Hamburg. John Neumeiers „Beethoven-Projekt“ ist ein Abend voller Dramatik, Erhabenheit und tänzerischer Schönheit.
Eine gebeutelte Künstlerseele ist er, dieser Ludwig van Beethoven (1770–1827). Aleix Martínez schlingt seinen drahtigen Körper um ein Bein des Flügels. Einmal kriecht er sogar in das aufgeklappte Instrument hinein. Dann wieder ergeht er sich in verzerrten, verzweifelten roboterartigen Bewegungen und abrupten Sprüngen. John Neumeier hat mit der Uraufführung des „Beethoven-Projekts“ einen Abend kreiert, in dem er dem Großmeister der Wiener Klassik auf mehreren Ebenen ein Denkmal setzt. Verdient erhielten sein fulminant tanzender Hauptdarsteller und das ganze Corps de Ballett lang anhaltenden Applaus. Die Uraufführung lieferte zugleich einen glanzvollen Auftakt zu den 44. Hamburger Ballett-
Tagen.
Im „Beethoven-Projekt“ verbindet John Neumeier seine bevorzugten Gattungen, das Handlungsballett und das Sinfonische Ballett. Vor der kargen, nur mit roter und grauer Wand und Flügel bestückten Bühne Heinrich Trögers erklingen in trübem Licht zunächst Beethoven-Fragmente. Martínez, der hier in seiner ersten große Solorolle mit schier unbändiger kreativer Energie, Ausdrucksstärke und Sprungkraft begeistert, tritt mit bloßem Oberkörper und Halsmanschette als Wiedergänger des Komponisten auf. Die Atmosphäre ist traumartig. In seinem fragenden Gesichtsausdruck formen sich Ideen zu Notenlinien, zu Klängen, gleiten in seine Finger, die er immer wieder rhythmisch bewegt.
Nervtötendes Piepen deutet auf eine Lebenskrise hin
Er bleibt nicht allein in diesen Szenen, die eher einem visuellen Gedicht als einer konkreten Erzählung ähneln. Wie in einem Fellini-Film wird er von atemberaubend fragilen Tanzgestalten als schattenartigen Figuren, Fantasien und Ängsten heimgesucht. Pianist Michal Bialk spielt dazu mit bestechender Sicherheit Variationen und Fuge Es-Dur op. 35. Im langen Fürstenrock tritt unter anderem Edvin Revazov auf, womöglich als Maximilian Franz, der Beethovens Karriere förderte und aufklärerische Gedanken verbreitete.
Zu den Klängen des Klaviertrios D-Dur op. 70 Nr. 1, dem „Geistertrio“, legt Aleix Martínez mit Patricia Friza ein inniges Duett aus Hebebewegungen hin. Mehrere Brauterscheinungen künden von seinen Beziehungen zu Frauen. Schließlich ertönt ein blecherner Klang, ein mechanisches Rollen und nervtötendes Piepen. Zeichen des Gehörleidens, das den Komponisten zu völliger Taubheit und in eine schwere Lebenskrise führen sollte.
Der Wechsel vom Handlungs- zum Sinfonischen Ballett gerät abrupt. In „Die Geschöpfe des Prometheus“ wird Martínez vor einer großen, alles verschlingenden Welle selbst zu dem Titan, der sich – nicht nach dem antiken Mythos, sondern nach einem französischen Roman aus dem 18. Jahrhundert – gegen die Götter auflehnt und aus Lehm Mann und Frau, erschafft, die er durch die Gaben von Wissenschaft und Kunst zur Sittlichkeit führt.
Mythische Figuren treten auf, und hier bereits beglücken Edvin Revazov als Apollo und Anna Laudere als Terpsichore mit großer Grazie. Dem kunstvoll Zeitgenössischen des ersten Teils stehen nun eher klassische Gruppentableaus gegenüber.
Der Abend gehört dem Ausnahmetänzer Aleix Martínez
Dem Paar Revazov und Laudere gebührt nach der Pause in Beethovens 3. Sinfonie, der erhabenen Eroica, ein weiterer großer Auftritt des Abends mit einem bestechenden Pas de deux zum Trauermarsch. Dunkel ist die Stimmung, das Bühnenbild wandelt sich, lässt mit einem glimmenden Feuer Assoziationen von Weltenbrand und Totentanz aufkommen, während Revazov und Laudere ihre grazilen Körper in höchster Perfektion biegen und drehen. Aleix Martínez ist nun weniger als Tänzer denn als Schöpfergeist zu erleben, der grinsend von der Bühne herab das von Simon Hewett mit sicherer Hand geleitete Philharmonische Staatsorchester dirigiert.
Das „Beethoven-Projekt“ ist am Ende eine visuell und tänzerisch gelungene Würdigung Beethovens, dessen Erhabenheit und Dramatik die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts in Tableaus von größter Schönheit gießen. Vor allem aber gehört der Abend dem Ausnahmetänzer Aleix Martínez. Auch Beethoven hätte sicher Freude an diesem Wiedergänger gehabt.
Die Hamburger Ballett-Tage beenden auch in diesem Jahr die aktuelle Spielzeit. Einer der Höhepunkte dürfte das Gastspiel des National Ballet of
Canada am 3. und 4. Juli sein. Außerdem sind zahlreiche Repertoire-Vorstellungen von „Anna Karenina“ bis „Turangalila“ noch einmal zu sehen.
Publikumsstimmen
Huafeng Lu aus Osdorf: „Mir hat das ,Beethoven-Projekt’ sehr gut gefallen. Im ersten Teil habe ich nicht alle Hinweise verstanden. Nach dem komplizierten Anfang hat mich die
Uraufführung aber immer stärker hineingezogen.“
Doris Henkel aus Eimsbüttel: „Am Anfang war ich überfordert, weil ich nach einem Sinn gesucht habe, wo man das wahrscheinlich gar nicht tun sollte. Das ,Beethoven-Projekt’ war auf jeden Fall eine faszinierende Aufführung. Jetzt, am Ende, bin ich hin und weg.“
„Beethoven-Projekt“ weitere Vorstellungen 26.6., 6.7., 20.10., 26.10., 1.11., 2.11., 7.11., 8.11., jeweils 19.30, Hamburgische Staatsoper, Große Theaterstraße 25, Karten unter
T. 35 68 68; www.hamburgballett.de