Hamburg. Die Fraktionschefinnen haben ehrgeizige Ziele für die Bürgerschaftswahl 2020 – und eine klare Position im Richtungsstreit der Partei
Seit 2015 führen Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir die Linksfraktion in der Bürgerschaft. Im Sommerinterview sprechen die beiden Frauen über die Alleinstellungsmerk- male der Linken, mögliche künftige Koalitionen, die Gewalt bei G-20-Demonstrationen und ihre Probleme mit dem Verfassungsschutz.
Der rot-grüne Senat gibt das Steuergeld mit beiden Händen aus, rund eine Milliarde Euro gibt es 2018 obendrauf: für mehr Lehrer, mehr Kitas, mehr Radwege und bessere Straßen – eigentlich müssten Sie zustimmen. Und tun Sie das?
Sabine Boeddinghaus: Wäre das ein Antrag in der Bürgerschaft, der er ja noch nicht ist, würden wir dem zustimmen. Wir haben solche Forderungen in den vergangenen Jahren immer wieder aufgestellt. Der Senat reagiert aber nur auf das Bevölkerungswachstum, auf mehr Kinder in den Schulen und Kitas – dieser Schritt ist lange überfällig. Letztlich ist das nur halbherzig, es muss noch viel mehr getan werden, damit wir mehr Qualität bekommen.
Was muss noch geschehen?
Cansu Özdemir: Wir haben mit Hunderten Bürgerinnen und Bürgern in den Stadtteilen gesprochen. In Billstedt hat sich zum Beispiel herausgestellt, dass die soziale Infrastruktur leidet. Shisha-Bars und Wettbüros schießen aus dem Boden, aber Jugend- oder Nachbarschaftstreffs müssen um ihr Personal von Jahr zu Jahr kämpfen. Unsere Forderung ist, dass eine ressortübergreifende Antiarmutsstrategie erarbeitet wird.
Wie halten Sie es eigentlich mit der Schuldenbremse?
Boeddinghaus: Davon halten wir gar nichts. Da haben wir ein Alleinstellungsmerkmal. Die Schuldenbremse führt dazu, dass nicht ausreichend investiert wird und nicht darauf geachtet wird, was die Menschen brauchen. Die Schuldenbremse hemmt Investitionen. Der Staat kann doch nicht nach dem Motto handeln: Ich kann nur für drei Menschen Äpfel kaufen und nicht für acht, weil ich nicht mehr Geld habe.
Andererseits lasten Sie späteren Generationen die Schulden auf ...
Boeddinghaus: Das vorhandene Vermögen pro neu geborenem Kind ist dreimal so hoch wie die Schuldenlast. Wir brauchen eben eine andere Verteilungspolitik. Es gibt genug Geld.
Die Linke zog erstmals im März 2008 in die Bürgerschaft ein, Sie feiern Zehnjähriges. Wie sieht Ihre Bilanz aus?
Boeddinghaus: Wir sind in Hamburg angekommen. Wir sind wichtig als soziale Opposition im Parlament, aber vor allem auch außerhalb des Parlaments. Wir haben sehr eng geknüpfte Netzwerke mit Wohlfahrtsverbänden, Vereinen und Organisationen. Bei den Diskussionen um Olympia und G 20 hatten wir eine starke Stimme. Mit uns wäre vor 2008 in der Bürgerschaft der Bau der Elbphilharmonie sicher anders debattiert worden.
Stichwort G 20: Kritiker werfen der Linken mangelnde Abgrenzung von den Linksextremen vor. War es rückblickend ein Fehler, bei der von der Linken mit angemeldeten G-20-Demo vor einem Jahr den Schwarzen Block mitlaufen zu lassen?
Özdemir: Nein. Eine Vielzahl verschiedener gesellschaftlicher Gruppen hat zu der Großdemonstration am 8. Juli aufgerufen. Und bis heute ist nicht nachgewiesen, ob die Personen, die bei der Großdemonstration mitgelaufen sind, wirklich an den Geschehnissen nachts in der Sternschanze beteiligt waren.
Der Schwarze Block steht doch nun einmal für Gewaltbereitschaft bei Demonstrationen. Warum tut sich die Linke so schwer, sich klar von linker Gewalt zu distanzieren?
Özdemir: Der Schwarze Block ist nicht homogen. Es gibt viele unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Einstellungen. Wir sind deswegen für Differenzierungen.
Boeddinghaus: Und: Von dieser Demonstration ist keine Gewalt ausgegangen. Fast 80.000 Menschen sind gekommen. Es blieb friedlich.
Gibt es für Sie Anlass zur Selbstkritik im Zusammenhang mit G 20?
Özdemir: Wir hätten uns vielleicht stärker in Sachen Deeskalation einbringen können oder müssen – und zwar auf beiden Seiten des Konflikts: gegenüber der Protestszene, aber auch dem Senat und der Polizei.
Die Linke hat in der Vorbereitung auch mit Gruppen zusammengearbeitet, die vom Verfassungsschutz als gewaltbereit eingeschätzt werden. Sehen Sie das heute selbst kritisch?
Özdemir: Wir haben ein kritisches Verhältnis zum Verfassungsschutz. Ich bin auch schon vom Verfassungsschutz beobachtet worden. Das bedeutet nicht, dass ich eine gefährliche Person bin oder staatsgefährdende Straftaten verübe.
Damals ging es um Ihre angebliche Nähe zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Özdemir: Ja, und weil ich in einer kurdischen Community Frauenarbeit gemacht habe.
Nachdem ein Polizeibeamter einen Afrikaner in St. Georg angeschossen hatte, sagte Ihr Fraktionskollege Martin Dolzer, er halte einen „rassistisch motivierten Hinrichtungsversuch“ für möglich. Welches Staatsverständnis steckt hinter so einer Aussage?
Özdemir: Da geht es nicht um Staatsverständnis. Wir finden, dass man über alltäglichen und institutionellen Rassismus sprechen und Konsequenzen daraus ziehen muss. Aber wir haben ja öffentlich klargestellt, dass wir in diesem Fall kein rassistisches Motiv sehen.
Martin Dolzer ist nach wie vor Abgeordneter und ist auch für eine Bundestagskandidatur angetreten. Wie weit geht eigentlich die Toleranz von Fraktion und Partei nach Linksaußen?
Boeddinghaus: Wie definieren Sie denn das? Martin Dolzer steht mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes. Er ist sehr aktiv in der Friedenspolitik und in anderen Bereichen. Ihn jetzt wegen dieses Vorfalls, den wir ja intern auch besprochen haben, als Abgeordneten zu diskreditieren – das wäre wirklich unfair.
Es gibt in der Bundespartei eine Richtungsdebatte. Sahra Wagenknecht setzt auf eine Begrenzung von Zuwanderung, weil sie Interessen der Linken-Wählerschaft berührt sieht. Die Mehrheit hat sich aber für vollkommen offene Grenzen ausgesprochen. Wo stehen Sie in der Debatte?
Özdemir: Wir stehen hinter dem Leitantrag und zu den offenen Grenzen. Es geht Deutschland durch Zuwanderung und Geflüchtete nicht schlechter. Probleme haben allein mit der falschen Verteilungspolitik zu tun.
Im Osten sehen viele Wähler das anders – und wechseln von der Linken zur AfD.
Boeddinghaus: Deswegen verbinden wir ja die Forderung nach offenen Grenzen auch mit einer gut ausfinanzierten Sozialpolitik. Es müssen gute Strukturen für alle Menschen da sein. Niemand darf das Gefühl bekommen: Ich warte schon seit zehn Jahren auf eine Wohnung, und andere kriegen sofort eine. Wir stehen für eine humanistische Politik und sehen mit Sorge, wie die Debatte total nach rechts geht.
Um dem etwas entgegenzusetzen, plädiert Frau Wagenknecht für eine linke Sammlungsbewegung, die über Ihre Partei hinausgeht. Wie stehen Sie dazu?
Özdemir: Die Linke ist doch längst eine Sammlungsbewegung. Wir sind aus einer Fusion von WASG und PDS entstanden, es sind Sozialdemokraten und Grüne dazugekommen, wir arbeiten eng mit Bewegungen zusammen.
Boeddinghaus: Auch in Hamburg sind wir so gut in die Gesellschaft hinein vernetzt, dass ich diese Forderung von Sahra Wagenknecht wenig revolutionär finde.
Özdemir: Ich denke nicht, dass es realistisch ist, eine Bewegung von oben nach unten zu organisieren. So etwas funktioniert nur von unten nach oben.
Aber die Öffnung der Grenzen, für alle Menschen, die kommen wollen – das finden Sie realistisch?
Özdemir: Ja, das sehe ich so. Es gibt in ganz Europa einen Rechtsruck, da ist es wichtig, dass die Linke in Deutschland und Europa Haltung zeigt.
Boeddinghaus: Wir haben gerade allen Ernstes eine Debatte darüber, ob wir Menschen noch aus Seenot retten sollen. Vor diesem Hintergrund steht die Linke für Humanismus und Menschenrechte.
Irritiert es Sie, dass so viele Wähler direkt von der Linken zur AfD gehen?
Boeddinghaus: Klar, wir erleben das auch an unseren Ständen. Da kommen manchmal Leute und sagen: Wir wählen euch noch, aber macht endlich was gegen die Flüchtlinge. Da muss man dann hinterfragen, was die Motive und Ängste sind. Und wenn sich herausstellt, es steckt Fremdenfeindlichkeit dahinter, dann muss man sagen: Da hinten ist der nächste Stand.
Özdemir: Der AfD hinterherzulaufen ist nicht mit unserer Haltung vereinbar. Strategisch dumm ist es obendrein. Wie man bei der CSU sieht.
Was ist Ihr Wahlziel bei der Bürgerschaftswahl 2020?
Özdemir: Wir liegen gut in Umfragen und wollen die 15 Prozent knacken.
Sehen Sie eine Machtoption, oder sehen Sie sich weiter in der Opposition?
Boeddinghaus: Ich finde, wir machen eine gute Oppositionsarbeit, und die ist für eine Demokratie wichtig. Eine Option auf eine Regierungsbeteiligung halte ich derzeit für wenig realistisch, weil ich den von uns erwarteten Politikwechsel etwa in der Sozialpolitik bei den anderen Parteien nicht sehe. Wir gehen mit unseren Themen in die Wahl – und das sind Wohnen, gute Pflege, Armutsbekämpfung und gute Sozialpolitik.
Wer wird Spitzenkandidatin?
Boeddinghaus: Das wird die Partei in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres entscheiden. Erst gehen wir 2019 in die Bezirks- und Europawahlen.