Hamburg. Neue Alben von John Coltrane und Kamasi Washington spenden Trost in schweren Zeiten – eine musikalische Reaktion auf die Weltlage.
Eine bisher verborgene Maya-Stadt, eine unentdeckte Grabkammer in der Cheopspyramide, ein neues Album von John Coltrane. Nein, an dieser Auflistung ist nichts seltsam oder unstimmig – jedenfalls nicht für Jazzfans. Dass 51 Jahre nach dem Tod des Saxofonisten, der die Jazzwelt prägte wie kein Zweiter, bislang unveröffentlichte Stücke aufgetaucht sind, ist nichts weniger als das: eine Sensation.
Es war der 6. März 1963, als Coltrane mittags mit seinem klassischen Quartett – also McCoy Tyner (Piano), Jimmy Garrison (Bass) und Elvin Jones (Schlagzeug) – in die Van Gelder Studios in Engelwood Cliffs/New Jersey kam. Die Zeit drängte, denn abends hatte das Ensemble noch einen Auftritt im New Yorker Birdland, am nächsten Tag stand eine lange geplante Studioaufnahme mit Sänger Johnny Hartman an.
Ein eher konspiratives Treffen war das: Produzent Bob Thiele hatte von Coltranes Plattenfirma „Impulse!“ die Anweisung bekommen, weniger aufzunehmen. Man könne das ja eh nicht alles veröffentlichen, außerdem sei die Studiozeit zu teuer.
Immer wieder heimlich aufgenommen
Doch Thiele, der natürlich wusste, dass er es mit einem der bedeutendsten Musiker der Jazzgeschichte zu tun hatte, setzte sich über die Anweisung hinweg. Er nahm immer wieder heimlich auf und stellte seine Chefs am Morgen danach vor vollendete Tatsachen.
Das galt auch für die Session, die sich nun auf „Both Directions At Once – The Lost Album“ findet. Darauf zu hören ist etwa eine neue Version des Klassikers „Impressions“, die erste bekannte Aufnahme von „Nature Boy“ und Coltranes Interpretation von „Vilia“ aus Franz Lehárs Operette „Die lustige Witwe“. Herzstück aber sind zwei nur mit Nummern versehene, unbetitelte Stücke, die einmal mehr dokumentieren, dass Coltrane nicht nur ein begnadeter Musiker war, dessen Läufe sich wie glühende Lava unaufhaltsam ihren Weg bahnen, sondern auch ein Künstler von großer spiritueller Tiefe. Seine Töne gehen ohne Umweg direkt ins Herz, wärmen, lassen die Zeit stillstehen. Nahrung für die Seele.
Coltrane-Sound: Man kommt nicht wieder los
Wen der Coltrane-Sound einmal gepackt hat, der kommt davon nicht mehr los, der braucht irgendwann alles – auch all die Outtakes, die sich auf der Bonus-CD der Deluxe-Version dieses Albums finden. „Coltrane leads the way“ (Coltrane zeigt den Weg) warb „Impulse!“ damals für seinen Star. Das gilt bis heute.
Einer, der sich auf diesen Weg begeben hat und inzwischen selbst in immer neue Höhen aufschwingt, ist Kamasi Washington. Sein Debüt nannte er 2015 nicht umsonst „The Epic“: Es ist ein episches Meisterwerk, das im spirituellen Jazz eines John Coltrane und Pharoah Sanders fußt, aber auch starke Soulanteile hat.
„Harmony Of Difference“ betitelte der kolossartige US-Saxofonist mit der Löwenmähne die folgende CD; Harmonie stiftender Balsam für alle, denen in von Nationalismus und Hass geprägten Zeiten mehr und mehr der Glaube an das Gute im Menschen abhanden zu kommen droht. Sein neues Album „Heaven And Earth“, eine Doppel-CD, ist ein weiteres Pflaster auf diese Wunden. Das Cover zeigt Kamasi Washington als geradezu mythische Erscheinung auf dem Wasser, als Jesus des Jazz, der Liebe und Mitgefühl, Frieden undToleranz predigt. Weniger mit Worten als mit seiner Musik.
Musikalisch auf die Weltlage reagieren
Die im Opener thematisierten „Fists Of Fury“ (Wütenden Fäuste), sie werden unter seinen Arrangements zu starken helfenden Händen, die beschützen, nicht fortstoßen. Hippiequatsch? Nein, eine ziemlich überzeugende Art, musikalisch auf die aktuelle Weltlage zu reagieren und sich nicht in Zynismus zu verlieren. Getragen vom Geist eines Martin Luther King, klingt der Soul eines Isaac Hayes und Curtis Mayfield durch, dem Kamasi Washington eine mächtige Jazz-Injektion verpasst. „Ohne Coltrane wäre ich ein völlig anderer Mensch“ hat Kamasi Washington im Interview mit dem Magazin „Jazzthing“ gesagt. Was er aus Bescheidenheit nicht sagte: Er ist sein würdiger Nachfolger.