Das Jugendamt nimmt einer Mutter ihren fünfjährigen Sohn. Was muss passieren, bevor der Staat ein Kind von seinen Eltern trennt ?

Es ist der 30. März 2017, als vor der Wohnung von Jasmin Koch auf Finkenwerder drei Autos, darunter zwei Peterwagen, halten. Zwei Mitarbeiter vom Jugendamt Hamburg-Mitte und vier Polizisten steigen aus und klingeln an der Haustür der alleinerziehenden Mutter im ersten Stock eines grauen Wohnblocks. „Guten Tag, wir möchten Ihren Sohn abholen“, sagen sie. „Wie? Haben Sie einen Beschluss? Nicht? Dann verschwinden Sie, mein Sohn ist nicht da.“ Die ungebetenen Gäste verlassen die Wohnung – und kommen am nächsten Tag wieder. „Hier ist der Beschluss, wo ist Ihr Sohn?“ Jasmin Koch sagt: „Der ist nicht da.“ Es ist der Beginn einer Geschichte, in der es nur Verlierer gibt. Sie beschäftigt seit mehr als einem Jahr Mutter und Großeltern, Sozialarbeiter und Gutachter, Richter und Rechtsanwälte. Und jetzt auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Es geht in dieser Geschichte sehr viel um Angst und Misstrauen. Um falsche Verdächtigungen und mangelhafte Kommunikation. Um fehlende Einsichten und verhärtete Fronten. Und um völlig unterschiedliche Wahrnehmungen.

Und es geht um einen kleinen Jungen, der für all das nichts kann, aber am allermeisten leiden muss. So sehr, dass er gesagt hat, er wolle tot sein.

Inobhutnahmen von Kindern nehmen zu

Es geht um David. Er ist heute sechs Jahre alt und trägt genau wie seine Mutter Jasmin einen anderen Namen. Die Stadt hat den Jungen vor einem Jahr in Obhut genommen. Seit Jahren steigt bundesweit die Zahl der Inobhutnahmen, die sich von 25.000 (2005) auf rund 48.000 im Jahr 2014 fast verdoppelten. In Hamburg wurden 2016 insgesamt 2140 Kinder und Jugendliche (davon 934 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) in Obhut genommen. Und das auch deshalb, weil in den Jugendämtern nach zahlreichen Todesfällen eine andere Bereitschaft besteht, gefährdete Kinder aus den Familien zu holen.

Seit David in einem Heim lebt, kämpfen seine Mutter und seine Großeltern um die Rückkehr des Jungen. Sie haben bisher in allen gerichtlichen ­Instanzen verloren. Aber sie geben nicht auf. Jetzt haben sie Verfassungsbeschwerde eingereicht. „Wir wollen, dass David nach Hause kommt. Zu Mama oder Oma und Opa, dahin, wo er hingehört“, sagen sie.

Als die Jugendamtsmitarbeiter am 31. März des Vorjahres David nicht antreffen, beantragen sie einen Gerichtsbeschluss. „Die Mutter hatte angedroht, David außer Landes zu bringen“, heißt es aus dem Jugendamt. Das Familiengericht sieht darin eine Kindeswohlgefährdung, überträgt deshalb im Eilverfahren das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf einen Amtsvormund und entzieht somit der Mutter einen Teil der elterlichen Sorge. Der Richter veranlasst außerdem eine Grenzsperre.

Die Großeltern wollten David nehmen

Drei Tage später wird die Mutter vom Gericht wegen Kindesentführung vorgeladen. „Ich hatte Angst, dass sie mich ins Gefängnis stecken“, sagt sie. Ihren Sohn hatte sie aus Furcht vor dem Jugendamt ein paar Tage zuvor zu einer Freundin nach Fehmarn gebracht. „Mein erster Anwalt hat mir dann geraten, David zum Jugendamt zu bringen.“

Am 5. April 2017 geben sie David im Jugendamt Mitte ab. Von dort kommt der Junge direkt in das Kinderschutzhaus Wandsbek im Pulverhofsweg. Einen Monat später erklären die Großeltern im Jugendamt, dass sie David zu sich nehmen wollen. Sie bekommen den Auftrag, sich zu Pflegeeltern ausbilden zu lassen. Am 30. Mai gibt es ein erstes Gespräch mit dem Pflegekinderdienst. „Da haben wir zuerst eine Pflegstellenprüfung abgelehnt, schließlich haben wir vier Kinder großgezogen“, sagen Monika und Rüdiger K. Sie wollen David sofort zu sich holen. Und reichen am selben Tag eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen das Jugendamt und den Amtsvormund ein.

Die Großeltern besuchen David jetzt regelmäßig, nachdem sie zuvor nicht viel Kontakt zu ihrer Tochter hatten. Sie lehnen Davids Vater, einen mehrfach verurteilten Straftäter, ab. Sie gehen mit David in den Zoo, und der Junge ist öfter bei ihnen zu Hause in Lohbrügge. Dort gibt es im Garten und direkt neben dem schmucken Reihenhaus in der gepflegten Siedlung viel Natur und Platz zum Spielen. Eine Psychologin begleitet sie, um zu begutachten, ob sie als Pflegeeltern geeignet sind. „Sie hat sich sehr positiv über uns geäußert“, sagt Monika K. Die Berichte aber bekommen sie nicht zu sehen. „Sie werden uns bis heute vorenthalten.“

Davids Aufenthalt im Kinderschutzhaus endet abrupt. Am 20. Juli 2017 sollte die Mutter im Jugendamt über den geplanten Umzug von David in ein Heim außerhalb Hamburgs informiert werden. Aber: Zu dem Gespräch kommt es nicht, weil Frau S., der weibliche Amtsvormund, erkrankt. Der Termin wird abgesagt.

David kommt in ein Heim nach Flensburg

Sieben Tage später wird David ohne Wissen der Mutter in ein Heim nahe Flensburg gebracht. „Ich war völlig schockiert“, sagt Jasmin. „Das war eine Nacht-und-Nebel-Aktion“, sagen die Großeltern. Fünf Tage später stellen sie die zweite Dienstaufsichtsbeschwerde gegen das Jugendamt und den Amtsvormund.

Für David ist die neue Umgebung weit weg von zu Hause offensichtlich traumatisch. Vier Wochen später, am 23. August 2017, kommt der Fünfjährige in die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Helios Klinikum in Schleswig. Der Junge hatte im Heim Selbstmordabsichten geäußert. Er wolle „tot sein“. Er habe Pläne, wie er sich „töten könne“. Etwa, indem er „ein kleines Spielzeugflugzeug verschlucken und dann ersticken würde“.

Am 1. September 2017 eskaliert im Jugendamt ein sogenanntes Hilfeplangespräch zwischen der Mutter und den Mitarbeitern über das weitere Vorgehen. Der Sicherheitsdienst muss einschreiten. Das Jugendamt erstattet Strafanzeige gegen die Mutter wegen Beleidigung und Bedrohung. Drei Tage später entscheidet der Vormund Frau S., den Kontakt zu Großeltern und Mutter abzubrechen. Längst hat sich die erbitterte Auseinandersetzung in die Gerichtssäle verlagert.

Schon in den Jahren zuvor hat es einige Meldungen wegen Kindeswohlgefährdung aufgrund des Verhaltens der Mutter gegeben. Anfang Januar 2016 meldet die Kita ein „aggressives und sexualisiertes Verhalten“ von David. Nach einer weiteren Meldung beantragt das Jugendamt am 20. Juli 2016 beim Familiengericht den Entzug des Sorgerechts. Das Gericht gibt deshalb im Oktober ein Gutachten zur Erziehungsfähigkeit der Mutter in Auftrag.

Am 20. Oktober 2016 gibt Jasmin ihren Sohn auf eigenen Wunsch für acht Wochen in eine Wohngruppe im Kreis Pinneberg. Im Abschlussbericht heißt es: „David gerät durch sein Verhalten sehr oft in Konfliktsituationen und kann damit nicht adäquat umgehen. Er hat die Kinder dann beschimpft, gekratzt, geschlagen oder auch sehr stark gebissen.“ Auch das sexualisierte Verhalten wird beschrieben. Er habe kein angemessenes Schamgefühl, fasse anderen in den Intimbereich, zeige sich nackt. Die Zusammenarbeit mit der Mutter sei problemlos gewesen. „Sie hielt sich an Absprachen und war kooperativ.“ Man habe ihr aber mehrmals erklärt, dass eine Zusammenarbeit mit dem Jugendamt erforderlich sei.

Es gibt keine körperlichen Probleme oder Male

Der Aufforderung des Jugendamts, David im Dezember 2016 im Kinderschutzkompetenzzentrum des UKE vorzustellen, kommt die Mutter nicht nach. „Ich gehe mit meinem Sohn regelmäßig zum Kinderarzt“, sagt sie. Dieser erklärt in einem Gespräch mit der Gutachterin am 7. Februar 2017: „Die Mutter kommt derzeit zweimal die Woche, damit ich bestätigen kann, dass der Sohn nicht geschlagen wurde.“ David sei gut versorgt, es gebe keine körperlichen Probleme oder Male. Die Mutter sei jedoch mit ihrem Sohn teils extrem überlastet. Sie sei dann sehr barsch mit ihm. „Sie hat aber auch eine sehr enge Bindung.“ David verhalte sich auffällig. „Wenn man ihn ließe, würde er die Praxis auseinandernehmen.“

Am 23. März 2017 liegt das Gutachten dem Gericht vor. Ergebnis: Wegen „Einschränkungen in der Erziehungsfähigkeit“ sei die Mutter nicht in der Lage, die elterliche Sorge auszuüben. Nur mit einem umfangreichen und „tragenden Netz“ der Hilfe könne der Sohn bei der Mutter verbleiben. Eine Woche später klingeln die Jugendamtsmitarbeiter bei Jasmin Koch an der Tür.

David kotet laut Jugendamt in den Flur

Nachdem David am 27. Juli 2017 ins Heim bei Flensburg gekommen ist, sollen Jasmin und ihre Eltern den kleinen Jungen drei beziehungsweise fünf Monate nicht sehen, damit er, so die Begründung, „im Heim ankommen könne“. Dagegen klagen sie. Am 29. September beschließt das Familiengericht, dass die Mutter einmal im Monat Besuchs- und Telefonkontakt mit David haben darf. Am 1. November gibt es ein erstes ­Telefonat zwischen Mutter und Sohn. Zwei Tage später, so steht es in einem Bericht des Jugendamts: D. kotet in Flur, zeigt Penis, pinkelt aus Fenster, schlägt Erzieher.

Das Jugendamt schreibt weiter, dass sich die Großeltern am 26. Oktober „vermummt an der Einrichtung aufhalten“ und auch am 28. November dort auftauchen. Am 5. Dezember erteilt das Heim den Großeltern und der Mutter Hausverbot.

Am 21. Februar 2018 gibt es den dritten Besuch der Mutter. Einen Tag später kommt David erneut in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er bleibt dort 43 Tage. Wie geht es ihm? „Der Inhalt des ärztlichen Untersuchungsberichts wird mir vorenthalten“, sagt Jasmin. Im März 2018 beschreibt der Amtsvormund vor dem Oberlandesgericht, dass David seinen Kot esse, „in einen Abfalleimer uriniert und diesen dann über einen Mitarbeiter ausgeschüttet habe“.

Die Anwältin von Jasmin Koch, Christiane Knack-Wichmann, ruft am 29. Mai 2018 das Bundesverfassungsgericht an. In ihrer Verfassungsbeschwerde sieht sie das Elternrecht der Mutter, das nach Artikel 6 des Grundgesetzes ein Grundrecht darstellt, schwer verletzt. Sie schreibt: „Offensichtlich wird dem Kind durch die Trennung von der Mutter und möglicherweise durch die Bedingungen in der Heimunterbringung so viel seelisches Leid zugefügt, dass es zu einer drastischen Verschlimmerung der Verhaltensauffälligkeiten Davids gekommen ist.“ Auch die Großeltern hätten als Pflegeeltern eingesetzt werden können, „um das Kind zumindest in den Kreis seiner Familie zurückzuführen“. Aber auch diese „mildere Maßnahme“ sei unberücksichtigt geblieben.

Die Mutter

Mutter Jasmin mit einem Foto ihres Sohnes David
Mutter Jasmin mit einem Foto ihres Sohnes David © Klaus Bodig / HA

Jasmin Koch steht im Kinderzimmer ihrer 60 Quadratmeter großen Wohnung auf Finkenwerder, nach hinten durch die Küche geht es in einen kleinen Garten. Auf dem Hochbett stapeln sich zwei Dutzend Geschenkpakete, hübsch verpackt mit bunten Schleifen. Süßigkeiten, Playmobilfiguren, Kleidung. „Die sind für meinen Sohn. Ich schicke ihm ein bis zwei Pakete pro Woche.“ Jetzt kam auch ein Brief zurück, dass er die Pakete erhalten hat. „Danke liebe Mom, dass du mir so liebe Pakete schickst!“

Jasmin hat ihren Sohn am 21. Februar zuletzt gesehen. Sie macht derzeit eine Therapie in einer Tagesklinik. Sie hat schon seit einigen Jahren Panikattacken. Nach ihrem Realschulabschluss hat sie eine Ausbildung als Altenpflegerin gemacht, diese aber abgebrochen. Zurzeit ist sie arbeitsunfähig und lebt von Hartz IV. Ihr erster Sohn lebt bei seinem Vater. „Er ist jetzt 13 Jahre alt und kommt regelmäßig zu Besuch.“ Jasmin zeigt kleine Filmchen auf ihrem Handy, in denen ihr ältester Sohn mit David spielt.

Mutter fühlt sich verraten

„Ich werde keine Ruhe geben, obwohl sie mich gebrochen haben“, sagt sie. „Mein Arzt hat mir gesagt, ich müsse stabil werden, damit ich für meinen Sohn da sein kann, wenn er zurückkommt.“ Zurzeit macht sie eine ambulante Therapie, mit Einzel- und Gruppengesprächen. „Ich komme nicht damit klar, dass ich ihm nicht helfen kann. Dass er so leidet, und keiner hilft ihm. Er hat doch niemandem etwas getan. Wir hatten doch ein ganz normales Leben.“

David sei dreieinhalb Jahre in eine Kita gegangen. „Dann haben die hinter meinem Rücken das Jugendamt wegen seiner angeblichen Verhaltensauffälligkeiten informiert – anstatt mit mir zu sprechen. Ein schlimmer Vertrauensbruch.“ Deswegen habe sie David aus der Kita genommen.

„Ich habe nie geleugnet, dass ich Probleme in der Erziehung mit David gehabt habe“, sagt Jasmin. „Deswegen bin ich ja selbst zum Jugendamt gegangen und habe um Hilfe und Unterstützung gebeten.“ Das Amt stellte ihr eine Sozialpädagogische Familienhelferin an die Seite. Die kam zweimal in der Woche für zwei, später für drei Stunden zu ihr nach Hause. „Wir haben gebacken, gebastelt und zusammen eingekauft.“ Ihre Probleme seien dadurch nicht gelöst worden, sagt sie.

Kontakt mit Jugendamt abgebrochen

„Deshalb wollte ich zusammen mit David stationär ins Werner-Otto-Institut gehen, um den Problemen einmal auf den Grund zu gehen. Ich hätte professionelle Hilfe gebraucht. Das hat das Jugendamt abgelehnt.“ Zum endgültigen Konflikt sei es gekommen, weil das Jugendamt wollte, dass David länger als fünf Stunden in der Kita bleibe. „Die sagten, er solle dort acht Stunden bleiben, später sogar zehn. Aber das hat ihn total überfordert. Und ich hatte doch am Nachmittag genug Zeit für ihn.“ Deshalb habe sie den Kontakt mit dem Jugendamt abgebrochen.

„Dann haben sie mir das Sorgerecht entzogen. Als ich David zusammen mit meiner Freundin im Jugendamt abgeben musste, konnte ich nicht mit reingehen. Ich habe nur noch geweint.“ Aber sie durfte ihren Sohn im Kinderschutzhaus jederzeit besuchen und jeden Tag mit ihm telefonieren. „An einem Donnerstag im Juli habe ich dort angerufen und wollte meinen Sohn sprechen. Da haben sie mir gesagt, mein Sohn sei nicht mehr da. Wie, nicht mehr da? Ja, er sei weg, aber sie könnten mir nicht sagen, wohin er gebracht worden ist. Ich habe vier Tage lang nicht gewusst, wo mein Sohn ist. Ich habe sämtliche Heime in Schleswig-Holstein abtelefoniert und wollte wissen, wo er ist. Bis sie mir am Montag gesagt haben, dass er in der Nähe von Flensburg untergebracht worden sei.“

Mutter darf keinen Kontakt zu ihrem Sohn

Und heute? „Ich habe keinen Kontakt zu ihm. Ich darf das Grundstück vom Heim nicht betreten. Darf nicht wissen, wo er wohnt und wie sein Zimmer aussieht. Ob er gepflegt wird, ob jemand da ist, wenn er gestürzt ist und weint. Ob er Freunde hat oder nicht. Ich schreibe ihm, dass ich ihn liebe und dass ich Tag und Nacht an ihn denke. Alle Telefonate mit meinem Sohn sind aufgezeichnet worden. Die Verfahrenspflegerin hat David erzählt, dass er seine Mutter erst mal nicht sehen darf. Und zwar angeblich für zwei Jahre. Ist die nicht ganz dicht?“

Ja, es stimme, dass sie beim Hilfeplangespräch im Jugendamt ausgerastet sei. „Als ich erfahren habe, dass David im Heim Selbstmordabsichten geäußert hat, habe ich gesagt, ich bleibe hier so lange sitzen, bis ich zu meinem Sohn darf. Ja, und ich habe geschrien, dass ich den Mitarbeitern mit der Gabel die Augen aussteche und ihnen eine Kugel in den Kopf jage. Ich war so furchtbar wütend, weil die mein Kind kaputtgemacht haben. Da haben sie die Security gerufen. Ich bin zu 2500 Euro Strafe verurteilt worden.“

Sie sei aufbrausend und nicht kooperativ

Jetzt zahlt Jasmin von ihrem Hartz-IV-Einkommen jeden Monat per Dauerauftrag 30 Euro ab – bis zum Jahr 2026. „Sie sagen, ich sei nicht kooperativ und nicht einsichtig. Ich sei aufbrausend. Die wollen mich nur provozieren. Und ich spiele ihnen mit meinem Verhalten jedes Mal in die Karten.“

Man habe ihr 25.000 Euro Strafe oder sechs Monate Ordnungshaft angedroht. „Ich darf meinem Sohn jetzt nicht mehr sagen und ihm auch nicht schreiben, dass er stark bleiben soll, dass wir ihn nicht vergessen, dass wir für ihn kämpfen. Seit Februar dürfen wir auch nicht mehr telefonieren.“

Sie fragt sich, wie der Hilfeplan aussieht. „Soll er bis zum 18. Lebensjahr im Heim bleiben? Die äußern sich nicht.“ Der Leidtragende sei ihr Sohn. „Er hat doch immer wieder gesagt, dass er nach Hause möchte. Aber sein Wille wird einfach ignoriert. Wo bleibt denn da das Kindeswohl? Er muss durch die Hölle gehen. Und ich kann ihm nicht helfen. Etwas Schlimmeres gibt es für eine Mutter nicht. Ich hoffe und bete, dass er weiß, dass er nicht verloren ist, und dass wir ihn nicht vergessen haben.“

Jasmin sagt, man könne doch nicht jeder Mutter, die überfordert ist und Hilfe brauche, das Kind wegnehmen, wenn man sich über Art und Umfang der Maßnahmen nicht mehr einig ist.

Die Anwältin

Anwältin Christiane Knack-Wichmann
Anwältin Christiane Knack-Wichmann © Klaus Bodig / HA

Christiane Knack-Wichmann sitzt am Schreibtisch in ihrer Kanzlei auf Finkenwerder. Die Fachanwältin für Arbeits- und Familienrecht hat den Fall auch deshalb übernommen, „weil das System nicht stimmt“. Viele Kollegen nähmen solche Fälle gar nicht an, weil damit kein Geld zu verdienen sei. Auch für sie sei es das nicht. „Aber sein Recht zu bekommen darf keine Frage des Geldes sein. Es geht nicht, dass jemand, der kein Geld hat, sich nicht zur Wehr setzen kann.“

Die Anwältin sagt, sie verstehe zwar die berechtigte Sorge in den Jugendämtern, dass nach den vielen toten Kindern erneut ein Kind zwischen die Zuständigkeiten fallen und gefährdet sein könne. Sie beobachte aber mit Sorge, dass Familiengerichte mittlerweile wenig Bereitschaft zeigten, das Handeln und die Maßnahmen der Jugendämter und deren freier Träger kritisch und gründlich auf Verhältnismäßigkeit zu überprüfen.

Alles werde sofort dem Jugendamt gemeldet

Zudem werde „alles, was Sozialarbeiter oder Pädagogen erfahren, heute sofort dem Jugendamt gemeldet“. So sei das auch in diesem Fall – mit all seinen dramatischen Folgen vor allem für das Kind. „Mit dem Wohl des Kindes nach § 1626 BGB ist ein Ausschluss des Umgangs zwischen Mutter und Kind hier nicht vereinbar. Dennoch wurde das Kind ohne Wissen und Mitteilung an die Mutter vor zwölf Monaten in ein Kinderheim verbracht.“

Die Mutter werde bis heute daran gehindert, sich einen Eindruck über die Lebensumstände ihres Sohnes zu verschaffen. Und sie werde teilweise wie eine Straftäterin eingeschüchtert. „Dazu passt die entwürdigende Überwachung und Protokollierung jeder der selten zugelassenen Mutter-Kind-Begegnungen, wobei jegliche Information über den Inhalt der Protokolle und deren Verwendung im Dunkeln bleiben.“

Die jedem zuzubilligenden Menschenrechte – wie das Recht auf Privatsphäre und das Persönlichkeitsrecht – würden hier außer Kraft gesetzt. „Es sind Rechte, die jedem Straftäter bei seiner Inhaftierung, gleich welche Tat er begangen hat, gewährt werden müssen.“ Sie fragt sich, warum einem zerbrechlichen, schutzbedürftigen Kind hier weniger Rechte eingeräumt werden.

Dreimonatige Kontaktsperre für die Mutter

Für das seelische Wohlbefinden und die Persönlichkeitsbildung sei einer Entfremdung sowie der Furcht des Kindes vorzubeugen, die Beziehung zu seiner Mutter zu verlieren. „Eine Beziehung, die trotz Problemen im Miteinander, die die Mutter nie geleugnet hat, sehr eng und liebevoll ist.“ Das sei der Mutter durch verschiedene Fachleute auch immer bestätigt worden. Eine Verbesserung seiner Situation könne nicht ohne, sondern nur unter der Einbeziehung seiner Mutter erreicht werden.

Auch das letzte Weihnachtsfest, das für den Sechsjährigen wie für jedes Kind im Kreis der Familie ein lebensprägendes Ereignis gewesen wäre, sei ihm genommen worden.

Und das Gutachten? „In dem schriftlichen Gutachten wird die Mutter als eingeschränkt erziehungsfähig eingeschätzt und ein Verbleib von David bei der Mutter befürwortet, soweit eine Kooperation mit Familienhelfern stattfindet.“ Mit diesem Ergebnis lasse sich nicht mehr als eine befristete Inobhutnahme nach § 33 SGB VIII rechtfertigen, in welcher der Mutter durch Unterstützung des Jugendamts ermöglicht wird, die Voraussetzungen für eine Rückkehr des Kindes zu schaffen.

Dieser Chance sei vom Jugendamt entgegengewirkt worden. „Das Kind wurde nicht nur an einen für die Mutter nur sehr schwer erreichbaren Ort verbracht. Darüber hinaus wurde eine absolute über drei Monate lange Kontaktsperre, gefolgt von einem Hausverbot, verhängt.“ Auch über die Dauer der Inobhutnahme werde sie weiter im Unklaren gelassen. Ein Ende der Maßnahme werde, trotz aller Bereitschaft der Mutter zur Mitarbeit, nicht einmal unter Bedingungen in Aussicht gestellt.

„Alle Informationen über die Lebensverhältnisse von David, Kontakte zu anderen Kindern, etwaige Therapien und Behandlungen sowie die Qualifikation der Personen, die auf das Kind Einfluss nehmen, werden der Mutter bis heute vorenthalten“, sagt Christiane Knack-Wichmann. „Sie hat aber ein grundrechtlich geschütztes Recht zu wissen, wie es ihrem Kind geht und welche Behandlung es erfährt.“

Der Jugendamtsleiter

Martin Kloszowski, Leiter vom Jugendamt Hamburg Mitte.
Martin Kloszowski, Leiter vom Jugendamt Hamburg Mitte. © Klaus Bodig / HA

Martin Kloszowski ist seit dem 1. Juni 2018 Jugendamtsleiter im Bezirk Hamburg-Mitte. Er hat den Fall David sozusagen von seinem Vorgänger übernommen. Ein kleines Büro in der Caffamacherreihe, davor ein runder Tisch mit vier Stühlen, der Blick geht auf den Innenhof. Kloszowski ist 49 Jahre alt und hat nach dem Studium der Erziehungswissenschaften in Marburg als Diplom-Pädagoge in Berlin und in Elmshorn gearbeitet, bevor er 2006 als fallführende Fachkraft beim Jugendamt in Hamburg angefangen hat. Er war Abteilungsleiter in Mümmelmannsberg und hat nach dem Tod des Pflegekindes Chantal im Januar 2012 – die Elfjährige war bei ihren drogenabhängigen Pflegeltern an einer Überdosis Methadon gestorben – das Jugendamt Wilhelmsburg wieder mit aufgebaut. „Die waren damals wirklich kurz vor der Auflösung.“

Kloszowski strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Und sagt gleich zu Anfang, eines seiner zentralen Themen sei Fehlermanagement. Man fragt sich, ob das bereits ein verdeckter Hinweis auf den konkreten Fall sein soll. Der auch deshalb so dramatisch ist, weil die Fehler aller Beteiligter nie korrigiert worden sind, sodass immer nur die nächste Eskalationsstufe erklommen wurde.

Mitarbeiter haben Angst, Fehler zu machen

Der neue Fachamtsleiter in Hamburg-Mitte will im Jugendamt eine Mentalität etablieren, wonach sich alle Mitarbeiter immer wieder selbstkritisch mit den eigenen Entscheidungen auseinandersetzen. Deswegen hat er auch die Einrichtung der ersten Ombudsstelle in einem Hamburger Jugendamt vorangetrieben: „Es braucht unabhängige In­stanzen mit Kontrollfunktionen.“ Kon­trolle sei in Jugendämtern immer ein schwieriges Thema, „weil bei vielen Mitarbeitern die Angst wächst, Fehler zu machen“. Er werbe aber immer wieder dafür: „Wir wollen aus Fehlern lernen.“ Das sei nicht einfach. „Aber es ist der einzige Weg.“

Es ist sehr ungewöhnlich, dass sich Jugendamtsleiter in der Öffentlichkeit äußern. Den vorliegenden Fall nennt Kloszowski dramatisch. „Es gibt sehr viele Beteiligte: Mutter, Großeltern, Jugendamt, freie Träger, Kitas, Gutachter, Gerichte, Vormünder, Verfahrensbeistände.“ Der Fall sei hochstrittig, und das Kind zeige große Verhaltensauffälligkeiten. „Es ist unglaublich schwer zu entscheiden, was richtig, was falsch und was die Wahrheit ist“, sagt Kloszowski. Er habe deshalb dafür plädiert, in diesem Fall auch noch die Ombudsstelle einzuschalten, um eine weitere Meinung einzuholen.

Kloszowski hat Verständnis für die Großeltern und die Mutter. „Ich habe auch eine Tochter. Und ich kann gut verstehen, dass man aus einem Ohnmachtsgefühl gegenüber der staatlichen Macht alles tut, um sein Kind zurückzubekommen.“ Das sei das eigentliche Drama in diesem Fall: „Das Verhalten der Angehörigen ist nachvollziehbar, steht aber einer Lösung konträr im Wege. Das Schlimme ist, dass es in diesem Fall niemanden gibt, dem es gut geht.“

Vor allem David nicht.

Warum wurde der damals Fünfjährige vom Kinderschutzhaus in Wandsbek mehr als 200 Kilometer weit weg nach Flensburg gebracht? „Wir haben nach einer Unterbringung in Hamburg und Umgebung gesucht, es war aber nichts frei.“ Er nennt eine Zahl: Allein in Hamburg-Mitte gibt es derzeit 372 Kinder und Jugendliche, die außerhalb Hamburgs untergebracht sind, weil es in der Stadt nicht genügend Plätze gibt. Das Ziel sei, die Kinder künftig innerhalb der Stadt unterbringen zu können. „Damit sie in Kontakt zur Familie, zu Freunden und Bezugspersonen bleiben können.“

Die Inobhutnahme ist das letzte Mittel, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist. Ist das hier der Fall gewesen? Gab es nachweislich Gewalt von der Mutter gegen den Sohn? „Ich vermute, dass der Auslöser für die letztliche Trennung von Mutter und Kind eine Meldung der Kita an das Jugendamt gewesen ist, dass mit dem Kind etwas nicht stimmt“, sagt Kloszowski. Das habe die Mutter als Vertrauensbruch gesehen und den Jungen daraufhin abgemeldet. Der Jugendamtsleiter sagt, er wünsche sich im Allgemeinen, dass Kita-Mitarbeiter immer erst mit den Betroffenen selbst über die Probleme sprechen, bevor sie das Jugendamt informieren.

Hätte die Trennung von Mutter und Kind nicht auf jeden Fall vermieden werden müssen? Schließlich haben einige Experten auch eindringlich vor einer Trennung von Mutter und Kind gewarnt, weil die Beziehung zur Mutter für David von „zentraler Bedeutung“ sei. Eine Kindeswohlgefährdung könne auch vorliegen, sagt Kloszowski, wenn Mitarbeiter zu der Einschätzung kommen, dass das Kind perspektivisch in seiner Entwicklung gefährdet sei, wenn es bei der Mutter oder bei den Großeltern verbleibe. Etwa was soziale Teilhabe angehe. „Und auch die Gerichte, denen diese Einschätzungen ja ebenfalls vorgelegen haben, sind in diesem Fall zu der Entscheidung einer Fremdunterbringung gelangt.“

Warum wurde die Mutter nicht über die Verlegung ihres Sohnes vom Kinderschutzhaus in Wandsbek zum Heim in Flensburg informiert? Man kann nur vermuten, dass es hier sehr unterschiedliche Einschätzungen über den Einfluss der Mutter auf ihren Sohn und die Frage gibt, wie er zur Ruhe kommen kann.

Viele Fragen bleiben offen

Für das Jugendamt scheint es außerdem sehr wichtig zu sein, wie eng die Bindung zwischen der Kindesmutter und ihren Eltern in den vergangenen Jahren gewesen ist. Warum sonst sind die Großeltern als nächste Verwandte nie ernsthaft als Pflegeeltern in Betracht gezogen worden? Daran schließt sich eine entscheidende Frage in diesem Fall an: Was steht in dem Bericht der Psychologin, die den Umgang der Großeltern mit David begutachtet hat? Diese Frage bleibt leider offen, weil sich Frau G. gegenüber dem Abendblatt nicht äußern will. Ist die Einschätzung über die Eignung von Monika und Rüdiger K. positiv, dann muss sich das Jugendamt fragen lassen, warum es David Oma und Opa genommen hat.

Wieso gab es nach der Verlegung nach Flensburg für die Mutter eine dreimonatige und für die Großeltern eine fünfmonatige Kontaktsperre? „Das ist nicht üblich“, sagt Kloszowski. Das werde eigentlich nur in wenigen Einzelfällen gemacht. „Wenn der Verdacht auf sexuellen Missbrauch, Vernachlässigung oder Gewalt vorliegt.“

Stimmt es, dass der Sechsjährige nach der Verlegung ins Heim Selbstmordabsichten geäußert hat und deswegen stationär behandelt werden musste? „Ja, das stimmt.“ Aber mit absoluter Sicherheit könne heute niemand mehr sagen, ob der Grund dafür allein die Heimunterbringung gewesen sei. Oder ob das nicht eher aus einer Gemengelage entstanden sei, bei der auch die Zeit vor der Fremdunterbringung mit all ihren Ereignissen für den Jungen zu diesem dramatischen Verhalten geführt habe.

So geht es mit David weiter

Wie geht es mit David weiter? Gibt es Rückführungsabsichten? „Hier ist eine sehr komplexe Fallsituation entstanden, die für alle Beteiligten sehr belastend ist“, sagt Kloszowski, „aber unsere Fachkräfte sehen durchaus, dass für ein Kind der Umgang mit und der Kontakt zu seiner Familie wichtig ist.“ Das werde auch perspektivisch in den Blick genommen. „Darauf hat jedes Kind ein Recht.“

Zum Schluss sagt Martin Kloszowski: „Was unsere Mitarbeiter auf keinen Fall wollen, ist, dass ein Kind zu Schaden kommt, weil sie nichts unternommen haben.“ Und er sagt auch: „Wir stehen eigentlich immer von zwei Seiten unter Druck. Entweder, so der Vorwurf in diesem Fall, greifen wir zu früh ein – oder zu spät.“

Die Sozialpädagogin

Vom 28. Februar bis 21. März 2017 hält sich David mit seiner Mutter in einer Vorsorge-Reha-Klinik im Harz auf. Eine Mutter-Kind-Kur mit viel Bewegung in Wald und Natur sowie pädagogisch begleiteten Begegnungen zwischen Mutter und Sohn. In ihrem abschließenden Bericht schreibt die Diplom-Sozialpädagogin Erika T.: „In der Kindergruppe zeigte David Überforderungstendenzen und eine Anpassungsstörung. So konnte er blitzschnell in körperliche Auseinandersetzungen mit Kindern geraten und diese nebenbei verletzen. Aufgrund seines biografischen Hintergrundes zeigt er Verlassens-Ängste und eine große Tendenz, sich seines Lebens zu wehren.“ Sie beschreibt David aber auch als „wissbegierig, wortgewandt, aufgeschlossen und sehr anhänglich“. Er zeige „eine große Sensibilität, einen schalkhaften Humor und Sprachbegabung“.

In der Mutter-Kind-Entspannung sei eine „intakte Mutter-Kind-Beziehung“ zu beobachten gewesen. „Und nach Gesprächen mit der Mutter, die sehr unter Druck steht, auch ein weicherer und sensiblerer Umgang.“ Mit einer Sieben-Stunden-Kinderbetreuung sei David überfordert gewesen, weshalb eine stundenweise Betreuung erfolgte. „Dies verringerte seine Überforderungstendenz und konnte aggressive Zusammenstöße vermeiden.“

Trennung kann Störung hervorrufen

Sie rät, David in einer Integrations- oder heilpädagogischen Einrichtung zu betreuen, und schreibt abschließend: „Die Mutter sollte in Erziehungsprozesse einbezogen werden. Wenn der emotionale Druck der Fremdbetreuung von Mutter und Sohn genommen wird, ist eine angemessene Erziehungsfähigkeit der Mutter durchaus möglich, und der Sohn wird mit mehr emotionaler Sicherheit sich nicht mehr so massiv seiner Haut wehren müssen.“

Und weiter: „Eine Trennung von Mutter und Sohn kann eine tiefe emotionale Störung hervorrufen, da David die Schuld auf sich nehmen wird und seine Anpassungsstörung manifestiert werden könnte.“ Der Bericht ist vom 30. März 2017. Einen Tag später stehen Jugendamtsmitarbeiter und Polizisten auf Finkenwerder bei der Mutter vor der Tür, um David in Obhut zu nehmen.

Am 3. Juli schreibt die Pädagogin erneut, „dass eine Fremdunterbringung des Sohnes zurzeit eine tiefe emotionale Verunsicherung des Kindes hinterlassen kann“. Es gelte vorerst die Beruhigung, „dass keine Trennung stattfindet, bevor konstruktiv an Verhaltensauffälligkeiten sowie Erziehungskompetenz gearbeitet werden kann“.

24 Tage später kommt David in das Heim bei Flensburg.

Die Richterin

Der bislang letzte gültige Gerichtsbeschluss im „Fall David“ ist vom 24. April 2018. Die Vorsitzende Richterin am ­Hanseatischen Oberlandesgericht entscheidet, dass die Beschwerde der ­Mutter gegen den Beschluss des Familiengerichts, ihr die elterliche Sorge zu entziehen, zurückgewiesen wird. Damit bleibt das Sorgerecht beim Amtsvormund. Für die Richterin steht fest, dass im Falle einer Rückkehr von David zu seiner Mutter eine Kindeswohlgefährdung bestünde.

Hochgradige Verhaltensstörung

Bei David bestehe eine „hochgradige Verhaltensstörung, insbesondere eine Impuls- und Regulationsstörung, der die Mutter nicht in einer eine Kindeswohlgefährdung ausschließenden Art und Weise durch ihre Erziehung und Betreuung begegnen kann. Sie ist ihrerseits erheblich belastet und nicht ausreichend in der Lage, sich in die Bedürfnisse des Kindes einzufühlen.“

Auch die Großeltern, die ihre Bereitschaft zur Übernahme der Pflegschaft erklärt haben, kämen derzeit als Ergänzungspfleger nicht in Betracht. „Ebenso wie die Kindesmutter leugnen sie Verhaltensauffälligkeiten von David. Im Übrigen liegt auch keine ausreichende Bindung der Großeltern an David vor.“ Die Richterin ist der Überzeugung, dass David derzeit einer professionellen Hilfe bedarf, „die zu leisten die Großeltern nicht in der Lage wären, schon mangels entsprechender Ausbildung“.

Das Gericht ist der Meinung, dass die gravierenden impulshaften Verhaltensauffälligkeiten von David wie Schlagen, Kneifen oder sexualisiertes Verhalten bereits aus der Vergangenheit herrühren. Diese zeige er weiterhin.

Erstaunlich aber: Von den Selbstmordabsichten, die David nachweislich erst nach der Fremdunterbringung geäußert hat, steht in dem Beschluss des OLG kein Wort.

Die Gutachterin

Ein Gutachten soll im Herbst 2016 die Erziehungsfähigkeit der Mutter überprüfen. Die Gutachterin, Diplom-Psychologin Claudia S., spricht mehrmals mit Jasmin und einem Dutzend Beteiligten: Kita-Mitarbeiterinnen, Sozialpädagogen, Therapeuten, Kinderarzt. Sie besucht Jasmin und David zu Hause und geht mit zum Kinderturnen. Das Gutachten umfasst 30 Seiten. Die Psychologin kommt zu folgendem Ergebnis: „Die sorgeberechtigte Mutter ist nicht in der Lage, die elterliche Sorge für das Kind David auszuüben, es liegt eine Gefährdung des geistigen oder seelischen Wohls des Kindes vor. In der Begutachtung haben sich Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit ergeben. Es muss von grundsätzlichen Problemen in der Qualität der elterlichen Kompetenzen ausgegangen werden. Das Kind kann nur bei der Mutter verbleiben, ohne dass eine weitere Gefährdung des geistigen oder seelischen Wohls des Kindes besteht, wenn umfangreiche Bedingungen erfüllt sind.“

Die Mutter sei vor dem Hintergrund ihrer eigenen psychischen Belastung bisher nicht ausreichend in der Lage, „feinfühlig unter Absehung ihrer eigenen Befindlichkeit auf ihren hoch auffälligen Jungen einzugehen“. Die Herausnahme des Jungen könne nur verhindert werden, wenn es gelinge, ein tragendes Netz auszubauen. Die Vernetzung im Helfersystem müsse gelingen, damit die Mutter sich im Umgang mit dem Jungen beraten lasse und nicht manipulierend ausweiche. Über den Kindeswillen schreibt sie, dass David liebevoll und dann wieder respektlos mit seiner Mutter umgehe: „Seine Mutter ist die einzige wichtige Bezugsperson für den Jungen, die Beziehung kann als bedeutsam bezeichnet werden.“

Die Großeltern

Monika und Rüdiger K., Davids Großeltern, in ihrem Haus in Lohbrügge. Sie verstehen nicht, warum ihr Enkel nicht bei ihnen wohnen darf
Monika und Rüdiger K., Davids Großeltern, in ihrem Haus in Lohbrügge. Sie verstehen nicht, warum ihr Enkel nicht bei ihnen wohnen darf © Andreas Laible | Andreas Laible

Monika (57) und Rüdiger K. (59) sitzen auf der Couch in ihrem Wohnzimmer in einer schmucken Wohnsiedlung in Lohbrügge. „Ich dachte immer, wir leben in einem Rechtsstaat“, sagt Rüdiger K. Er hat den Glauben daran verloren. Hinter den Großeltern liegen Monate voller Verzweiflung und Wut. Die Auseinandersetzungen mit dem Jugendamt und die Prozesse vor Gericht. Anwaltskosten in Höhe von 8000 Euro und eine körperliche Attacke: Nach einem handfesten Streit mit der Heimleiterin in Flensburg stellte Monika K. Strafanzeige gegen Frau T. wegen Körperverletzung.

Am schlimmsten jedoch, sagt Monika K., ist der Abbruch des Kontakts zum Enkel. „Wir durften David zuletzt einmal im Januar sehen.“ Wie geht es ihm? „Sehr schlecht“, sagen sie. Der Junge habe ständig Fluchtgedanken, und er hat Selbstmordabsichten geäußert. „Er leidet unheimlich.“ David werde in der Einrichtung ständig bewacht, er habe Gewalt erlebt und sei ungepflegt.

Sie fragen: „Wo bleibt das Kindeswohl, von dem doch immer alle reden?“ Wieso müsse ihr Enkel seit einem Jahr in staatlicher Obhut weit außerhalb Hamburgs leben, nur weil seine alleinerziehende Mutter irgendwann das Jugendamt um Unterstützung und Hilfe bei der Erziehung gebeten hat?

„David wurde alles genommen. Seine Familie, seine Freunde, sein Platz in der Vorschule, sein Platz im Schwimmverein, sein sicheres Zuhause. Warum wird unser Enkelkind nicht einmal gefragt, was es möchte? Er hat doch am Telefon und bei den wenigen Besuchen immer wieder gesagt, dass er nach Hause möchte. Immer wieder. Er wird gegen seinen Willen eingesperrt und hat darauf mit Selbstmordabsichten reagiert. Er war bereits zweimal für längere Zeit in der Psychiatrie. Das müsste doch selbst für jeden Außenstehenden Grund genug sein zu sehen, wie sehr der kleine Junge leidet und wie sehr sich sein Zustand seit der Fremdunterbringung verschlechtert hat.“

Welches Verbrechen hat David begangen?

Sie fragen auch: „Welche Verbrechen hat David begangen, dass er mit seinen sechs Jahren derart bestraft wird? Was hat er getan, dass sein Vormund ihm dieses Leid antut?“

Im Kinderschutzhaus im Pulverhofsweg hätten sie David immerhin zweimal in der Woche besuchen dürfen. „Das war jedes Mal sehr harmonisch.“ Sie machten Ausflüge, spielten im Garten, trafen sich mit Freunden. Doch anstatt von Wandsbek zurück zur Mutter oder auch zu seinen Großeltern wurde David am 27. Juli in ein Heim bei Flensburg gebracht. „Durch diese klammheimliche Verlegung hat das Jugendamt die zarte Bindung von David und uns kaputtgemacht. Dieser erneute Bindungsabbruch stellt eine Kindeswohlgefährdung dar, auf die David mit Selbstmordabsichten reagiert hat“, sagt Monika K.

Die Großeltern stellten eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Bezirksamtsleiter Falko Droßmann und weitere gegen Jugendamtsmitarbeiter. Sie schrieben einen Brief an den Bürgermeister. Sie informierten den Kinderschutzbund und die Jugendhilfeinspektion. Sie erstatteten insgesamt 14 Anzeigen gegen Jugendamtsmitarbeiter. Wegen Kindeswohlgefährdung, Nötigung, Verleumdung, Falschaussagen, Kindesentziehung.

Sie verstehen nicht, dass sie vom Jugendamt nie ernsthaft als Pflegeeltern in Betracht gezogen worden sind. „Es stimmt, wir hatten uns erst gegen den Pflegekurs ausgesprochen, weil wir finanziell unabhängig sind und schließlich auch selbst vier Kinder großgezogen haben.“ Zwei Töchter haben einen Studienabschluss, der Jüngste macht in zwei Jahren Abitur. Ein Anruf beim Jugendamt Bergedorf ergab zudem, dass der Kursus nicht für Angehörige war.

Ausgetrickst und übergangen

„Da wir vom Jugendamt aber unter Druck gesetzt wurden, weil sie behaupteten, wir würden nicht kooperieren, sind wir zu einer Info-Veranstaltung bei ,Pfiff’‘ gegangen. Wir wollten noch in den eine Woche später beginnenden Kurs aufgenommen werden, dazu aber bedurfte es einer Fax-Zusage vom Jugendamt an ,Pfiff‘. Das wurde ohne Begründung verweigert.“

Sie fühlen sich ausgetrickst, übergangen und nicht ernst genommen. Und sie fragen sich: Wieso bezahlt die Stadt rund 9000 Euro pro Monat für die Heimunterbringung des Jungen 200 Kilometer weit weg von zu Hause, anstatt ihn bei seinen Großeltern wohnen zu lassen? „Hier ist genug Platz, und wir haben auch die Zeit, uns um ihn zu kümmern. Unser Enkel hat doch immer wieder gesagt, dass er bei uns wohnen möchte.“

Sie werden den Kampf um David nicht aufgeben: „Sehen Sie, ich bin Contergan-geschädigt“, sagt Monika K. „Ich habe mein Leben lang kämpfen müssen.“ Im Mai haben die Großeltern Verfassungsbeschwerde eingereicht.

Das Kind

„David ist ein sympathischer, energiegeladener, umtriebiger und neugieriger Junge, der fröhlich die Welt erkunden will, dabei bestimmerisch ist und die Welt nach seinen Vorstellungen gestalten und kontrollieren möchte. Es ist deshalb nicht leicht, ihn zu lenken“, schreibt die Gutachterin.

„David ist ein Draußen-Kind, ein Wirbelwind, er liebt uns, und wenn wir ihn gesehen haben, hat er uns hinterher gar nicht mehr losgelassen“, sagen seine Großeltern.

Im August 2017, vier Wochen nach der Fremdunterbringung, sagt David zu einer Betreuerin im Heim: „Kratz mich, bis ich tot bin.“ Er kommt in die Helios Klinik in Schleswig. In der Untersuchung ist er laut ärztlichen Berichten „kooperativ und freundlich“. Als man ihm sagt, dass am nächsten Tag seine Mutter zu Besuch auf die Station kommt, fragt er sofort: „Wann darf ich nach Hause?“

Im Januar darf seine Mutter 26 Minuten lang mit ihm telefonieren. Er flüstert ihr etwas zu, was sie nicht versteht. Sie sagt ihm, er solle es laut sagen, damit es auch der Betreuer Herr G. hören kann. David sagt: „Mama, ich möchte um ein Uhr nach Mitternacht aus dem Büro den Autoschlüssel klauen und zu dir fahren.“ Sie fragt ihn, wieso. Er sagt, dass er den Erziehern und dem Heimleiter immer sage, dass er fliehen will und dass sie ihn nach Hause bringen sollen. Er möchte auf einen Zettel die Zahlen 1 bis 6 schreiben und jeden Tag wegstreichen, damit er weiß, wann Oma und Opa ihn besuchen kommen. Er sagt, die Betreuer hätten ihm den Schlüsselanhänger in Herzform von den Großeltern weggenommen.

Lebhafter, fantasievoller Junge

Im März trifft David das erste Mal seine Verfahrensbeiständin. Sie beschreibt ihn als „lebhaften, fantasievollen Jungen“, der es vermag, „offen und freundlich auf andere Menschen zuzugehen“. Er mache auf den ersten Blick einen gut entwickelten Eindruck. Seine außerordentlichen Verhaltensprobleme träten aber bei näherem Hinsehen deutlich zutage. Sie bringt ihm einen Luftballon mit, den er sofort aufbläst. Er zeigt ihr seine Schulhefte und berichtet, was er schon gelernt hat. Und dass er draußen am liebsten klettert und rennt. Er redet ununterbrochen. Als sie sagt, dass sie bald wiederkommt und dann über seine Mutter spricht, will er ihr etwas mitteilen. Er sagt, er wolle zu seiner Mutter. „Außerdem will ich sie viel öfter sehen und werde so lange Stress machen, bis ich das erreicht habe.“

Beim zweiten Besuch sagt die Verfahrensbeiständin zu David, sie sei überzeugt, dass es richtig sei, wenn es erst einmal eine richtig lange Pause gäbe, bis er seine Mutter wieder sehen könnte. David fragt sie: „Warum findest du das gut?“ Sie sagt: „Ich glaube, dann hättest du mehr Zeit und Ruhe, um deine Schwierigkeiten loszuwerden.“ David sagt nichts mehr. Er will nur noch etwas spielen, und sie versuchen, Knete mit einer Dose zu fangen.