Hamburg. Der Weg zur Nominierung der früheren Sozialministerin als Spitzenkandidatin und die Lage nach ihrer schweren Erkrankung.
Spätestens seit dem 15. Februar 2015 sind die Hamburger Christdemokraten in einer ihre Existenz bedrohenden Lage. Die 15,9 Prozent, die die Partei bei der Bürgerschaftswahl holte, sind das mit Abstand schlechteste Ergebnis in der mehr als 70-jährigen Geschichte. Gemessen am Anspruch einer Volkspartei steht die Union am Rande der Marginalisierung.
Viel, wenn nicht alles hängt mit Blick auf die nächste Wahl Anfang 2020 davon ab, wen die CDU als Spitzenkandidaten nominiert. Parteichef Roland Heintze und Bürgerschaftsfraktionschef André Trepoll hatten sich frühzeitig ein Vorschlagsrecht zusichern lassen und mit der früheren niedersächsischen Sozialministerin Aygül Özkan eine mutige Entscheidung getroffen, die kaum jemand den beiden zugetraut hatte.
Wer soll den Karren ziehen?
Die schwere Erkrankung Özkans, die Trepoll und Heintze am Sonntag öffentlich gemacht hatten, hat erst einmal alle Pläne durchkreuzt, weil derzeit überhaupt noch nicht absehbar ist, ob die 46 Jahre alte Hamburgerin nach einer Genesung den aufreibenden Job einer Spitzenkandidatin im Wahlkampf antreten kann. „Wir wünschen uns, dass sie zurückkommt und die Kandidatur für die CDU übernimmt“, sagt Trepoll im Gespräch mit dem Abendblatt. Das ist aus Sicht des Partei- und des Fraktionsvorsitzenden sehr nachvollziehbar, denn die CDU steckt aufgrund des Schicksalsschlags in einem schwerwiegenden Dilemma.
Noch ist offen, wann Aygül Özkan erklärt, ob sie antritt oder nicht. Sollte sie am Ende die Frage mit Ja beantworten, hätte die CDU nur ein wenig Zeit verloren. Sollte sie aus gesundheitlichen Gründen absagen müssen, was als nicht unwahrscheinlich gilt, steht die CDU vor der entscheidenden Frage, wer den Karren dann ziehen soll.
Machtoption für die CDU
Dabei werden sich Trepoll und Heintze, die ja beide auf eine eigene Kandidatur verzichtet hatten, an ihrer jetzigen Entscheidung für Özkan messen lassen müssen. „Frau Özkan ist ein Gegenentwurf zu Peter Tschentscher – als Frau, durch ihren sozialen Aufstieg, ihren Erfolg in der Wirtschaft und dadurch, dass sie als Ministerin erfolgreich war“, sagt Trepoll jetzt. Die Kandidatur einer Frau mit Migrationshintergrund, einer Muslima, steht für eine liberale, weltoffene Partei. Özkans Nominierung sollte bewusst einen Gegenakzent zum konservativen Profil setzen, dass die CDU zuletzt geschärft hatte.
Aygül Özkan sollte mit ihrer Aufstiegsbiografie vom Gastarbeiterkind zur Ministerin ein Angebot für die Wähler sein, die ihre Kreuze sonst eher bei SPD, Grünen oder der FDP machen. Und nicht zuletzt wollten Trepoll und Heintze auf diesem Weg erreichen, dass die CDU eine Machtoption erhält. Trepoll, der lange als Favorit für die Spitzenkandidatur gegolten hatte, war auf ziemlich schroffe Ablehnung bei Grünen und Liberalen gestoßen, als er für die Option Jamaika-Bündnis warb.
Öffnung zur Mitte
Diese Strategie der Öffnung zur Mitte kann nur mit einem entsprechenden personellen Angebot glaubwürdig sein. Am besten wäre eine Spitzenkandidatin. Trepoll selbst kann nach der strategischen Neuausrichtung diese Führungsrolle eigentlich nicht übernehmen. Nachdem er den ersten Zugriff hatte, wäre seine Kandidatur jetzt mit dem Makel der zweiten Wahl behaftet. Es darf zudem bezweifelt werden, dass der Fraktionschef, der sich auch in sein aktuelles Amt nicht gedrängt hat, diese Aufgabe überhaupt übernehmen will.
Wie mittlerweile bekannt wird, begannen erste Überlegungen für die Spitzenkandidatur 2020 bereits wenige Monate nach der für die CDU katastrophalen Bürgerschaftswahl 2015. Nach Darstellung von Fraktionschef Trepoll stand Özkan dabei von Beginn an weit oben auf der Wunschliste. Trepoll und Heintze kannten sie aus ihrer Zeit in der Bürgerschaft zwischen 2008 und 2010 und hatten auch Özkans Zeit im Kabinett in Niedersachsen genau verfolgt. „Sie hat sich als Ministerin schnell Respekt erworben“, so Trepoll.
Es sei allen klar gewesen, dass Personalfragen schon bald gestellt würden – und dass man auch für mögliche Regierungskrisen immer vorbereitet sein müsse. Bereits im Herbst 2015 arrangierten Heintze und Trepoll ein erstes Treffen mit Özkan – damals im „Irish Pub“, ganz in der Nähe des Rathauses.
Danach habe man durchweg engen Kontakt gehalten, so Trepoll. Alle vier bis fünf Monate habe man sich zusammengesetzt. 2016 habe Özkan deutlich gemacht, dass sie zu einer Kandidatur bereit sei. Dabei sei allen Beteiligten klar gewesen, dass diese Entscheidung einen hundertprozentigen Einsatz im Wahlkampf erfordern würde.
Vorurteile ausräumen
Die endgültige Entscheidung, die Deutsch-Türkin zur Spitzenkandidatin zu machen, fällten Heintze und Trepoll offenbar nach der Nominierung von Peter Tschentscher durch die SPD zum Nachfolger von Olaf Scholz. Die Geschichte von Tschentscher, dem „Zahlenmenschen“, sei „schnell auserzählt“, glaubte man in der CDU. Dem könne man perfekt die junge, erfolgreiche Frau entgegensetzen, die sich durch Leistung hochgearbeitet habe und offen und humorvoll auf die Menschen zugehe. Das wäre bei einer Nominierung der SPD-Chefin Melanie Leonhard anders gewesen, heißt es – denn die hat selbst die Biografie einer Aufsteigerin.
Vorbehalte bei der eigenen Klientel, als christliche Partei eine Muslima als Bürgermeisterkandidatin zu nominieren, hält Trepoll offenbar für überwindbar. „Ich bin sicher, dass Aygül Özkan mögliche Vorurteile gegen ihre Person während des Wahlkampfs vollständig ausräumen kann“, so der Fraktionschef. Anfang September sollte Özkan als Spitzenkandidatin im Museum für Hamburgische Geschichte vorgestellt werden, das sah der Geheimplan vor. Parteiintern wird kritisiert, dass Trepoll und Heintze von sich aus Özkans Erkrankung öffentlich machten. Die beiden sahen sich offensichtlich unter Druck, nachdem in der vergangenen Woche durchsickerte, dass Trepoll verzichten würde. Ob sie damit Aygül Özkan einen Gefallen getan haben, steht dahin.