in der Berufsschule an der Angerstraße erschienen war. „Jede Minute Verspätung bedeutete einen Punkt Abzug.“ Sein überaus verständnisvoller Chef hat ihn trotzdem übernommen, aber gleichzeitig darauf bestanden, dass er die Prüfung ein halbes Jahr später wiederholt. „Das habe ich ihm geschworen – und auch geschafft.“

Anfangs war der Handschuh ein Frühstückslokal

Jörn Nürnberg arbeitete später im Ratsweinkeller und im Café Gustav Adolf an den Großen Bleichen. Irgendwann fragte ihn sein Vater, ob er nicht mal für ein halbes Jahr im Handschuh aushelfen könne. Der Onkel war gestorben, sie brauchten dringend Unterstützung. „Ich habe erst abgelehnt: Vadder, das ist überhaupt nicht mehr meine Welt.“ Natürlich kannte er den Laden, hatte hier schließlich mit seinem Opa regelmäßig Klabberjass gespielt. Anfangs war der Goldene Handschuh ein Frühstückslokal, das an sieben Tagen in der Woche um vier Uhr morgens öffnete und mittags geschlossen wurde.

Mit dem Rauchverbot verschwanden die Speisen, dafür verlängerten sich die Öffnungszeiten. Nun hat die Kneipe an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr auf. Es gibt Flaschenbier. Holsten und Astra für 2,20 Euro. Schnäpse kosten genauso viel. Korn 1,50 Euro, Mexikana 1,30 Euro. „Wir arbeiten in drei Schichten“, sagt Jörn. Aus dem halben Jahr wurde sozusagen lebenslänglich. Irgendwann hat er die Regie übernommen.

Als er den Laden noch zusammen mit seinem Bruder Sascha führte, hatte er meist die Frühschicht. „Wenn ich morgens um vier Uhr anfing, habe ich noch nicht die Sprache der Gäste gesprochen.“ Ein, zwei Wodka halfen, die Verständigungsprobleme zu überwinden.

Das Besondere an dem Kiezlokal

Was ist das Besondere am Handschuh? „Die Vielseitigkeit der Gäste“, sagt er. Junge und Alte, Arme und Reiche. „Der Assi und der Anwalt“, sagt er. „Hier kommen Leute ins Gespräch, die sonst nichts miteinander zu tun haben.“ Was ist das Wichtigste in der Gastronomie? „Es geht zuallererst um Freundlichkeit und Toleranz.“ Und um Sauberkeit. „Das A und O, auch wenn das vielleicht auf den ersten Blick nicht so aussieht, wenn man reinkommt.“ Jörn legt Wert darauf, dass seine Mitarbeiter immer frische Klamotten anhaben.

Inzwischen gehören Jörn und Sascha die drei nebeneinander liegenden Häuser („Baujahr 1905, hier kannst du mit dem Akkuschrauber durch die Wand bohren“) am Hamburger Berg. „Vor 20 Jahren bekamen wir das Angebot, die Häuser mit rund 20 Wohnungen zu kaufen.“ Sein Vater und sein Onkel wollten sich nicht verschulden. Aber Jörn hat sich durchgesetzt. „Wenn wir das nicht selbst kaufen, bricht uns das das Genick“, hat er gesagt. Sie haben alles Geld zusammengekratzt, an dem Millionenkredit werden sie noch einige Jahre abzahlen müssen. „Aber das war die beste Entscheidung“, sagt Jörn, der in zweiter Ehe verheiratet ist, das Paar hat zusammen vier Kinder.

Nun vermieten sie die Wohnungen. Zu moderaten Preisen. Auch deshalb, weil Jörn sieht, wie alte St. Paulianer aus dem Viertel verschwinden, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. „Wir haben viele Wohngemeinschaften, und die jungen Leuten müssen unterschreiben, dass sie der Lärm aus den drei Kneipen nicht stört.“ Außer dem Handschuh gehören ihnen der Knallermann und das Rockcafé, die Sascha führt.

Klare Regeln für die Gäste

Wie sehr hat sich der Kiez in den letzten Jahrzehnten verändert? „Ich muss immer lachen, wenn die Leute noch vom Rotlichtviertel sprechen“, sagt Jörn. Heute gebe es vielleicht noch drei Sexshops: das Dollhouse, das Laufhaus, das Pulverfass – und die Herbertstraße. „Ansonsten Kioske, Kneipen, Dönerbuden, Gastronomie, Theater, Varieté, Musikläden.“ Das könne aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass St. Pauli immer noch ein hartes Pflaster sei. Jörn vermutet, dass wohl jeder Zweite in irgendeiner Form bewaffnet sei. Wenn es Stress im Laden gibt, lässt sich Jörn zuerst die Hände zeigen. In den vergangenen 30 Jahren, sagt er, habe er rund 30 Anzeigen wegen Körperverletzung bekommen, auch wenn die Auseinandersetzungen nie von ihm ausgegangen sind.

„Aber manche Gäste brauchen klare Regeln.“ Wenn eine Frau Nein sage, „dann ist das auch ein Nein“. Werde sie dann nicht in Ruhe gelassen, „ist bei mir Schluss“. Dann fliegen die Gäste raus, egal aus welchem Land die kommen. Auch wenn jemand klaut oder Drogen konsumiert, hat er in dem Laden nichts zu suchen. Offene Rechnungen gebe es auch nicht. „Wir kassieren immer gleich.“

Daran hat sich in all den Jahren nichts geändert. Und weil einige in diesem Stadtteil der Meinung sind, dass Veränderungen eher schädlich sind, soll St. Pauli nun als Weltkulturerbe quasi unter Artenschutz gestellt werden? „Waren nicht auch mal die Dänen hier?“, fragt Jörn amüsiert zurück. Man kann auch sagen, dass früher auf dem Spielbudenplatz die Seehunde tanzten und heute die Türme. Leben bedeute Wandel, und die Kunst liege darin, sich darauf einzustellen.

Andererseits zieht gerade der Goldene Handschuh für viele seine Faszination daraus, dass er versucht, sich dem Wandel zu verweigern. Das klappt ganz gut. Aber nicht immer. „Auch wir haben heute zehn verschiedene Biersorten“, sagt Jörn.