Hamburg. Die Krankenversicherungs-Chefs Jens Baas und Eberhard Sautter über gesetzlich vs. privat und die beste Versorgung.

Die Gesundheit wird immer teurer, weil wir immer älter werden – diese einfache Rechnung stimmt so nicht, sagen die Vorstandschefs Dr. Jens Baas (Techniker Krankenkasse) und Eberhard Sautter (HanseMerkur) beim Abendblatt-Gipfel zur gesetzlichen und privaten Krankenversicherung. Sie streiten über die Vorteile ihrer „Systeme“, über Wechselwillige und die Möglichkeiten moderner Medizin.

Hamburger Abendblatt: Herr Baas, die gesetzlichen Krankenkassen haben allein im ersten Quartal einen Überschuss von 416 Millionen Euro gemacht. Wann ist es Zeit, die Beiträge für die 70 Millionen Versicherten zu senken?

Jens Baas: Viele Beiträge wurden ja bereits gesenkt. Das war möglich, weil die Konjunktur derzeit floriert und wir ein Rekordhoch bei der Beschäftigung haben. Junge Europäer, etwa aus Griechenland, Spanien oder Italien kommen zum Arbeiten nach Deutschland. Das wirkt sich positiv auf die Sozialkassen aus. Die Überschüsse in der gesetzlichen Krankenversicherung gehen ja, im Gegensatz zu vielen Privatversicherungen, nicht an Aktionäre, sondern kommen komplett den Versicherten zu Gute, entweder als Mehrleistung oder als Beitragssatzsenkung.

Aber Sie bilden Rücklagen.

Baas: Das ist richtig. Und die brauchen wir auch, um seriös zu planen, Schwankungen auszugleichen und die Beiträge stabil halten zu können. Die minimale und maximale Höhe der Rücklagen ist gesetzlich festgeschrieben. Was darüber hinausgeht, geben wir an unsere Versicherten zum Beispiel in Form von Beitragssenkung zurück. Wir müssen auch immer im Blick behalten, dass die Gesundheitsausgaben langfristig weiter steigen werden. Und die aktuell gute Lage zeigt, wie abhängig wir von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sind.

Herr Sautter, die Altersrückstellungen der privaten Krankenversicherer sind auf ein Rekordhoch gestiegen: 250 Milliarden Euro. Wann sinken für Ihre Versicherten die Prämien?

Eberhard Sautter: Diese Rückstellungen sind für die höheren Gesundheitskosten im Alter angespart. Ein Beispiel: Die Gesundheitskosten eines 70-Jährigen sind etwa fünfmal so hoch wie die eines 20-Jährigen. In der Pflege divergieren die Ausgaben sogar um den Faktor acht.

Private Krankenversicherung: Prämien steigen im Alter

Das heißt die Kosten sind im Alter fünfmal so hoch?

Sautter: Ja, und um dies abzufedern sind die Rückstellungen da. Übrigens kommt es auch in einigen Tarifen – etwa zur Absicherung von Verdienstausfall oder Krankenhaustagegeld – zu Beitragssenkungen. Aber die Gesundheitskosten steigen im Jahr zwischen 3 bis 5 Prozent. Das hat sowohl etwas mit der älter werden Gesellschaft zu tun als auch mit den Kostensteigerungen im Gesundheitswesen. Insofern sind Beitragssteigerungen wahrscheinlicher.

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Leser schreiben uns von deutlich höheren Prämiensteigerungen für Privatversicherte als drei bis fünf Prozent. Manche wechseln in günstigere Tarife, die nur noch eine Basisabsicherung bieten.

Sautter: Bei der HanseMerkur liegen wir in den letzten zehn Jahren unter drei Prozent Anpassung pro Jahr. Unser Durchschnittsversicherter hat eine Prämie von 350 Euro pro Monat. Ich selbst zahle etwas mehr, aber ich beuge mit meinem Tarif auch noch den Prämiensteigerungen im Alter vor. Warum lohnt sich das? Weil man über das Bürgerentlastungsgesetz die Gesundheitskosten deutlich besser als früher von der Steuer absetzen kann.

Warum sollte sich jemand, der wählen kann, für die PKV entscheiden? Was unterscheidet den gesetzlich und privat Versicherten bei den medizinischen Leistungen?

Sautter: Die freie Arzt- und Krankenhauswahl oder die Möglichkeit, vom Chefarzt behandelt zu werden bzw. ein Einzelzimmer im Krankenhaus zu bekommen, ist für viele ein wichtiger Grund für die PKV. Es kommt hinzu, dass wir nicht nur älter sondern auch deutlich fitter älter werden wollen. Auch die Generation 70 plus wünscht sich ein strahlendes Lächeln anstelle eines Komplett-Gebisses. Und selbst bei Brillen und Hörgeräten gibt es enorme Unterschiede in Funktionalität und Design. Unbedingt empfehlenswert ist auch eine Pflegezusatzversicherung, um die Unterdeckung bei den Pflegekosten abzusichern.

Auch "Gesetzliche" bekommen beste Medizin

Ein 25-Jähriger kann noch nicht überblicken, wie sich sein Gesundheitszustand entwickelt, ob er heiratet, eine Familie gründet. Aus dem privaten System kommt er nicht mehr raus. Ist nun ein gesetzlich Versicherter schlechter gestellt, wenn er einen Herzinfarkt hat?

Baas: Definitiv nein. Der Unterschied zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung liegt nicht in der Qualität der medizinischen Versorgung, sondern in den Zusatzleistungen wie Chefarztbehandlung oder einem Einzelzimmer im Krankenhaus. Das kann man aber privat zusatzversichern. Wer in der gesetzlichen Krankenversicherung ist, bekommt, auch im weltweiten Vergleich, eine erstklassige Versorgung. Wo möchten Sie lieber Patient sein als in Deutschland?

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Kriegt der „Gesetzliche“ die modernste Medizin?

Baas: Ja, teilweise bekommen gesetzlich Versicherte sogar die bessere Versorgung: jede Behandlung und jedes Medikament, das von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen wird, durchläuft einen ausführlichen Zulassungsprozess. Das heißt die Leistungen der Krankenkasse unterliegen sehr hohen Sicherheitsstandard. Wer hingegen neue Leistungen möglichst schnell an den Mann/ die Frau bringen möchte, wird nicht immer ausreichend sicherstellen können, dass diese die gewünschte Wirkung erzielen.

Wechsel von der PKV in die GKV

Ist das für die Versicherten entscheidend, ob man zwei oder vier Wochen wartet?

Baas: Die längeren Wartezeiten bei manchen Facharztgruppen sind nicht der Haupt-Wechselgrund in die Privatversicherung: Versicherte wechseln in die PKV, weil sie sich dort in jungen Jahren sehr günstig versichern können. Das macht sich für Berufsanfänger im Portemonnaie deutlich bemerkbar. Aber dann wird man älter, muss jedes Familienmitglied selbst versichern und schon sieht die Rechnung anders aus. Ich bekomme jetzt als Vorstandsvorsitzender der TK regelmäßig Briefe, in denen steht: „Wir haben 2000 Euro Rente und zahlen 1200 Euro für unsere private Krankenversicherung. Kann ich nicht zurück in die Techniker Krankenkasse?“ Die finanziellen Probleme zeigen sich leider oft erst im Alter, und dann ist es zu spät.

Herr Sautter, wie ist das mit den Wechselmöglichkeiten von den Privaten zu den Gesetzlichen?

Sautter: Ein Wechsel ist im Allgemeinen nicht ohne Weiteres möglich. Bis 55 hängt er im Wesentlichen von Beruf und Einkommensverhältnissen ab. Aber es gibt beim gewählten Privaten Krankenversicherer viele alternative Produktangebote und für soziale Härten den Basis-, Standard- oder Notlagentarif. Auch ein Wechsel in andere PKV-Unternehmen ist unter Mitgabe eines Teils der Alterungsrückstellungen möglich. Allerdings stellen wir fest, dass erkrankte Versicherte eher selten wechseln. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass das deutsche Gesundheitssystem eines der besten der Welt bei bezahlbaren Prämien ist. Das liegt auch maßgeblich an den Wechsel- und Wahlmöglichkeiten zwischen GKV und PKV. Denn Wettbewerb erhöht die Qualität und Effizienz.

Baas: Bei den gesetzlichen Krankenkassen ist der Wechsel problemlos möglich, man sieht das am Beispiel der TK: Zu uns wechseln jedes Jahr Hunderttausende Versicherte von anderen Krankenkassen. GKV-Versicherte können ohne Nachteile alle 18 Monate ihre Kasse wechseln.

Sautter: Bei der HanseMerkur gibt es innerhalb des Unternehmens bei den Vollversicherten einen Wechsel. Man wählt einen anderen Tarif.

Beamte gesetzlich krankenversichern?

Ist das dann der Basistarif, der an der gesetzlichen Krankenversicherung orientiert ist?

Sautter: Grundsätzlich gibt es bessere Alternativen als den Basis- oder Standardtarif. Meistens werden diese Tarife auf Anraten von Verbraucherschützern in sozialen Härtefällen wie Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit oder Unterbrechung der Erwerbsbiographie angefragt. Der Anteil dieser Gruppe innerhalb des Vollversicherten-Kollektivs der HanseMerkur beträgt weniger als 0,5 Prozent. Sie sehen, es ist eher die Ausnahme. Nur nimmt die Berichterstattung über diese Personen mit Zahlungsschwierigkeiten in der Öffentlichkeit einen sehr breiten Raum ein. Tatsache ist: Die Nichtzahler treffen PKV und GKV gleichermaßen. Ende 2016 hatten die rund 10 Prozent der Privatversicherten Beitragsschulden von 328,7 Millionen Euro. Die rund 90 Prozent der gesetzlich Versicherten hingegen mehr als 7 Milliarden Euro.

Herr Baas, Hamburg will, dass Beamte künftig gesetzlich krankenversichert werden. Ein gutes Geschäft für Sie?

Baas: Ich finde, der Vorstoß in Hamburg geht ein wichtiges Thema an. Er adressiert eine völlig überholte Regelung. Warum werden Beamte, die in eine gesetzliche Krankenkasse wollen, finanziell benachteiligt? Das lässt sich weder gesellschaftlich noch ökonomisch begründen. Mich hat aber in diesem Zusammenhang die Kampagne zur Bürgerversicherung geärgert, weil sie von einer „Zweiklassenmedizin“ sprach und die Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung als minderwertig abstempeln wollte: Ja, es gibt natürlich eine Mehr-Klassen-Medizin. Wenn jemand viel Geld hat und krank ist, wird er sich Leistungen wie ein Einzelzimmer on top leisten können. Das ist auch in Ordnung. Wichtig ist aber, dass die Klasse, in der 90 Prozent der Bevölkerung versichert sind, also die gesetzlichen Krankenkassen, eine hervorragende Versorgung bieten, und das ist bei uns der Fall!

Was muss sich bei den Ärzten ändern? Muss man sie bei der Terminvergabe an die Kandare nehmen?

Baas: Ärzte mit Kassenzulassung müssen einen bestimmten Teil ihrer Arbeitszeit für Kassenpatienten aufbringen. Sie dürfen nicht aus wirtschaftlichen Gründen den Anteil an Privatpatienten beliebig steigern. Aber wir müssen auch kritisch überdenken, ob das derzeitige Vergütungssystem die Probleme nicht befördert. Ein Ärztevertreter hat mir kürzlich vorgeworfen, dass wir unsere Versicherten in unserer Gesundheitsakte darüber informieren, was bei ihrem letzten Arztbesuch abgerechnet wurde. Das sei unfair, weil die Angaben unter Umständen nicht hundertprozentig stimmen, da es später noch zu Änderungen kommen kann. Ja - aber das Problem ist doch dann nicht die Transparenz! Wenn diverse Punktwerte, Steigerungsraten und Verteilungsmechanismen das Vergütungssystem für Ärzte so komplex machen, dann brauchen wir ein besseres System und nicht möglichst keine Transparenz für den Versicherten.

Sautter: Wir sind private Unternehmen und können die Verträge frei gestalten. Die Preise könnten natürlich niedriger sein, sind aber in einer Gesamtbetrachtung noch vernünftig. Wir geben in Deutschland rund elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus. Das ist deutlich weniger als in den USA oder in der Schweiz. Obwohl die Bevölkerung im Durchschnitt älter geworden ist und wir die Leistungen in der Pflege deutlich ausgeweitet haben, bleiben wir noch auf diesem Level.

Baas: Man muss die Vergütung der Ärzte von Grund auf anders aufsetzen. Wenn man jede Leistung oder jede Leistungspauschale mit einer bestimmten Zeit und einem fixen Geldbetrag hinterlegt, dann benötigt man keine Budgets mehr und die Ärzte hätten Planungssicherheit. Das würde das ganze System deutlich vereinfachen und transparenter machen. Das ginge aber nur in einem einheitlichen Versicherungsmarkt.

Honorare für Ärzte: Mehr Praxen in Wilhelmsburg?

Was würde das für die Ärzte bedeuten?

Baas: Eine ärztliche Anamnese würde dann beispielsweise mit einer halben Stunde und einem festen Satz veranschlagt. Wenn jemand 50 Anamnesen am Tag abrechnet, wäre auf den ersten Blick ersichtlich, dass das nicht plausibel sein kann. Wenn man einfach die Budgets abschafft, löst das noch nicht das Problem, dass wir über- und unterversorgte Gebiete haben. Wir müssten die Honorare so regeln, dass es für den Arzt finanziell egal ist, ob er sich in Blankenese oder Wilhelmsburg niederlässt.

Eines der größten Themen in der Gesundheit, womöglich in der Gesellschaft, ist die Digitalisierung. Herr Sautter, die Privaten haben bei der umstrittenen elektronischen Gesundheitskarte nie mitgemacht. Wie digitalisieren Sie Ihr Geschäft und was hat der Patient davon?

Sautter: Kosten von mehr als einer Milliarde Euro bei einem sehr stark eingeschränkten Leistungsumfang der elektronischen Gesundheitskarte sprechen eine klare Sprache. Da nicht mitzumachen war kein Nachteil. Aber kann eine Kasse oder ein privates Krankenversicherungsunternehmen sich im digitalen Wettbewerb ernsthaft gegen Google, Amazon oder Facebook behaupten? Die Investitionen für den Speicherbedarf würden unsere Möglichkeiten weit übersteigen.

Also beugen wir uns Google?

Sautter: Nein. Aber wenn Sie wirklich eines Tages anhand des Blutbildes eine Warnung auf Ihrem Smartphone via App und gekoppelt an Ihren Arzt bekommen wollen oder den Hinweis auf einen drohenden Schlaganfall, dann braucht man „Big Data“ und künstliche Intelligenz: gewaltige Datenmengen. Wir haben heute schon „Cardigo“. Da kann sich ein Versicherter über ein mobiles EKG-Gerät, eine digitale Gesundheitsakte und eine spezielle App auch nachts, am Wochenende oder auf Reisen durch niedergelassene deutschsprachige Kardiologen fundiert beraten lassen. So kann er selber feststellen, ob er nur einen Espresso zu viel getrunken hat oder sich da etwas Ernsteres anbahnt, wenn die Werte eskalieren. Irgendwann wird man Vergleichbares vielleicht auch für die Krebsvorsorge haben – und dann können wir solche Innovationen schneller anbieten als die Gesetzlichen, weil wir einfach einen Vertrag schließen und die Dienstleistungen unseren Kunden zur Verfügung stellen.

Elektronische Gesundheitskarte gescheitert

Wie kann man künstliche Intelligenz einsetzen?

Sautter: In Zukunft wird es mit Hilfe der künstlichen Intelligenz, Big Data und moderner Sensorik möglich sein, Erkrankungen deutlich früher zu erkennen. Unser Ziel ist es, mit den zukünftigen Innovationstreibern im Gesundheitsmarkt frühzeitig Verträge zu schließen, um so unseren Kunden den maximalen Nutzen aus der medizinischen Entwicklung zeitnah und qualitätsgesichert zur Verfügung zu stellen.

Gesundheitsdaten von Patienten sollen in Zukunft per App auf dem Smartphone gespeichert werden können
Gesundheitsdaten von Patienten sollen in Zukunft per App auf dem Smartphone gespeichert werden können © Hans-Jürgen Witte

Herr Baas, wie sehr hat Sie das Fiasko der elektronischen Gesundheitskarte geärgert?

Baas: Sehr. Man gibt Milliarden aus für eine Karte, auf der lange vor allem der Name gespeichert war…

Was ist die Konsequenz daraus?

Baas. Das Problem der Gesundheitskarte war ja nicht die Technik, sondern die Interessenskonflikte. Bei vielen Beteiligten mit zum Teil völlig unterschiedlichen Interessen ist es leider immer wahrscheinlicher, eine Lösung mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, als die gewünschte leistungsfähige Datenautobahn. Digitalisierung bedeutet Transparenz, und Transparenz scheuen leider viele Beteiligte im Gesundheitssystem sehr. Der Versicherte und erst recht der Patient, wünschen sich aber diese Transparenz und haben ein Recht darauf. Jeder Versicherte sollte seine Daten selbst digital speichern können, ohne sie für kommerzielle Zwecke preisgeben zu müssen, etwa für Google oder Facebook.

Der Kranke sagt schneller als der Gesunde: Wenn es mir hilft, ist doch der Datenschutz egal.

Baas: Genau das ist die Gefahr: wenn es von kommerzieller Seite ein Angebot geben wird, das für die Menschen einen großen empfundenen Nutzen für ihre Gesundheit hat, werden sie es nutzen und den Datenschutz hintanstellen. Deshalb wollen wir unseren Versicherten mit der elektronischen Gesundheitsakte eine gute Lösung mit höchstmöglichem Datenschutz bieten. Jeder TK-Versicherte wird damit die Option bekommen, seine eigenen Daten sicher digital zu verwalten. Nur er kann dann entscheiden, welche Daten er für wen freigibt, weder die Krankenkasse noch Ärzte können sie ohne Erlaubnis einsehen.

Gesundheits-Datenschutz bei Google und Amazon fraglich?

Was wird das für Ärzte ändern?

Baas: Diese elektronischen Akten werden zu großen Veränderungen führen: Ich bin davon überzeugt, dass es in absehbarer Zeit keine Diagnosestellungen mehr ohne Nutzung eines Expertensystems geben wird. Der Arzt wird damit nicht überflüssig werden, aber er wird endlich die von einem einzelnen Menschen nicht mehr überschaubaren Datenmengen und Fortschritte in der medizinischen Forschung für seine Diagnose und Therapie nutzen können. Um Big Data für den Patienten nutzbar zu machen, brauchen wir künstliche Intelligenz.

Also hat der Patient wie heute beim Smartphone eine Option wie „Möchten Sie für diese App Ihren Standort übermitteln?“

Baas: Richtig. Der Krebskranke kann seine Daten dann zum Beispiel anonym für die Forschung freigeben. Die nächste Revolution in der Medizin wird nicht ein neues Medikament oder eine neue Behandlungsmethode sein, sondern die intelligente Vernetzung von Daten. Und viele Daten liegen ja bereits vor. Es gibt nur keine Stelle, wo sie zusammengeführt und ausgewertet werden, damit aus einzelnen Datenpunkten letztendlich auch aufschlussreiche Informationen werden.

Sind wir in Deutschland schon so weit?

Sautter: Den Zahnersatz wird bald ein 3-D-Drucker herstellen, das wird günstiger. Grundsätzlich sind bei Hilfsmitteln starke Kostensenkungen aufgrund technischer Entwicklungen möglich. Das bedeutet: Die Digitalisierung kann auch die Kosten dämpfen.

Baas: In Deutschland hinken wir bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen weit hinterher. Als junger Arzt im Krankenhaus habe ich es oft erlebt, dass wir bei Neuaufnahmen eher schnell eine Magenspiegelung nochmal gemacht oder nochmal geröntgt haben, als nach alten Befunden oder Röntgenbildern zu suchen. Leider hat sich das in den letzten 20 Jahren nicht wesentlich gebessert. Das Kernproblem heißt immer noch: Wo liegen die Daten? Es gibt keine zentrale Stelle, wo Patienten ihre Gesundheitsdaten ablegen und jederzeit darauf zugreifen können! Dieses Problem lässt sich nur mit einer elektronischen Gesundheitsakte lösen.

TK-Chef Jens Baas
TK-Chef Jens Baas © Imago/Jürgen Heinrich

Sind andere Länder weiter?

Baas: Die baltischen Staaten sind bei der Digitalisierung schon deutlich weiter. Die hatten lange Zeit kein funktionierendes Gesundheitssystem und mussten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion alles neu aufbauen. Das ist der Vorteil, wenn noch keine Strukturen bestehen. Sie konnten ein neues System aufsetzen: digital, einheitliche Schnittstellen und mit moderner Technik. Aber auch Länder wie Israel, Dänemark und für einzelne Bereiche die USA oder China gehören zu den Vorreitern.

Sautter: Man muss den Nutzen von großen Datenmengen für den Patienten begreifbar machen, um eine deutlich höhere Akzeptanz beim Verbraucher zu erlangen. Denn die nächste medizinische Revolution wird von den Daten getrieben werden.

Baas: Wir brauchen eine gesetzliche Vorgabe, dass die Kassen jedem eine elektronische Gesundheitsakte anbieten müssen. Diese Akten müssen miteinander kompatibel sein. Und die EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) muss einheitlich ausgelegt werden. Es kann nicht sein, dass sie jeder Datenschützer in jedem Bundesland anders interpretiert. Falsch verstandener Datenschutz kann Patienten töten. Zurzeit ist es z.B. so, dass wir als Krankenkasse zwar grundsätzlich die Möglichkeit hätten zu sehen, dass Patienten Medikamente nehmen, die sich nicht miteinander vertragen. Derzeit dürfen wir jedoch nur Patienten warnen, die an bestimmten Programmen teilnehmen und dem explizit zugestimmt haben.

Warum sind meine Daten bei Google nicht gut aufgehoben?

Baas: Wenn die Patienten alle Daten an Google geben - um mal den größten Player pars pro toto für andere zu nennen - wird Google der AirBnB des Gesundheitswesens und die Ärzte und auch wir Krankenkassen abhängige und austauschbare Produktzulieferer. Dann werten die Internet-Konzerne die Gesundheitsdaten aus und kommerzialisieren sie. Das kann nicht im Sinne der Patienten sein. Und mit dem Datenschutz ist es dann auch nicht mehr weit her.