Hamburg. Beim Fernwärme-Rückkauf geht die SPD auf Distanz. Droht jetzt der Bruch von Volksentscheid und Koalition?

Man kann den Satz getrost als letzte Warnung vor der großen Eskalation verstehen. Und so verstanden die Zuhörer ihn wohl auch. „Wenn das die Position der Finanzbehörde ist“, sagte der grüne Umweltsenator Jens Kerstan am Donnerstag im Energienetzbeirat – „dann haben wir sehr, sehr großen Gesprächsbedarf.“

Adressat der Drohung, so berichten es Teilnehmer, war der beim Treffen in der Umweltbehörde anwesende SPD-Finanzsenator Andreas Dressel. Der hatte nämlich gerade darauf hingewiesen, dass niemals überprüft worden sei, ob der Volksentscheid von 2013 über den Rückkauf der Energienetze überhaupt rechtens war. In den Chaoswochen nach Ende der schwarz-grünen Koalition 2010 hatte der CDU-Senat nicht vom Verfassungsgericht klären lassen, ob es erlaubt ist, das Volk über den Rückkauf von Strom-, Gas- und Fernwärmenetz abstimmen zu lassen, obwohl es um immense Summen geht.

Netz offenbar nur noch 645 Millionen Euro wert

Nein, nein, beeilte sich der stets um Harmonie bemühte Hüne Dressel in der Sitzung und im Nachgang zu sagen: Er wolle nicht die Verbindlichkeit des Entscheids infrage stellen. „Gleichwohl kann das nicht heißen, dass der Volksentscheid die Stadt zur Ausübung der Kaufoption bei der Fernwärme quasi um jeden Preis verpflichtet - der Wortlaut des Volksentscheids fordert nur zulässige Maßnahmen“, so Dressel am Freitag. „Deshalb prüfen wir jetzt mit externer Unterstützung insbesondere die verfassungsrechtliche, haushaltsrechtliche, beihilferechtliche und auch die strafrechtliche Zulässigkeit.“

Konkret heißt das nach Abendblatt-Informationen: Der Münchner Jurist Stefan Korioth soll für die Finanzbehörde feststellen, ob die Stadt nach Strom- und Gas- jetzt auch das Fernwärmenetz zurückkaufen darf. Das wurde zwar beim Volksentscheid 2013 beschlossen. Allerdings ist das Netz, das zu 74,9 Prozent Vattenfall gehört, laut Gutachten nur noch 645 Millionen Euro wert ist – die Stadt müsste aber einen 2014 vereinbarten Mindestpreis von 950 Millionen Euro an den schwedischen Energiekonzern zahlen.

Einhaltung der Landeshaushaltsordnung

Bei der Frage, ob es der Stadt erlaubt ist, dermaßen überteuert zu kaufen, geht es laut Dressel zum einen um die Einhaltung der Landeshaushaltsordnung, die wirtschaftliches Handeln verlangt. Zweitens müsse man prüfen, ob der Kauf zu überhöhtem Preis von der EU als unerlaubte Beihilfe gewertet werde, so Dressel. Und drittens wolle er nicht wegen Untreue vor den Kadi.

Das Scharmützel zwischen den alten Fahrensleuten Kerstan und Dressel in Wilhelmsburg ist nur ein weiteres Indiz dafür, wie sich SPD und Grüne beim Thema Fernwärme voneinander entfernen. Dabei geht es nicht nur um Rechtsfragen und Steuermilliarden. Es geht anderthalb Jahre vor der Bürgerschaftswahl auch um Parteipolitik.

Vier Annahmen der SPD

Die SPD und ihr bisher als wenig durchgreifend wahrgenommener neuer Bürgermeister Peter Tschentscher wollen unbedingt den Eindruck vermeiden, sie ließen sich von den Grünen am Nasenring durch die energiepolitische Manege zerren. Der Umbau der Fernwärme dürfe nicht zu steigenden Preisen für die Wähler der SPD in den Großsiedlungen führen, so die Ansage.

Bürgermeister Tschentscher scheint eine Lösung zu bevorzugen, bei der Vattenfall im Boot bleibt – und die Stadt auf die 2014 vereinbarte Option zum Rückkauf verzichtet. Die Überlegungen der SPD-Spitze fußen dabei auf vier Annahmen. Erstens sei der Rückkauf für einen um fast 50 Prozent überhöhten Preis politisch nicht vermittelbar – unabhängig von der Rechtslage. Zweitens würden vom Rückkauf nur die Grünen profitieren.

„Es gibt keinen halben Volksentscheid“

Drittens brauche die Stadt die Vattenfall-Expertise für den Umbau der Fernwärme, wenn das Kraftwerk Wedel abgeschaltet und durch neue Anlagen ersetzt werden muss. Ohne Vattenfall würde es nämlich womöglich noch teurer – am Ende auch für die Kunden. Und viertens habe Vattenfall doch nun davon Abstand genommen, das Kohlekraftwerk Moorburg an die Fernwärme anschließen zu wollen. Man könne die klimafreundliche Wärmewende also auch mit den Schweden erreichen.

Die Grünen sehen das anders. „Es gibt keinen halben Volksentscheid“, heißt es aus deren Führungszirkel. „Wenn die SPD versucht, die Umsetzung zu verhindern, kommen wir da alle nicht heil raus.“ Mithin: Ein Bruch des Volksentscheids wäre für die Grünen ein Bruch der Koalition.

Volksentscheid aushebeln, ohne ihn zu brechen?

Die Genossen haben aber nicht nur ein Problem mit der täglich selbstbewussteren Ökopartei, die sich nach dem Dürre-Sommer als Retterin von Weltklima und Volkswillen in Szene setzen will. Die SPD will auch nicht den Eindruck aufkommen lassen, Volksentscheide seien ihr egal – wie es die CDU beim LBK-Verkauf durchexerziert hat.

Deswegen setzen Tschentscher und Dressel große Hoffnung auf das Gutachten des Münchner Professors Korioth. Der könnte ihr Dilemma auflösen. Sollte er den Rückkauf unter den aktuellen Bedingungen nämlich als unzulässig einstufen, müsste die Stadt nicht kaufen – und der Volksentscheid wäre trotzdem erfüllt. Denn der verlangt lediglich die Umsetzung aller „zulässigen“ Schritte für die Rekommunalisierung. Sollte der Kauf nicht zulässig sein, bliebe es bei den Eigentumsverhältnissen. Und man könnte mit Vattenfall die neuen, von Kerstan geplanten klimaschonenden Anlagen bauen.

Dressel will eigenen Gutachter

Damit müssten dann auch die Grünen leben. Danach aber sieht es bisher nicht aus. Denn auch Kerstan wartet dieser Tage hoffnungsfroh auf ein Gutachten. Die Expertise der Firma LBD soll zeigen, dass der Rückkauf bei einer umfassenden Kosten-Nutzen-Analyse auch zum hohen Mindestpreis sinnvoll ist – wegen Synergieeffekten beim Betrieb der Netze für Strom, Wasser, Gas und Fernwärme und weil Hamburg seine Klimaziele nicht günstiger als über die Wärmewende erreichen könne.

Dressel will das Kerstan-Gutachten durch eigenen Gutachter gegenprüfen lassen – so groß ist das Vertrauen eben nicht. Im Gegenzug soll auch Dressels Korioth-Expertise von einem Zweitgutachter gegengecheckt werden. Es scheint fast so, als würden SPD und Grüne einen Gutachter-Krieg führen. Der immerhin dürfte Ende November zu Ende sein. Dann läuft die mit Vattenfall vereinbarte Frist zum Rückkauf ab. Es sei denn, alle Beteiligten einigen sich vorher darauf, sie zu verlängern. Dann behielte die Stadt die Option, die Fernwärme zu einem späteren Zeitpunkt zu kaufen – und Vattenfall bliebe vorerst als Partner im Geschäft.

Angesichts der verfahrenen Lage könnte das Verschieben der Entscheidung glatt als elegante Lösung durchgehen. Falls die Grünen mitspielen.