Hamburg . Gleich sieben Gesangsensembles heimsten beim Deutschen Chorwettbewerb Preise ein. Am Sonnabend ist die Nacht des Singens.
Die 50 jungen Mädchen stehen in drei Reihen in der großen Aula der Jugendmusikschule. Sie singen und klatschen, summen und trampeln, flüstern und stampfen. Sie drehen die Köpfe, wirbeln die Oberkörper herum, lassen die Arme kreisen. Und treffen immer den richtigen Ton. Die beeindruckende mehrstimmige Gesangsperformance hat der Mädchenchor Hamburg der Staatlichen Jugendmusikschule von seiner Chorreise aus Lappland mitgebracht.
„The Joiku“ heißt das originelle Stück des finnischen Komponisten und Jazz-Musikers Jukka Linkola. Es gehörte zwar nicht zum Programm beim Deutschen Chorwettbewerb in Freiburg. Doch auch ohne diesen Song errangen die Mädchen mit ihrer Chorleiterin Gesa Werhahn dort den 2. Platz. Und wurden wie sechs andere Hamburger Chöre ausgezeichnet. Der Kammerchor der Hamburger Hochschule für Musik und Theater erreichte gar Platz eins. Ein herausragendes Ergebnis. Und sozusagen der letzte Beweis, dass das Singen in Hamburg gewaltig auf dem Vormarsch ist.
Kraftfutter fürs Gehirn
„Singen ist Kraftfutter fürs Gehirn“, sagt der Neurologe Gerald Hüther. Trotzdem tun sich die Deutschen mit ihrem Liedgut oft noch schwer. Und unter Jugendlichen gilt das Singen nicht unbedingt als die coolste Beschäftigung. Gemeinsames Singen, zu Weihnachten oder zum Geburtstag, ist in vielen Familien immer noch die Ausnahme.
Doch mehr und mehr, so scheint es bei einem näheren Blick auf die Musiklandschaft in Hamburg, wird das Singen wieder zu einer unverkrampfteren Angelegenheit. Und zu einer zusätzlichen Möglichkeit, sich mitzuteilen. Oder um Gefühle auszudrücken. „Singen ist die eigentliche Muttersprache des Menschen“, hat der große Geiger Yehudi Menuhin gesagt.
550 Chöre in Hamburg
Wie viele Chöre es genau in Hamburg gibt, darüber existiert keine Statistik. „Nach unserer jüngsten Umfrage sind es rund 550“, sagt Rüdiger Grambow, Präsident des Landesmusikrats. In den vergangenen Jahren seien Mitsingprojekte mit mehreren Tausend Sängern entstanden. „Hamburg singt“ etwa. „Das Projekt ist offen für jeden, der sich nach Feierabend den Arbeitsalltag so richtig von der Seele singen, schreien oder einfach nur abrocken möchte“, sagt Grambow und fügt hinzu: „Es wird ganz sicherlich mehr gesungen als früher.“
Allein die evangelische Kirche zählte 2017 insgesamt 333 Chöre mit mehr als 9000 Mitgliedern. In den katholischen Gemeinden sind es rund 60 Chöre. „Knapp 30 Erwachsenenchöre und zwölf Singangebote für Kinder“, sagt Kirchenmusiker Norbert Hoppermann. „13 Gruppen haben im weiteren Sinne mit Popularmusik und Neuem Geistlichen Lied zu tun, sechs Schulen musizieren regelmäßig Gregorianik.“
Die pure Lust am Singen
Dazu kommen zahlreiche weitere Chöre in allen Stadtteilen. Sie treffen sich regelmäßig, singen Klassik und Pop, Gospel und Shantys. Sie singen zum Spaß oder sind überaus ambitioniert. Sie sind bunt gemischt oder reine Frauen- und Männerchöre. Sie sind älter als 150 Jahre oder gerade erst entstanden. Es gibt die Singflöhe und die Goldkehlchen, die Liedertafeln und die Stimmwerke, die Inseldeerns und die Gospolitans. Was sie eint, ist die pure Lust am Singen.
Dass in Hamburg immer mehr gesungen wird, hat Professor Guido Müller sogar schriftlich. Als der Leiter der Staatlichen Jugendmusikschule (JMS) vor dreieinhalb Jahren den Posten in dem bunten Gebäude am Mittelweg antrat, sangen dort rund 500 Kinder in den verschiedenen Chören. „Heute sind es 900 Kinder und Jugendliche“, sagt Müller.
Weitere 450 Kinder singen beim sogenannten Ergänzungsunterricht direkt an den Schulen in Chören. Und mehr als 2500 Kinder und Jugendliche singen in knapp 50 Chören des gemeinnützigen Vereins The Young ClassX, der vor zehn Jahren von dem Mäzen und Unternehmer Michael Otto gegründet wurde.
„Die Stimme ist ein körpereigenes Instrument, das Singen ist die elementarste Form des Musizierens“, sagt Müller. Es ermögliche kulturelle Identität und fördere die Sprachentwicklung der Kinder über die Lieder. Außerdem würde durch das gemeinsame Singen der Teamgeist gefördert. „Beim Chorsingen entwickelt man den gleichen Herzschlag und damit eine Art kollektiven Willen.“
Auf dem Schulhof hört man ständig singende Kinder
Weil das Singen also richtig guttut, hat Müller die „Singende Grundschule“ ins Leben gerufen. Und nun entsendet die JMS seit zwei Jahren an die beiden Grundschulen Stübenhofer Weg in Kirchdorf Süd und Fährstraße in Wilhelmsburg Lehrkräfte, die in Gesang, Chorleitung, Stimmbildung und elementarer Musikpädagogik ausgebildet sind. Geschult werden aber nicht nur die Kinder – sondern auch die Lehrer. „Dadurch, dass das Singen praktisch in den Schulalltag einfließt, wird quasi die ganze Schulgemeinschaft musikalisiert“, sagt Müller.
Linda Smailus unterrichtet seit zwei Jahren in der Schule Stübenhofer Weg. „Im Grunde ist die ganze Schule ein großer Chor“, sagt sie. Am Anfang sei das tägliche gemeinsame Singen für manche noch ungewohnt gewesen. „Heute summen die Kinder ständig vor sich hin.“ Auf dem Schulhof würden dauernd neue Lieder eingeübt. Je jünger die Kinder seien, desto weniger Berührungsängste hätten sie. Und dabei sei das unterschiedliche Sprachniveau der Kinder völlig egal. Momentaner Hit an der Schule? „Lollypop“ von Heike Margolis.
Der eigene kindgerechte Ton
Was passiert mit den Kindern? „Sehr auffällig ist, dass sie mit der Zeit ihren eigenen kindgerechten Ton entwickeln. Dass sie mutiger werden. Dass ihnen das Vorsingen nicht mehr peinlich ist. Und dass sie auch deutlicher sprechen“, sagt Linda Smailus. Und was passiert mit den Lehrern? Sie hätten anfangs vielleicht etwas größere Barrieren. „Aber das legt sich schnell“, sagt Linda Smailus. Und durch das Singen seien sie dann plötzlich auch sehr eng an den Kindern dran.
Längst ist es auch wissenschaftlich erwiesen, dass Singen schlau macht. In einer Studie an der Universität Bielefeld wurden 500 Vorschulkinder auf ihre Schultauglichkeit untersucht. Das Ergebnis: Kinder, die bis dahin viel gesungen hatten, waren deutlich besser für die Schule geeignet als Nichtsinger.
Hochstimmungen beim Singen
In Zahlen: Bei den viel singenden Kindern waren 89 Prozent schultauglich, bei den wenig oder gar nicht singenden nur 44 Prozent. „Das Ergebnis hat uns in seiner Deutlichkeit doch überrascht“, sagt der Soziologe Thomas Blank. Andere Beobachtungen zeigen, dass Musik und Singen auch ganz prima für das Klima sind. An Schulen mit Musikschwerpunkt gibt es bis zu 50 Prozent weniger Ausgrenzungen von einzelnen Schülern.
Auch Erwachsene erleben wahre Hochstimmungen beim Singen. Wenn im richtigen Moment der richtige Ton getroffen werden soll, muss nicht nur der Atem fließen, was automatisch zu einer aufrechten Körperhaltung führt. Es werden auch Nervenbotenstoffe wie Serotonin ausgeschüttet, die Glücksgefühle und Friedfertigkeit fördern.
Das Gemeinschaftsgefühl ist das Besondere
Für Friederike Weinzierl ist das Gemeinschaftsgefühl das Besondere beim Chorsingen. „Wenn alle an einem Strang ziehen und es plötzlich so schön klingt, sodass man wirklich Glücksgefühle bekommt“, sagt die Leiterin des Amtes für Kirchenmusik des Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreisverbands Hamburg, die gerade bei der Nacht der Chöre in der Petrikirche solche magischen Momente erlebt hat.
Auch sie glaubt, dass in Hamburg mehr gesungen wird. „Vielfalt“ ist das Stichwort. „Es gibt heute neben den klassischen Kantoreien viele Senioren- und Popchöre, Betriebschöre oder kleine A-cappella-Gruppen. So ist es für viele, die Lust am Singen haben, einfacher, einen passenden Chor zu finden.“ Friederike Weinzierl muss es wissen. Sie leitet nicht nur das Amt für Kirchenmusik, seit acht Jahren singt sie auch im Chor „hamburgVOKAL“, der in Freiburg mit einem 2. Preis ausgezeichnet wurde.
Es geht um das Erreichen eines gemeinsamen Klangs
Friederike Weinzierl ist mit ihrem Chor auch bei der Langen Nacht des Singens in der Elbphilharmonie (siehe Info) dabei. Dort ist Frieder Bernius musikalischer Leiter. Der 70 Jahre alte Dirigent aus Ludwigshafen wird weltweit zu Festivals und Gastdirigaten eingeladen.
Tun sich die Deutschen mit dem Singen schwerer als die Menschen in anderen Ländern? Frieder Bernius zitiert Theodor Adorno. „Nirgends steht geschrieben, dass Singen not sei“, hat der deutsche Philosoph 1956 in einem Essay geschrieben. Diese Einschätzung entsprang auch dem Umstand, sagt Bernius, „dass Musik als Mittel zum Zweck durch die Nazis in Deutschland missbraucht worden ist“. Dass Volkslieder hierzulande lange nicht unbelastet gewesen seien. „Adornos Satz ist trotzdem falsch“, sagt Bernius. Und es gebe zum Glück in der Musikpädagogik seit Langem eine Gegenbewegung, nachdem in den 1970er-Jahren in einem Lehrplanentwurf der Begriff „Singen“ sogar noch durch „vokale Aktion“ ersetzt worden ist.
„Gemeinsames Singen ist unelitär, und es stärkt die soziale Komponente, weil man nicht gegen-, sondern miteinander wirkt“, sagt Bernius. Was ist das Wichtigste im Chor? „Das Erreichen eines gemeinsamen Klangs“, sagt Bernius. Im Gegensatz etwa zu Streichern oder anderen Instrumenten sei die Stimme der individuellste Klangkörper. „Es geht in einem Chor deshalb vor allem um Homogenität.“ Bernius benutzt ein Bild: „Alle müssen an einem Strang ziehen, es darf kein Tauziehen geben.“ Dann kann Singen sogar eine heilsame Wirkung haben. Das weiß Anna Hassel aus eigener Anschauung.
Sie koordiniert den Chor Vergissmeinnicht. „Der Start war 2011 in Wandsbek, seit 2017 gibt es einen zweiten Chor in Altona.“ Rund 30 Sänger treffen sich zweimal im Monat für zwei Stunden vormittags mit den Chorleiterinnen Monika Röttger und Eva Hage. „Uns gefällt der inklusive Charakter dieses Projekts, der lustige und leichte Umgang miteinander“, sagt Anna Hassel, „und dass alle Mitglieder beim Singen die Erkrankung und den Alltag für zwei Stunden vor der Tür lassen können.“
„Wir wollen ja jeden mitnehmen“
Die Chormitglieder kommen aus unterschiedlichen Gründen. „Manche haben schon immer in Chören gesungen, andere suchen Abwechslung aus dem Pflegealltag, wenn der Partner an Demenz erkrankt ist.“ Das Repertoire geht von Volksliedern über mehrstimmige Kanons bis zu Liedern in afrikanischer Sprache. Als Sozialarbeiterin hat Anna Hassel ein Auge darauf, dass die an Demenz erkrankten Menschen bei den Liedern mitkommen und sich nicht vorgeführt fühlen. Regelmäßige Reflexionsgespräche mit den musikalischen Leiterinnen seien sehr wichtig. „Wir wollen ja jeden mitnehmen.“
Jeden mitnehmen, um zusammen etwas zu schaffen. Wenn daraus etwas so Großes wird wie Platz zwei in Deutschland, müssen sich Leidenschaft und Können paaren. Gesa Werhahn ist die Leiterin des preisgekrönten Mädchenchores. Sie hat ihn vor 17 Jahren gegründet. Die jüngste Sängerin ist 14, die älteste 24. Sie beginnt in der Chorschule der JMS, in der mehr als 200 Mädchen singen, bereits mit Vierjährigen. Was diesen Chor auszeichnet? „Die Mädchen sind sehr leistungsstark, sie wollen wirklich etwas – und sie sind sehr lebendig.“
Castingshows beflügeln den Trend
Wird in Hamburg mehr gesungen? „Auf jeden Fall.“ Dazu hätten auch die Castingshows im Fernsehen beigetragen. „Für die jungen Leute ist es heute sehr selbstverständlich, sich zu präsentieren. Und sie haben auch wieder einen lockeren Umgang und eine größere Offenheit gegenüber deutschen Volksliedern.“
Und Feiern können sie auch. Nach Platz zwei in Freiburg gab es noch eine lange Siegerparty in der Jugendherberge. Natürlich mit viel Gesang. Gut möglich, dass irgendwann auch „The Joiku“ nochmal angestimmt wurde.
Die Nacht des Singens
Konzerte Bei der Langen Nacht des Singens laden 25 Chöre auf fünf Bühnen in der Elbphilharmonie an diesem Sonnabend (18 Uhr) das Publikum mit Konzerten im ganzen Haus zum Zuhören und zum Mitsingen ein. Ebenfalls am Sonnabend (19.30 Uhr) singen in der Barclaycard Arena beim
„6K United-Konzert“ Tausende Kinder gemeinsam im Chor einen Mix aus deutschen und internationalen Popsongs sowie aus Klassik und Volksliedern.