Hamburg. Grünen-Bürgerschaftsfraktionschef: 75 Prozent der Wege sollen bis 2028 per Bahn, Bus, Rad oder zu Fuß erledigt werden.

Er ist passionierter Radfahrer, und so ist das rot-grüne Ziel, Hamburg zur Fahrradstadt zu entwickeln, auch sein persönliches Anliegen: Anjes Tjarks, Fraktionschef der Grünen in der Bürgerschaft, fordert im Abendblatt-Interview mehr Ehrgeiz bei der Umsetzung der Verkehrswende, beleuchtet das Verhältnis zum Koalitionspartner SPD und blickt auf die Bürgerschaftswahl 2020 voraus.

Nach dem Willen der Grünen soll Hamburg Fahrradstadt werden. Aber die Hamburger spuren nicht richtig. Von 2008 bis 2017 ist der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen von zwölf auf nur 15 Prozent gestiegen. Das Koalitionsziel von 25 Prozent in den 20er-Jahren rückt so in weite Ferne.

Anjes Tjarks: Ich bin 37 Jahre alt und fahre seit vielleicht 31 Jahren Rad in dieser Stadt. Davon ist in den allermeisten Jahren für Radfahrer keine Politik gemacht worden. In der jetzigen rot-grünen Koalition verbessern wir zum ersten Mal real die Rad-Infrastruktur. Man braucht etwas Vorlauf, bis sich die Veränderungen auswirken. Die Daten, die Sie zitieren, umfassen nur die ersten beiden Jahre von Rot-Grün. Meine gefühlte Einschätzung ist, dass 2018 sehr viele Radfahrer unterwegs sind. Klar ist, dass wir einen weiteren Push brauchen, aber der wird auch kommen, solange wir regieren.

Glauben Sie nach wie vor an das Ziel eines Radverkehrsanteils von 25 Prozent?

Tjarks: Das ist sehr wohl möglich. Man darf nicht vergessen, dass wir bis 2020 zum ersten Mal überhaupt mit den Velorouten ein Radwegenetz schaffen wollen, das sicher und komfortabel zu befahren ist. Das ist eine große Aufgabe, die wir aber schaffen werden. Das wird sich ganz klar positiv auf den Radverkehrsanteil auswirken.

Im vergangenen Jahr sind aber auch nur 30 statt 50 Kilometer Radverkehrsanlagen gebaut worden, die laut Koalitionsvertrag das jährliche Ziel sind. Geht Rot-Grün beim Radfahren die Puste aus?

Tjarks: Es stimmt, dass wir 2017 nicht das geschafft haben, was wir schaffen wollten. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir im laufenden Jahr die 50 Kilometer hinbekommen werden.

Die Velorouten sind das eine, aber auf vielen Straßen gibt es keine Radwege, oder sie sind in sehr schlechtem Zustand.

Tjarks: In Zukunft wird nicht nur der Zustand der Straßen laufend ermittelt und verbessert, sondern auch der der Gehwege und der Radwege. An vielen Stellen werden wir feststellen, dass der Zustand der Radwege sehr bescheiden ist. Das zu verbessern ist nach den Velorouten der nächste Schritt auf dem Weg zur Fahrradstadt. Und tatsächlich brauchen wir an vielen Stellen auch keinen Radweg mehr, weil es mittlerweile eine Tempo-30-Zone gibt und man besser im Mischverkehr fährt.

Sollen überall dort, wo Tempo 30 herrscht, die Radfahrer auf der Straße fahren?

Tjarks: Überhaupt nicht. Ich will doch nicht, dass Radfahrer auf der Stresemannstraße unterwegs sind, nur weil dort Tempo 30 ist. Man muss sich vielmehr jeden Einzelfall ansehen.

Nimmt man das Zu-Fuß-Gehen und den ÖPNV hinzu, so ergibt sich beim Gesamtverkehrsaufkommen in Hamburg für umweltfreundliche Fortbewegung eine Steigerung von 58 auf 64 Prozent seit 2008 – zulasten des Autoverkehrs. Muss Rot-Grün dennoch nicht eine kräftige Schippe drauflegen, um die Verkehrswende zu schaffen?

Tjarks: Die Zahlen zeigen, dass die Verkehrswende voll in Gang ist. Aber, es stimmt, wir müssen eine kräftige Schippe drauflegen und wollen das auch. Wir wollen den öffentlichen Personennahverkehr in einer anderen Größenordnung als bisher voranbringen. Wir weiten die Angebote massiv aus: Ausweitung der Taktverdichtung bei der S-Bahn nach Harburg und Bergedorf und längere Züge und Busse, nie wieder Kurzzüge und die Einführung des 3,3-Minuten-Taktes bei der U-Bahn. Hinzu kommt der Bau der S 4, der S 21 und der U 5.

Welche Strategie steckt dahinter?

Tjarks: Der ÖPNV ist an vielen Stellen an seiner Kapazitätsgrenze angekommen. Wir müssen die Kapazitäten nicht nur nachfrage-, sondern auch angebotsgetrieben ausweiten. Wir stellen mehr Kapazitäten in den Markt und wollen so mehr Menschen zum Umsteigen auf den ÖPNV gewinnen. Dieser Weg muss konsequent weitergegangen werden und auch mit größeren Investitionen verbunden sein, sodass auch der ÖPNV noch mal deutlicher zur Verkehrswende beiträgt – mehr als vier Prozentpunkte.

Um wie viel?

Tjarks: Unser Ziel sollte meiner Ansicht sein, den Anteil von ÖPNV, Radverkehr und Zu-Fuß-Gehen auf 75 Prozent innerhalb der nächsten zehn Jahre zu steigern. Das bedeutet, dass sich die Beschleunigung der Verkehrswende annähernd verdoppelt. Jedem muss klar sein, dass wir in der rot-grünen Koalition diesen Weg weitergehen wollen.

Gibt es da keinen Dissens zur SPD?

Tjarks: Da gibt es keinen grundsätzlichen Dissens zur SPD. Es ist so, dass mit dem neuen Bürgermeister Peter Tschen­tscher die Offenheit in diesem Punkt zugenommen hat. Ich finde das sehr gut, denn gerade der Ausbau des ÖPNV hat für die Menschen in Hamburg eine hohe Relevanz.

Themenwechsel: Stimmen Sie zu, dass der Streit über den Rückkauf des Fernwärmenetzes derzeit das größte Problem zwischen SPD und Grünen ist?

Tjarks: Nein. Es gibt zwischen SPD und Grünen in der Frage des Fernwärmekonzepts momentan sehr viel Einigkeit.

Aber die Prämissen sind unterschiedlich: Die Grünen sagen, dass das Kraftwerk auf keinen Fall ans Fernwärmenetz angeschlossen werden darf. Die SPD achtet vor allem darauf, dass die Kosten für die Fernwärme die Mieter nicht stärker belasten.

Tjarks: Der Volksentscheid schreibt uns vor, dass der Rückkauf der Energienetze sozial verträglich, klimafreundlich und demokratisch kontrolliert zu erfolgen hat. Deswegen ist das kein Gegensatz, wir müssen beides machen: sozial verträglich und umweltfreundlich. Ich gehe davon aus, dass das Fernwärmekonzept, das die Stadt Vattenfall vorgeschlagen hat, nicht zu erheblichen Mehrkosten für die Verbraucher führen wird. Im Gegenteil: Es wird stabile Preise geben. Gleichzeitig wird dieses Konzept ein Konzept ohne Moorburg sein.

Bleibt der Streit um den Preis für den Rückkauf des Netzes: Hamburg hat Vattenfall 2013 einen Mindestpreis für den Rückkauf in Höhe von 950 Millionen Euro garantiert, der heutige Wert liegt aber nur noch bei 645 Millionen Euro. Könnte am Ende der von den Grünen abgelehnte Anschluss des Fernwärmenetzes an das Kraftwerk Moorburg doch den einzigen Ausweg bieten, um Vattenfall zu einem Kompromiss beim Preis zu bewegen?

Tjarks: Man muss sehen, wo man am Ende rauskommt. Es gehört zum Wesen von Verhandlungen, dass man am Ende anders rauskommt, als man reingegangen ist. Ich sage noch einmal: Ich sehe momentan keinen Dissens zwischen den Koalitionspartnern.

Nach den ersten gut 100 Tagen im Amt: Wie läuft die Zusammenarbeit mit Bürgermeister Peter Tschentscher?

Tjarks: Gut. Er ist integer, kennt die Stadt und die Politik aus dem Effeff. Sein Politikstil ist nicht auf Show aus, sondern hanseatisch zurückhaltend. Das ist dem Amt angemessen. Politiker sollten keine Instagram-Stars sein, sondern Probleme von Leuten lösen.

Regiert es sich leichter für die Grünen mit dem neuen Bürgermeister als mit dem alten?

Tjarks: Es regiert sich auf jeden Fall anders, weil es auch unterschiedliche Personen sind. Olaf Scholz ist mit einem sehr klaren eigenen Programm angetreten. Peter Tschentscher nimmt, wie er selber gesagt hat, als Laborarzt bei Problemen erst die Diagnose vor und überlegt sich dann mögliche Therapien. Er ist offener in seiner Wertschätzung für andere Meinungen. Das gilt für die rote und die grüne Seite der Senatsbank.

Wer soll Spitzenkandidatin der Grünen werden?

Tjarks: Nach einem Spitzenkandidaten fragen Sie gar nicht erst? (lacht) Wir werden dazu noch in diesem Jahr einen Vorschlag machen, und dieser Vorschlag wird sehr einmütig sein.

Es gibt ja auch die Idee, diesmal einen Bürgermeisterkandidaten oder eine -kandidatin der Grünen auszurufen.

Tjarks: Das werden wir im Zuge des Personalvorschlags mit klären. Das Thema muss man sehr sorgsam diskutieren, und es wäre für uns ein großer Schritt, den man sich gut überlegen muss.

Sollten die Grünen eine klare Koalitionsaussage zugunsten der SPD machen?

Tjarks: Beide Parteien werden im Wahlkampf natürlich stärker auf die Eigenständigkeit bedacht sein – klar ist aber auch, wir sind in einer sehr erfolgreichen Koalition.

Sie sind selbst Vater von Zwillingen. Können Sie sich vorstellen, dass Katharina Fegebank mit zwei frisch entbundenen Babys ihre Ämter als Zweite Bürgermeisterin und Wissenschaftssenatorin weiterführt und als mögliche Spitzenkandidatin in den Wahlkampf zieht?

Tjarks: Ja. Ich freue mich darüber, dass Katharina Fegebank Zwillinge bekommt. Es ist absolut wichtig, dass Frauen in Führungspositionen sich so etwas zutrauen und auch zutrauen können. Wichtig ist, dass es ein Umfeld gibt, das diese Entwicklung fördert und bestärkt. Die Grünen sind angetreten, um Karriere und Familie zu vereinen. Und da sind wir ein Stück weiter als alle anderen.