Hamburg. Vor 60 Jahren wurde die die Dreimastbark der Bundeswehr getauft. Das Leben an Bord ist anstrengend, es gab mehrere Todesfälle.
Die Taufe verlief weihevoll, wie es sich gehört. Zehntausende Schaulustige an der Pier feierten begeistert den Täufling. Die Taufrede hielt Rudolf Kinau, ein Bruder des 1916 gefallenen Schriftstellers Gorch Fock. Und die Sektflasche ließ Ulli Kinau, dessen 14-jährige Nichte, am Bug zerschellen, nachdem sie die Worte gesprochen hatte: „Boben dat Leben steiht de Dod, aber boben den Dod steiht wedder dat Leben. Ick döp di op den Naam Gorch Fock!“ Doch es mischten sich auch deutliche Vorbehalte der Bevölkerung in diesen festlichen Akt. Einerseits war der Untergang der „Pamir“ mit 80 Todesopfern ein Jahr zuvor noch frisch in der Erinnerung. Andererseits gab es grundsätzliches Misstrauen gegen die Aufstellung neuer deutscher Streitkräfte.
Noch dazu schien es ein Anachronismus, in einer hoch technisierten Marine den Nachwuchs auf einem Segelschiff auszubilden. Der Vorwurf reiner Traditionspflege wurde laut. Damals stand die Gesellschaft diesem Begriff sehr kritisch gegenüber. Aber die Marineführung setzte sich durch. Das Argument: Auf einem solchen Schiff lernen die Kadetten während ihrer Ausbildung überwiegend unter freiem Himmel, wie sich Wind und Wetter entwickeln, wie man das Schiff in der Segelführung darauf einstellt, und wie stark sich Wind und Seegang auf das Schiff auswirken.
Auf viele moderne Hilfsmittel würde verzichtet
So erhielt Blohm + Voss den Zuschlag für die „Gorch Fock“. Aber die Werftingenieure konnten nicht einfach die Pläne der zuvor gebauten und bewährten Segelschulschiffe herausholen. Die Anforderungen hatten sich geändert. Beispielsweise bei der Sicherheitstechnik. Es gab mittlerweile Rettungsinseln, deren Halterungen zusätzlich eingeplant werden mussten. Sie nützen nur, wenn die Kapseln im Notfall frei ins Wasser fallen können und längsseits bleiben, damit sie bestiegen werden können.
Mit ihrer aus Generationen gewonnenen Erfahrung verzichteten die Planer bewusst auf viele moderne Hilfsmittel. Anstatt zum Setzen von Segeln Motoren oder Hydraulik anzuwerfen, müssen die Kadetten ihre eigene Körperkraft einsetzen, die sie über Taljen, Blöcke und Takel sinnvoll verstärken. Selbst das Ruder wird nur über Gestänge und Zahnräder bedient. Weshalb auch drei Räder hintereinander auf einer Welle sitzen, damit bei Starkwindmanövern eine ausreichende Zahl von Kadetten zupacken und ihre Kraft einbringen könne. Bei den Segelmanövern lernen die Kadetten ganz selbstverständlich, dass der Einzelne wenig zählt und nur ein Team die Aufgaben bewältigen kann.
Seefest und bei Regatten auf vorderen Plätzen
Dass die „Gorch Fock“ ein seefestes Schiff ist, bewies sie im November 1982, als sich in der ohnehin berüchtigten Biskaya ein Sturm entwickelte, der in Böen Orkanstärke erreichte. Er zerfetzte eines der Segel, die Mannschaft musste die Reste bergen. Aber das Schiff lag hervorragend in der See, Besatzung und Schiff hatten sich bewährt.
Auch bei Regatten von Großseglern belegt die „Gorch Fock“ über Jahre hinweg vordere Plätze und stellt damit den hohen Ausbildungsstand der Mannschaft unter Beweis.
Fregattenkapitän a. D. Michael Koch hat selbst erlebt, wie man sich als Kadett fühlt, wenn man zum ersten Mal an Deck steht und ehrfürchtig zu den bis zu 45 Meter hohen Masten aufschaut: „Wir mussten noch nach oben rennen. Es gab einen Wettbewerb zwischen den einzelnen Toppen. Denn beim Segeln kommt es auf Schnelligkeit an, die Segel müssen rasch gesetzt oder eingeholt werden, die Segelstellung muss zügig verändert werden können, um auf Wind- und Wetteränderungen zu reagieren und das Schiff und die Besatzung nicht in Gefahr zu bringen.“
Er erlebte aber auch, wie mit zunehmender Routine sein Selbstvertrauen wuchs. Die Segelleidenschaft mit Rahseglern hat den ehemaligen Offizier bis heute nicht losgelassen. Er fährt als Nautiker auf der Brigg „Roald Amundsen“ mit jungen Menschen, die das Abenteuer Segeln selbst erleben wollen.
Die hautnahe Auseinandersetzung mit den starken Kräften von Wind und See ist herausfordernd, oft persönlich unangenehm und verlangt viel Überwindung. Hat man das aber überwunden, vermittelt es den Kadetten ein Gefühl, sich bewährt zu haben und stolz zu sein auf die eigene Leistung.
In sechs Jahrzehnten gab es fünf Todesfälle
Aber trotz solcher Erfahrungen gab es tragische Unglücksfälle. 1959 kam ein Oberleutnant zur See ums Leben. 1998 stürzte ein 19-jähriger Matrose aus dem Großmast aus etwa zwölf Meter Höhe auf das Holzdeck. Der Verletzte wurde per Hubschrauber nach Göteborg gebracht, wo er im Krankenhaus starb.
2002 fiel erneut ein 19-Jähriger aufs Deck, der Wehrdienstleistende starb noch an Bord. Eine 18-jährige Kadettin ging 2008 unter bis heute ungeklärten Umständen während ihrer Wache bei unruhiger See nahe Norderney über Bord. Die Schiffsführung befahl sofort eine Suchaktion – vergeblich. Zwei Wochen später fanden Fischer die Leiche.
2010 stürzte im brasilianischen Hafen Salvador de Bahia eine 25-jährige Kadettin bei Kletterübungen aus der Takelage und starb. Daraufhin verweigerten Kadetten weiteres Aufentern, woraus in den Medien die Schlagzeile „Meuterei auf der Gorch Fock“ wurde. Als Reaktion stellte man vor der Marineschule Mürwik einen 28 Meter hohen Übungsmast auf, an dem die Kadetten das Aufentern üben können, bevor sie das erste Mal an Bord kommen.
Wer heute mit Marineangehörigen über ihre Zeit auf dem Segler spricht, bekommt stark abweichende Antworten. Sie reichen von Begeisterung über das außergewöhnliche Erlebnis, bis zu totaler Ablehnung. Fregattenkapitän a. D. Michael Koch: „Es gab erkennbar Leute, die auf der ,Gorch Fock‘ aus der Komfortzone ihres Lebens gerissen wurden. Die waren nicht so begeistert von der Zeit auf dem Schiff.“
„Man ist nicht einmal auf der Toilette allein“
Das Leben an Bord ist belastend. Ein ehemaliger Kadett erinnert sich: „Man ist niemals allein, nicht einmal auf der Toilette, wo immer jemand klopft und zur Eile ruft. Auch nicht im Schlafraum, wo zig Leute in zwei Etagen in den Hängematten schlafen, die abends gespannt und morgens wieder abgenommen werden. Wir waren froh, wenn wir vier Stunden Schlaf am Stück bekamen.“
Seit 2015 liegt das Schulschiff in der Werft in Elsfleth zur Grundsanierung. Ein Fass ohne Boden. Nach anfänglich zehn Millionen Euro kalkuliert man inzwischen mit 100 bis 135 Millionen Euro Sanierungsaufwand. Gebaut wurde die weiße Lady einst für 8,5 Millionen Mark.