Hamburg. Kirsten Boie begann zu schreiben, als sie nicht mehr Lehrerin sein durfte. Bis heute hat sie mehr als 100 Kinderbücher veröffentlicht.

Wo trifft man eine der erfolgreichsten deutschen Kinderbuchautorinnen? Ganz einfach, bei Bäcker Günther im Hafen von Kappeln. Kirsten Boie hat sich den Treffpunkt selbst ausgesucht. Wenn sie nicht in Hamburg ist, lebt und arbeitet die Schriftstellerin an der Schlei. Seit rund 15 Jahren haben sie und ihr Mann ein altes Reetdachhaus nah am Wasser.

Zwischen den gerade kitschig knallgelben Rapsfeldern ist vor zwei Jahren auch ihr Buch „Ein Sommer in Sommerby“ entstanden. Eine Geschichte über drei Geschwister, die aus der Stadt zu ihrer Oma an die Schlei kommen, als ihre Mutter im Amerika verunglückt ist und der Vater zu ihr reisen muss. Doch die Großmutter ist keine gewöhnliche Frau. Sie ist zuerst einmal nicht begeistert von dem Besuch ihrer Enkel. Und dann hat sie nicht einmal ein Telefon. Keinen Fernseher! Erst recht kein Internet! Stattdessen verkauft sie selbst gemachte Marmelade. Und bei der Zubereitung müssen die drei sogar helfen. Was sich für die Stadtkinder zuerst komisch anfühlt, entwickelt sich schließlich zum schönsten Sommer ihres jungen Lebens. Voller Abenteuer und Erlebnisse, die sie in der Stadt nie gehabt hätten.

320 Seiten schrieb sie in vier Monaten

„Manches Mal fließt es hier oben geradezu aus mir heraus“, sagt Boie. „Ich glaube, die Ruhe ist dabei sehr wichtig. Ich werde hier viel seltener abgelenkt.“ Gerade einmal vier Monate brauchte sie, um das 320-Seiten-Werk zu vollenden.

Ein Sommer, ein Buch – das ist Boie. 2017 entstand an der Schlei eine „Tiergeschichte“ für die Kleinen, Erscheinungstermin ist das kommende Frühjahr. „Ich darf nicht zu viel verraten“, sagt die Autorin. Und auch die größeren Boie-Fans können sich freuen, denn derzeit arbeitet die engagierte Autorin bereits an ihrem nächsten Band, wieder einer Geschichte für die „Älteren“.

Kirsten Boie hat mehr als 100 Bücher veröffentlicht

Kirsten Boie ist 68 Jahre alt. Hat mehr als 100 Bücher für Kinder und Jugendliche veröffentlicht – und schreibt immer weiter. „Ich habe eine Liste mit Ideen im Kopf“, sagt sie und streicht sich durch ihr kinnlanges blondes Haar. „Da kommen eigentlich ständig neue Einfälle dazu. Aber es verschwinden auch hin und wieder welche.“ Wenn es dann Zeit sei für ein neues Buch, setze sie sich hin und wähle eine dieser Ideen aus. „Ich fange dann einfach an zu schreiben und merke nach wenigen Seiten, ob es funktioniert oder nicht“, sagt Boie. „So manches angefangene Manuskript liegt aber auch auf meinem Computer, weil es einfach nicht funktioniert hat.“

Aus ihrer Arbeit macht sie jedes Mal ein großes Geheimnis. Und das nicht, um sich interessant zu machen. Nein, ganz im Gegenteil. Die zierliche Frau mit dem gewinnenden Lächeln lässt sich auch heute noch leicht verunsichern. Also ist ihr Motto: Erst drüber reden, wenn es fertig ist. „Bis dahin erzähle ich keinem etwas von meinem neuen Buch.“ Wirklich keinem. Nicht einmal ihrem Mann und ihren zwei erwachsenen Kindern. „Ich mache von der Idee bis zur Vollendung des Buches alles allein mit mir aus.“ Eine einzige Bemerkung könnte auch nach all den Jahren reichen, um sie aus dem Konzept zu bringen. „Erst wenn der letzte Satz geschrieben ist, gebe ich das Buch meinem Mann.“

Ihr Ex-Deutschlehrer ist ihr schärfster Kritiker

Der pensionierte Deutschlehrer sei ihr erster und vielleicht auch schärfster Kritiker. „Wenn der sagt, es ist in Ordnung, dann schicke ich es an den Verlag.“ Natürlich gehe sie mit diesem Vorgehen jedes Mal wieder volles Risiko. Schließlich weiß der Verlag ja überhaupt nicht, was ihn erwartet, bis Boie ihre Zeilen an ihn sendet. Boie weiß aber auch, dass sie sich dieses Vorgehen nur leisten kann, weil sie so erfolgreich ist. „Ich bin schon in einer sehr privilegierten Situation“, sagt sie und lächelt beinahe schüchtern. Andere Autoren hätten es ungleich schwerer, müssten mit dem Verlag um Ideen und fertige Bücher kämpfen. Jedes Jahr kommen rund 9000 neue Kinderbuchtitel auf den Markt. „Seit Harry Potter denken alle, sie möchten auch Kinderbücher schreiben. Das hat es für die Autoren nicht leichter gemacht in einem schrumpfenden Markt“, sagt Boie.

Sie selbst hatte für ihr Leben eigentlich andere Pläne. Auch wenn das ein abgegriffener Satz für ein Porträt ist, Boie verdankt ihren Erfolg einem Zufall. Einem ursprünglich ärgerlichen Zufall.

Sie hat gerne als Lehrerin gearbeitet

Sie und ihr Mann adoptierten Anfang der 80er-Jahre einen kleinen Sohn. Die Hamburgerin arbeitete damals als Lehrerin für Deutsch, Englisch und Philosophie. Mit großer Freude, wie sie heute sagt. Und mit dem festen Vorhaben, nach einer kleinen Auszeit zumindest Teilzeit wieder in den Beruf zurückzukehren. Das sah das Jugendamt allerdings damals anders. „Ich musste mich verpflichten, nicht wieder zu arbeiten“, sagt sie, und man merkt ihr noch heute das Unverständnis über die Vorgabe an. In ihrer Bewerbung für eine Adoption habe sie nämlich explizit darauf hingewiesen, wie gern sie arbeite. Und dass sie schnell an die Schule zurückkehren wollte. „Umso erstaunlicher war es, dass wir überhaupt ausgewählt wurden.“

Doch ihr und ihrem Mann sei keine andere Wahl geblieben, als sich an die Vorgaben des Amtes zu halten. „Denn wir wollten gern auch noch ein zweites Kind aufnehmen.“ Also sei sie voll Zorn zu Hause geblieben. „Ich war schon damals der festen Überzeugung, dass Kinder davon profitieren, wenn ihre Mutter mit Freude ihrer Arbeit nachgeht. Und nicht nur auf die Kinder fixiert ist.“ Für die sei es doch eine Belastung, ihre Mutter allein glücklich machen zu müssen. Auch deshalb empfindet Boie die aktuelle Entwicklung in der Gesellschaft als historisch. Die Möglichkeiten, die Frauen heute im Berufsleben bekommen, seien ungeheuer wichtig.

Sie hat noch „viel zu viele Ideen im Kopf“

Boie haderte aber nicht lange mit der Vorgabe der Behörde, sondern besann sich ihrer alten Leidenschaft: Geschichten schreiben. Bis ins Teenageralter hatte sie immer wieder kleinere und größere Erzählungen verfasst. „Natürlich nur für Erwachsene“, sagt sie. „Ich hatte große Ziele, wollte wie Böll und Brecht schreiben.“ Diesen Ehrgeiz hatte sie als junge Mutter nicht mehr. „Aber ich habe entschieden, wieder anzufangen. Allein schon aus dem Zorn heraus, dass mir das Jugendamt meine Lebensplanung zerstört hat.“

Heftromane sollten es sein. „Das kann ich doch so nebenbei machen“, habe sie gedacht. Doch das erste Buch wurde weder ein Werk nach Brecht oder Böll noch ein Heftroman. Sondern ein Kinderbuch. „Als ich meinen kleinen Sohn fütterte, schossen mir die ersten Sätze in den Kopf.“ Sofort habe sie sich, als der Kleine schlief, an den Schreibtisch gesetzt und die Gedanken aufgeschrieben. Als die ersten drei Kapitel fertig waren, beschloss Boie, sie an einige Verlage in Deutschland zu schicken.

Sie hatte sich anfangs keine Chancen ausgerechnet

Die junge Mutter ging mit ihrem Sohn in der Karre an den Hauptbahnhof. Und schrieb aus den Telefonbüchern in einer Telefonzelle die Adressen von fünf großen deutschen Verlagen heraus. Kopierte die Seiten und sandte sie dorthin. „Ich habe mir nie wirklich Chancen ausgerechnet. Wollte es einfach probieren.“ Schon zwei Tage später klingelte ihr Telefon. Und eine tiefe Frauenstimme sagte: „Sie müssen ja eine wunderbare Mutter sein.“ Diesen Satz wird Boie nie vergessen, sagt sie. Und dass sie überhaupt nicht wusste, wer da am anderen Ende der Leitung war. Es war eine Lektorin des Oetinger Verlags. Die hatte ihre Seiten gelesen und war begeistert. Sie wollte aber nicht nur das eine Buch, sondern sagte sofort: „Wissen sie schon, was sie als Nächstes schreiben wollen?“ Nix, habe sie ganz überrascht und ehrlich geantwortet. „Na, das hat Paul Maar auch mal gesagt“, sei die prompte Reaktion gewesen.

Heute ist Boie mit dem Erfinder des kleinen Sams gut bekannt und mindestens genauso erfolgreich wie der Bamberger. Ihrem ersten Kinderbuch, „Paule ist ein Glücksgriff“, folgten unzählige weitere. Zu ihren beliebtesten Werken gehören bis heute die Bände über den kleinen Ritter Trenk und die „Kinder aus dem Möwenweg“.

Boie versteckt immer humorvolle Anspielungen

Boies Bücher haben aber eigentlich immer auch eine weitere, tiefere Ebene, die die Kinder beim Lesen und Vorlesen nicht gleich bemerken. Eine Spur für die Erwachsenen, wie sie sagt. „Das muss sein, denn die lesen meine Bücher vor und sollen daran auch Spaß haben.“ So verstecke sie hier und da humorvolle Dinge, wie beispielsweise bei Trenk, die viele von den Kleinen gar nicht registrieren würden. Oder eine tiefere gesellschaftliche Frage, wie sie in ihrem neueren Werk „Ein Sommer in Sommerby“ aufgeworfen wird – wenn es um die Sinnhaftigkeit von Handys und Internet geht. „Das bringt auch mir beim Schreiben mehr Spaß.“

Doch die meisten ihrer Leser interessieren sich vor allem für ihre Bestseller. Schon seit Jahren werde sie immer wieder auf Lesungen gefragt, wann die nächsten Abenteuer der Erfolgsreihen Ritter Trenk und Möwenweg erscheinen würden. „Aber damit ist nun erst einmal Schluss.“ Die Geschichten seien für sie gerade nicht im Fokus. „Und außerdem habe ich ja noch viel zu viele gute neue Ideen im Kopf.“

Nächste Woche: Ed Brinksma, Präsident der Technischen Universität Hamburg